«Die Oper ist das Fussballstadion der Schwulen»

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27. Dezember 2023 – Der deutsche Sexualwissenschaftler Martin Dannecker und der Zürcher Gewerkschaftssekretär Christoph Schlatter sind begeisterte Operngänger. Sie erklären, warum die Oper Schwule so besonders fasziniert, ältere gleichermassen wie jüngere.

Tristan und Isolde (Foto: Toni Suter)
Tristan und Isolde am Zürcher Opernhaus (Foto: Toni Suter)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Herr Dannecker, der deutsche Regisseur Rosa von Praunheim hat 2020 den Film «Operndiven – Operntunten» gedreht. Wie erklären Sie sich die grosse Liebe der Schwulen zur Oper?

Dass der Anteil der schwulen Männer unter den Opernliebhabern grösser ist als ihr prozentueller Anteil an der Gesamtbevölkerung, sieht man immer wieder, wenn man in die Oper geht. Es fällt wirklich auf, wie viele homosexuelle Männer man dort antrifft. Nicht nur ältere, sondern durchaus auch jüngere. Bereits in meiner sexualwissenschaftlichen Untersuchung von 1974 hat sich gezeigt, dass Schwule besonders opernaffin sind.

Woher rührt diese Faszination?

Was wird in der Oper geboten? Grosse Leidenschaften, Tod, Bedrohung und Verrat. Mit den tragischen Frauenfiguren, die meistens im Zentrum der Handlung stehen, und deren unglücklichem Schicksal können sich Schwule sehr gut identifizieren. Schliesslich ist auch ihre gesellschaftliche Position – allen Verbesserungen zum Trotz – nach wie vor riskant und fragil. Wenn man sich dann eine solche Geschichte in der Oper anschaut, hat das auch etwas Erhebendes. Im besten Fall versöhnt die Oper einen mit dem eigenen Schicksal. Dank der Musik kann sich der Schmerz in Hoffnung verwandeln.

Fällt Ihnen ein Beispiel dazu ein?

Wenn Sie an den Schluss von Wagners «Tristan und Isolde» denken, ist das genauso: die Heldin stirbt auch, nachdem der Held gestorben ist. Doch sie singt ein unglaubliches Abschiedslied, da vergehen einem die Sinne! Es endet mit der bemerkenswerten Textzeile: «Unbewusst – höchste Lust». Mehr muss man nun wirklich nicht sagen.

Es sind die Sopranistinnen, die die Schwulen begeistern, und nicht die schönen Tenöre.

Es stimmt: die grossen Sopranistinnen haben ungeheuer viele schwule Anhänger, denken Sie nur an die Begeisterung für die Callas. Da war der Höhepunkt der Identifikation erreicht. Sie war aber auch eine ausserordentliche Person, noch dazu mit einem tieftragischen Privatleben. Die schönen Tenöre hingegen sind meistens diejenigen, die die bedauerlichen Frauen unterdrücken statt sie zu erlösen.

Sind Sie selber auch Opernliebhaber?

Ich gehe auch in die Oper, aber ich würde mich nicht zu den Liebhabern zählen, die komplett elektrisiert sind von der Oper. «Tristan und Isolde» ist meine Lieblingsoper, und wenn ich ein Jahr lang keinen Tristan gesehen habe, war das kein richtiges Jahr.

Die Oper bildet nicht nur die heterosexuelle Welt ab, sondern bietet auch Platz für Frauen in Hosenrollen und Männer in Kleidern oder für Countertenöre, also Männer, die in Alt-, manchmal sogar Sopranlage singen. Damit bricht sie die binäre Ordnung auf.

Die Countertenöre sind wirklich interessant. Ich glaube, ihre Faszination rührt daher, dass ihre Stimme zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit oszilliert und so eine ideale Bisexualität dargestellt wird.

