«Ich möchte einen Ort der brennenden Fragen»

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2. April 2024 – Bruno Heller, der neue Leiter des Ortsmuseums, präsentiert seine erste eigene Ausstellung: «Zollikon von oben». Er wünscht sich Besucher, die nicht nur konsumieren, sondern mitdenken. Am liebsten würde er das Museum zu einem «Ort der brennenden Fragen» machen.

Bruno Heller, Leiter des Ortsmuseums, vor einem Modell des alten Buechholz-Schulhauses (Foto: zvg)
Bruno Heller vor einem Modell des alten Buechholz-Schulhauses (Foto: zvg)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Bruno Heller, am 4. April findet die Vernissage zu Ihrer Ausstellung «Zollikon von oben» statt. Was verbirgt sich hinter diesem Titel?

In der Ausstellung werden Materialien gezeigt, die einen Blick von oben auf Zollikon ermöglichen: Luftbilder des Flugpioniers Walter Mittelholzer, die um 1920 entstanden sind; historische Karten aus dem 18. beziehungsweise 19. Jahrhundert, Vedutenmalereien, also wirklichkeitsgetreue Darstellungen von Landschaften, aber auch Städten, die teilweise noch älter sind. Dazu kommen aktuelle Fotos der Gemeinde, die man mit Drohnen gemacht hat. Dieses Material soll das Auge dazu anregen, auf Wanderschaft zu gehen: Wie sah etwas früher aus? Wie sieht es heute aus? Es soll die Betrachtenden dazu animieren, Fragen an den eigenen Lebensraum zu stellen.

Fragen welcher Art?

Meine Wunschvorstellung wäre, dass beispielsweise ein Grossvater mit seiner Enkelin in die Ausstellung kommt und sich mit ihr über das gezeigte Material austauscht. Dieses Gespräch könnte dann so verlaufen: «Ah, so sah das damals aus? Warum hat sich das alles so stark verändert? Wo bist du zur Schule gegangen, Grossvater? Was ist mit all den Obstbäumen passiert? Schau mal, die Allmend sieht immer noch gleich aus wie früher!» Auf Spiegeln stehen weitere Fragen, die solche Gespräche in Gang bringen sollen: «Was ist verschwunden? Was ist neu?» Neu sind unter anderem die vielen privaten Swimmingpools, die man gut erkennt auf den Aufnahmen. Verschwunden sind hingegen die Kleingärten mit den vielen Obstbäumen. Es wird auch eine Karte präsentiert, auf der man die Liegenschaften der Gemeinde sieht – ein Fokus, der mit Sicherheit Diskussionen auslösen wird. Im Eingangsbereich laufen die Leute zudem über einen grossen Teppich, der eine aktuelle Luftaufnahme von Zollikon zeigt. Da fragt man sich doch automatisch: Wo wohne ich? Wo ist mein Platz an diesem Ort?

Wie sind Sie auf die Idee zu dieser Ausstellung gekommen?

Es gibt einen ganz banalen Grund. Als ich mein Büro bezogen habe, lagen zufällig Abzüge historischer Luftaufnahmen von Zollikon auf dem Tisch. Bilder vom Dufourplatz, kaum Autos, keine Parkplätze, viele Weinberge. Dank diesem Material habe ich automatisch eine Art Zeitreise gemacht, was ich sehr anregend fand. Abgesehen davon bin ich als Ausstellungsmacher auf Material angewiesen, das vorliegt. Und diese Aufnahmen, aber auch die Karten bilden einen grossartigen Fundus, aus dem ich schöpfen kann.

Dufourplatz um 1932 von oben (Foto: Ortsmuseum Zollikon)
Dufourplatz um 1932 von oben – noch ohne Bergstrasse (Foto: Ortsmuseum Zollikon)

Sie hatten bei Ihrem Stellenantritt angekündigt, dass Sie im Ortsmuseum aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreifen werden. Wo genau liegt der aktuelle Bezug in dieser Ausstellung?

Ich finde nur schon interessant, wie stark sich unser Umgang mit Karten und Luftaufnahmen verändert hat. Heute haben die meisten von uns ein Handy mit Google oder Apple Maps in der Hosentasche. Wir tragen also diesen Blick von oben dauernd mit uns herum. Was mich auch begeistert, sind Programme wie der GIS-Browser des Kantons Zürich, das Geo-Informationssystem, das mir in Minimalzeit erlaubt, alle historischen Karten von Zollikon anzuschauen, die in der Zentralbibliothek oder im Staatsarchiv in Zürich liegen. Auch das Aufzeigen dieser tollen technischen Hilfsmittel war für mich ein Beweggrund, die Ausstellung zu machen.

Geplant war ursprünglich, dass eine junge Künstlerin mit ETH-Studierenden eine Art Rundgang durch verschiedene Stationen in Zollikon macht und das Ergebnis dann im obersten Stock des Ortsmuseums präsentiert. Dieser Teil fällt krankheitsbedingt leider aus.

