Ändu, Lisa und Peter – drei Lebensläufe

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9. Januar 2024 – Noch einen Monat lang kann man im Ortsmuseum in die Schuhe anderer Leute schlüpfen und sich über Kopfhörer ihre Geschichten anhören: Ändu trinkt seit sieben Jahren keinen Alkohol mehr. Lisa berichtet von ihren Rassismus-Erfahrungen, der ehemalige Unternehmer Peter hat seinen Frieden gefunden.

Die Schuhe von Ändu, Lisa und Peter (v.l.n.r., Fotos: Bruno Heller, Ortsmuseum)
Die Schuhe von Ändu, Lisa und Peter (v.l.n.r., Fotos: Bruno Heller, Ortsmuseum)
Ändus Schuhe

Ändu ist 53 Jahre alt. Er lebt in Bern und trägt Schuhgrösse 42. Als gelernter Automechaniker brachte er es zum Chef eines Unternehmens mit 250 Angestellten, Lastwagen und Baggern. Die Verantwortung war zu gross, der Job wuchs ihm über den Kopf, er erlitt ein Burnout und begann zu trinken.

Der Entzug in einer geschlossenen Anstalt war eine knallharte Erfahrung. Der Entlassung folgte ein Rückfall, dem Rückfall die erneute Einweisung, der Einweisung der nächste Rückfall – ein Teufelskreis. Ändu erzählt in seinem schönen Berner Dialekt, wie er eines Tages über einen Zaun kletterte und sich bei der Landung das Fersenbein brach. Die Schuhe, die im Ortsmuseum stehen, hatte er nicht oft getragen, weil sie ihn an der Ferse drückten.

Ändu ist seit Jahren trocken, aber er muss aufpassen: «Eine Woche Spanien auf dem Ballermann könnte gefährlich werden, aber ich muss es ja nicht machen.» Für den FC Thun zapft er bei Spielen Bier, ohne selber einen Schluck zu trinken: es ist seine Art, mit der nach wie vor lauernden Sucht fertig zu werden. Zukunftspläne macht er keine mehr: «Ich lebe im Hier und Jetzt.»

Ändu spricht über sein Leben
Lisas Schuhe

Lisa ist schwarz, ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie im Kongo. In der Schweiz liess sie sich zur Pflegefachperson ausbilden. Sie ist 25 Jahre alt, trägt Schuhgrösse 38, arbeitet inzwischen in einem Zürcher Kino und möchte Kleinkind-Erzieherin werden. Sie ist in Gommiswald aufgewachsen, einem kleinen Dorf im Kanton St. Gallen. In Gegenwart von Kindern fühlt sie sich wohl, weil die Kleinen ganz natürlich auf ihre Person, ihre Hautfarbe und ihre Haare reagieren.

Die Haare sind ihr wichtig. In Gommiswald hörte sie oft abschätzige Bemerkungen – über die Haare, aber auch über ihre Hautfarbe. Heute trägt sie einen Afro, was ihr sehr gefällt, aber es brauche Mut, damit auf die Strasse zu gehen. Es gebe viele merkwürdige Blicke, aber damit könne sie inzwischen leben. Sie sagt, «der Afro ist fast schon meine Krone».

Im Winter trägt Lisa eine Perücke, um die Haare zu schützen. Wenn sie an eine Party gehe, bitte sie ihren Freund oder ihre Begleiterinnen, die anderen vorgängig zu informieren, dass eine schwarze Frau komme. Wenn sie den Raum betrete, bemerke sie gleichwohl überraschte Blicke, «das ist manchmal recht unangenehm». In Zürich fühle sie sich wohler als in St. Gallen: «Hier sind viel mehr schwarze Menschen anzutreffen, ich bin nicht die einzige.»

Lisa spricht über ihr Leben
Peters Schuhe

Peter trägt Schuhgrösse 42. Tiefenentspannt erzählt der 76-Jährige von seinem Vater, der italienische Wurzeln hatte. Weil er krank war und früh an Leukämie starb, musste Peter das elterliche Versandgeschäft für Papeterieartikel übernehmen – «Papier, Ordner, Kugelschreiber, alles, was man in einen Karton packen und verschicken kann». Er baute es aus, beschäftigte mehr als 100 Mitarbeitende und war froh, dass er alle mit Namen begrüssen konnte – «gut, ist die Firma nicht grösser geworden».