Ein Schwuler, der die Oper liebt, meinte, Schwule würden in die Oper gehen, weil sie dort einen geschützten Ort hätten, wo sie ihren Gefühlen und ihrer Begeisterung freien Lauf lassen könnten. Das Fussballstadion, in dem der «normale» Mann seinen Gefühlshaushalt reguliert, sei ja eine sehr mackermässige und schnell einmal homophobe Angelegenheit, wo Schwule verächtlich gemacht würden.

Martin Dannecker
Martin Dannecker

Im Sinne von: Die Oper ist das Fussballstadion der Schwulen? Das kann ich gut nachvollziehen. In den Stadien sieht man tatsächlich selten schwule Männer, was nicht heisst, dass sie sich nicht für Fussball interessieren. Aber man befindet sich in ungeheuer stark männlich geprägten Gruppierungen, regelrechten Männerrotten. Und wenn Männer ihre Männlichkeit zelebrieren, ist es fast immer antiweiblich – und antihomosexuell. Latenter Schwulenhass wird manifest. Im Gegensatz dazu befindet man sich in der Oper an einem geschützten Ort. Das ist ein grosser Unterschied.

Das Non-plus-Ultra für Schwule soll das Duett «Barcelona» von Montserrat Caballé und dem Queen-Sänger Freddy Mercury, einer Ikone der Schwulen, gewesen sein, dass sie anlässlich der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele 1992 gesungen haben. «Die Diva und der schwule Junge», fasste es ein schwuler Freund von mir zusammen. Diese Kombination scheint bei vielen Schwulen Gänsehaut auszulösen.

Das ist ja eine interessante Bemerkung. Denn wenn man statt Diva Mutter setzt, was sich bei der  Kombination mit dem Jungen fast aufdrängt, kann man psychologisch noch eine Schicht tiefer gehen und sagen: Hinter der Identifikation mit der tragischen Heldin verbirgt sich möglicherweise auch eine Identifikation mit der eigenen Mutter und dem gemeinsamen Schicksal, dass man vom Vater beziehungsweise dem Mann nicht richtig wahrgenommen, ja, unterdrückt wurde. Oft müssen ja die Mütter ihre schützende Hand über den schwulen Sohn halten, um ihn vor dem erbosten Vater zu retten.

Bleiben wir nochmal bei den Diven, die auch Rosa von Praunheim in seinen Filmtitel «Operndiven – Operntunten» aufnahm. Was genau macht Diven so besonders anziehend für Schwule?

Natürlich ihre Stimmen, aber auch die Art, wie sie ihre Rollen in einer Oper interpretieren und das meist tragische Schicksal verkörpern. Ich glaube aber, wenn Sie Maria Callas als Inbegriff einer grossen Diva nehmen, gibt es diese Figuren heute gar nicht mehr. Um eine Diva zu sein, braucht es immer eine bestimmte Distanz und Unnahbarkeit, sonst funktioniert die Projektion nicht richtig. Ich glaube, man kann höchstens noch von verschwundenen Diven reden; an deren Stelle sind die Stars getreten, doch davon gibt’s zu viele. Jede dritte Prominente ist heute ein Star.

Opernmusik hat ja auch für viele andere nicht-schwule Opernfans schnell einmal eine erotische Komponente. Was an der Opernmusik fährt dermassen ein?

Das Erregende ist die Öffnung und das Weggetragenwerden von der Musik. Da gibt es Augenblicke, in denen man das Gefühl hat, als ob alles möglich wäre. Und das schliesst auch die Sexualität ein. Ohne die Musik würde das nicht funktionieren. Wenn man nur die Texte anschauen würde, würde man niemals so abheben.

Die österreichische Autorin Elfriede Vavrik schreibt in ihrem autobiografischen Roman «Nacktbadestrand»: «Wissen Sie, wie schön das ist.» Und meint damit: Sex zu Opernmusik haben. Können Sie das nachvollziehen?

Spannende Aussage. Man sollte mal empirisch anschauen, welche Musik die Menschen hören, wenn sie Sex haben. Ich kann mir aus Opern gewisse Passagen vorstellen, die anturnend wirken, weil die Musik unheimlich bewegt und etwas in Fluss bringt. Musik heisst ja immer Steigern und Zurücknehmen. Wenn man das auf die Klaviatur der Sexualität überträgt, passt das gut: es wird zärtlich, es wird heftig, dann wieder ganz leise oder auch laut. Wenn alles vorbei ist, ist man im besten Fall befriedigt und erschöpft, wie nach dem Besuch einer schönen Oper.

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Christoph Schlatter vor dem Opernhaus Bayreuth (Foto: zvg)
Christoph Schlatter vor dem Opernhaus Bayreuth (Foto: zvg)

«In der Oper bin ich ganz bei mir»

«Natürlich geht es hier um Sucht», sagt der 57-jährige Zürcher Gewerkschaftssekretär Christoph Schlatter. Er geht jede Woche in die Oper und bezeichnet sich selber als «Opernjunkie». Behaftet man ihn darauf, windet er sich etwas. Was denn die negativen Folgen seien, will er wissen. Er grinst. Klar, finanziell sei es nicht ganz unproblematisch.

Abgesehen davon habe er diesen Sommer in Bayreuth Wagners «Parsifal» genossen, bei den Salzburger Festspielen Glucks «Orpheus und Eurydike» mit Cecilia Bartoli und auf der Seebühne in Bregenz Puccinis «Madama Butterfly», inszeniert von Andreas Homoki, dem Intendanten des Zürcher Opernhauses. Wenn er dann schon mal im Ausland sei, leiste er sich natürlich auch einen guten Platz und ein anständiges Hotel: «Es ist ein teures Hobby», zuckt er mit den Achseln.

Datei mit gegen 1000 Opern

In einer speziellen Datei habe er alle Opernaufführungen mit den jeweiligen Besetzungen notiert, die er live miterlebt hat. Da werde bald der 1000. Eintrag erreicht. Allein 38mal habe er Richard Strauss’ «Elektra» auf der Bühne gesehen: «Eine meiner absoluten Lieblingsopern, deren emotionale Wucht mir jedes Mal einfährt.» Die aufgepeitschten, sich ständig steigernden Rachegelüste der Hauptperson seien «geil», begeistert er sich. Strauss-, aber auch Wagner-Opern seien sowieso seine Favoriten. Dafür sei er bereit, weite Wege zu gehen.

Nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung ist Christoph Schlatters verstorbener Ehemann Ulf: «Er hat mich mit Wagner angefixt und mir die Welt des «Rings des Nibelungen» zugänglich gemacht». 1994 habe es mit «Rheingold» begonnen, gefolgt von der «Walküre», «Siegfried» und «Götterdämmerung»: «Ein eigener Kosmos mit einer gewaltigen Musik, in der aber auch das Feine, Subtile seinen Platz hat.» Er seufzt. Gemeinsame Opernbesuche hätten eine grosse Rolle in ihrer fast 30 Jahre dauernden Beziehung gespielt. Seit dem Tod seines Partners vor eineinhalb Jahren übe er nun verstärkt, «auch allein in die Oper zu gehen.»

Stoffe mit Grenzüberschreitungen

Viele Schwule lieben die Oper. Das fällt überall auf: in Zürich, München, Wien, Paris, ganz besonders auch in Bayreuth, wo in den einstündigen Pausen viele Männerpaare durch den Park flanieren oder sich mit einer Brezel und einem Bier stärken. Schlatter lacht: «Am schwülsten ist es in der Deutschen Oper in Berlin, wenn Wagner oder Strauss gespielt wird.»

Diese Vorliebe erkläre er sich auch damit, dass die deutschen Komponisten immer wieder Stoffe aufgriffen, in denen es zu Grenzüberschreitungen komme. Er erinnert an die »Walküre», eine Oper, in der das Zwillingspaar Siegmund und Sieglinde eine Liebesbeziehung pflegt, am Ende des ersten Akts unüberhörbar zusammen Sex hat und dabei den Sohn Siegfried zeugt: «Ein Inzestkind, was ja tatsächlich einen deftigen Tabubruch darstellt.» Schwule, deren Leben trotz aller Liberalisierungen immer noch von vielen als «das Andere», auch als «Ausnahme von der Regel» oder eben «Tabubruch» wahrgenommen werde, könnten sich gut identifizieren mit solchen Geschichten.