Als es um seine eigene Nachfolge ging, wurde es schwierig. Mit seinem Bruder, einem Psychiater, hatte er das Heu nicht auf derselben Bühne, und keines seiner drei Kinder zeigte Interesse an der Übernahme der Firma, die in der Branche als Preisbrecherin bekannt war. Da verkaufte er das Unternehmen «zu einem sehr guten Preis», was er als Befreiungsschlag empfand.

Seither geniesst Peter die neuen Freiheiten – keine Verantwortung mehr für den mittelständischen Betrieb, die oft drückte. Er hat Reisen gemacht, eine Ferienwohnung im Tessin gekauft, segelt auf dem Lago Maggiore und versucht, «meine italienische Seite aufzuwärmen». Im Winter kümmere er sich am liebsten um seine Grosskinder.

Peter spricht über sein Leben

Vielfältige Geschichten

Das Ortsmuseum stellt 40 Aufnahmen zur Verfügung, auch solche mit brisanten Themen. David (26, Schuhgrösse 45) erzählt von seiner Kindheit in einer Regenbogenfamilie, Laura (21/40) vom Empfang eines Spendeorgans, Max (7/29) hiess früher Mona und ist ein Trans-Kind, Naomi (34/40) spricht über ihre Fehlgeburt und Roy (34/43) über die Vorurteile gegenüber Polizisten und was es mit einem macht, wenn man nach einem Suizid an den Fundort gerufen wird.

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Empathy Museum London, Empathie Stadt Zürich  und dem Berner Generationenhaus. Es geht um die Fähigkeit, anderen Menschen zuzuhören und sie besser zu verstehen – auch dann, wenn es Konflikte gibt oder die Meinungen auseinandergehen.

Positive Bilanz

Für Bruno Heller, den neuen Leiter des Ortsmuseums, ist die Ausstellung «ein Glücksfall, denn die Auseinandersetzung mit Empathie und generell mit Gefühlen passt gut in die Zeit». Sie habe ihm zudem Kontakte zu Vereinen, Schulklassen und vielen interessierten Menschen ermöglicht. Er habe viele positive Rückmeldungen erhalten, beispielsweise von einem älteren Mann: «Er sagte mir, er habe fast keinen Zugang zu seinen Gefühlen, er habe nie gelernt, darüber zu sprechen; die Ausstellung ermögliche ihm das nun.»

Bei vielen Besuchern passiere schon etwas, wenn sie in fremde Schuhe schlüpfen, sagt Bruno Heller. Man dringe quasi ins Leben dieses Menschen ein, ein intimer Moment, und wenn man sich dann die Gedanken anhöre, komme man diesem Menschen – und damit den eigenen Gefühlen – sehr nahe.

Der Leiter des Zolliker Ortsmuseums hofft, dass im verbleibenden Monat noch mehr Menschen den Weg in die Ausstellung finden. «Mit einem Besuch kann man sich oder anderen Zeit schenken, entschleunigen und sich bei einer Tasse Tee oder Kaffee über das Gehörte unterhalten.» (rs)

Museumsleiter Bruno Heller (Foto: rs)
Museumsleiter Bruno Heller (Foto: rs)

Öffnungszeiten: Dienstag 16-19 Uhr, Samstag und Sonntag 14-17 Uhr.

Empathie Gemeinde Zollikon

Zum Abschluss der Ausstellung «A Mile in My Shoes» möchte Bruno Heller einen Visionsprozess für eine «Empathie Gemeinde Zollikon» entwickeln. Der ganztägige Workshop ist öffentlich, kostenlos und richtet sich an die Bewohnerinnen und Bewohner der Gemeinde sowie an die Mitarbeitenden der Gemeindeverwaltung. Es sind keine Vorkenntnisse notwendig. Hier geht es zum Flyer.

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