Starke Frauen – grosses Leid

Auf eine ähnliche Art erklärt er sich auch die schwule Vorliebe für die weiblichen Hauptpersonen, die Sopranistinnen, die die grossen Leidenden verkörpern, die die Oper in aller Regel nicht überleben: «Denken Sie an Mimi aus ‹La Bohème›, ‹Aida› aus der gleichnamigen Oper oder Violetta aus ‹La Traviata›.» Das seien Frauen, die an den gesellschaftlichen Verhältnissen oder den Männern leiden und zerbrechen, die ihnen wie der Edelprostituierten Violetta kein eigenständiges Leben zugestehen. «Diese Frauen zahlen einen hohen Preis für ihren Verstoss gegen die Konventionen.»

Ganz besonders deutlich werde das auch an der Figur der Elektra, die eine Ausgestossene in einer Welt sei, mit deren Gesetzen und Regeln sie sich nicht identifizieren könne: «Diese Erfahrung des Unverstandenseins, ja, der Heimatlosigkeit ist etwas, worin sich viele Schwule wiedererkennen.» Die Kunstform der Oper aber erlaube es ihnen nun, dieses Leiden in pure Schönheit zu verwandeln.

Stradivari unter den Stimmen

Er selber sei ein grosser Anhänger der deutschen Sopranistin Gabriele Schnaut gewesen, einer «phänomenalen Wagner- und Strauss-Interpretin», die so laut und mächtig gesungen habe, wie er es nirgends sonst erlebt habe: «Sie war ein richtiges Schlachtross auf der Bühne.» Ihr sei er regelrecht nachgereist und bedaure es sehr, dass sie kürzlich gestorben sei. Begeistern könne er sich auch für Anja Harteros, deren sehr aparten, leicht verschatteten Sopran nicht nur er als «Stradivari unter den Stimmen» bezeichnet: «Toll!»

Und die Männer? Christoph Schlatter zögert. Natürlich habe auch eine schöne Tenorstimme oder ein profunder Bass Wirkung auf ihn. Aber den genannten Frauenfiguren fühle er sich sehr viel näher als den vielen «dumpfbackigen Mackern wie einem Rodolfo, der am Ende der Oper nicht einmal merkt, dass Mimi gestorben ist».

Tränen in den Augen

Er selber sei ein sehr emotionaler Opernbesucher und lasse sich von gewissen Szenen und Arien stark berühren; Mimis Sterben könne ihm schon mal die Tränen in die Augen treiben. Auch Desdemonas Schlussarie von «Otello» mit dem Ave Maria gehe ihm unter die Haut: «Dann bin ich ganz bei mir und geniesse diese ausserordentlichen Momente.»

Schwule, so habe er das bei seinem Mann, aber auch bei vielen Freunden erlebt, würden ihre Opernleidenschaft gern von Generation zu Generation weitergeben und es schätzen, wenn sie an den jeweiligen Spielstätten vertraute Gesichter wiedersehen: «Das vermittelt Nähe und ein Gemeinschaftsgefühl: Man fühlt sich wohl unter Seinesgleichen.»

Martin Dannecker, 80, ist Sexualwissenschaftler und war lange Zeit Professor an der Universität Frankfurt. Er lebt heute in Berlin. Weil er viele Jahre einen Partner in Zürich hatte, kennt er die Schweiz gut.

Christoph Schlatter, 57, ist promovierter Historiker und von Beruf Gewerkschaftssekretär und Redaktor. Er lebt in Zürich und Berlin.

Ode an die Oper: Sechs überraschende Liebesgeschichten
Teil 1: Eine Träne für Violetta

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