Das bedauere ich auch sehr. 15 Architekturstudierende, die sich an den Blick von oben aus ihrer täglichen Arbeit gewöhnt sind, hätten in Zollikon für einmal die Bodenperspektive eingenommen, sich also im Blick von unten geübt und verschiedene Akteure besucht: Stefan Macciacchini, den Gemeindearchitekten, das buddhistische Zentrum in Hinter Zünen, das Durchgangszentrum im Buechholz oder die Redaktion und den Verlag der «Weltwoche» an der Zollikerstrasse. Dieses Projekt wäre zwar etwas experimentell gewesen, aber es steht beispielhaft für meinen Wunsch nach Vernetzung: ich möchte nicht allein denken, sondern viel lieber gemeinsam mit anderen. Dazu wollte ich eine Plattform bieten und mit dem Dachgeschoss des Ortsmuseums auch einen Raum.

Welchen Ersatz haben Sie so kurz vor Ausstellungsbeginn noch auftreiben können?

Einmal mehr hat mir der Zufall in die Hände gespielt, und ich bin in der Bauabteilung auf das Modell eines Leuchtturms gestossen, das ursprünglich anstelle der Holztreppe am Ortseingang zum Zollikerberg geplant war. Weil es bei beiden Objekten ja auch um den Blick von oben geht, zeige ich sie jetzt bei uns im Dachgeschoss.

Das Leuchtturm-Projekt des Künstlers Christoph Hänsli kam nicht zustande, wohl aber…
Das Leuchtturm-Projekt des Künstlers Christoph Hänsli kam nicht zustande, wohl aber…
… die Holztreppe, die einen Blick auf Zollikon von oben erlaubt (Abb.; Christoph Hänsli, Foto: Adrian Michael)
… die Holztreppe, die einen Blick auf Zollikon von oben erlaubt (Abb.; Christoph Hänsli, Foto: Adrian Michael)

Museen haben ein durchzogenes Image. Für viele sind sie verstaubte Orte, an denen man sich bloss langweilt. Was lösen solche Reaktionen bei Ihnen aus?

Mit klassischen Museen kann ich auch nicht so viel anfangen. Die haben durchaus ihren Wert, aber ihr Anspruch, dass sie der Tempel der Künste oder der Hüter des wahren Wissens seien und ein Thema ausschliesslich aus ihrer Perspektive erzählen, ist nicht mehr zeitgemäss. Heute wird der Sehweise der Besucherinnen und Besucher viel grössere Bedeutung beigemessen. Ich komme aus der Kunst- und Kulturvermittlung und schätze Partizipation ganz besonders hoch ein.

Sie wollen Austausch mit Ihrem Publikum, Interaktion. Die Leute sollen nicht einfach nur vorbeikommen und konsumieren.

Ja, ich erwarte auch etwas von ihnen: sie sollen mitdenken und sich beteiligen. Nur schauen, finde ich ein bisschen wenig.

Früher waren Museen nun mal Orte, die dem Publikum den Eindruck vermittelten, so und so sieht die Welt aus, was hier gezeigt wird, ist Kunst oder Kultur. Das hat die Leute geprägt.

Diese Idee entspricht mir aber überhaupt nicht. Früher wollten die Museen die Leute auch ein Stück weit erziehen, ästhetisch, bildungsmässig. Das hat etwas Elitäres, mit dem man viele Menschen zum vornherein ausgeschlossen hat. So überrascht es nicht, dass schon seit geraumer Zeit in Fachkreisen darüber debattiert wird, wie es den Museen gelingen kann, neues, auch jüngeres Publikum zu gewinnen. Der Trend, sich in einer Ausstellung auf kleinere, lokale Themen zu konzentrieren, mit denen sich die Besucher identifizieren können, und nicht jedes Mal das grosse Ganze ausbreiten zu wollen, ist eine Folge dieser Diskussionen.

Was braucht ein Museum, das diesen Ansprüchen genügen möchte?

Offenheit und ein Gespür dafür, was die Menschen in der Umgebung tatsächlich beschäftigt. Dazu sind Begegnungen und Austausch nötig, aber auch Selbstkritik. Ich bin überzeugt, dass Ortsmuseen ein grosses Potenzial haben, weil sie sich dem lokalen Wissen annehmen, das bei den Menschen, aber auch in der Natur und Landschaft liegt. Die letztjährige Documenta in Kassel, an der ganz auf lokales Wissen, Traditionen, Berufe und Lebensformen gesetzt wurde, zeigt exemplarisch, dass lokale Themen Hochkonjunktur haben.

Stichwort Selbstkritik. Wie zufrieden waren Sie mit Ihrer ersten Ausstellung «A Mile in My Shoes», in der es stark um das Thema Empathie ging, um die Fähigkeit, mitzufühlen?

Diese Ausstellung kam zustande, weil wir nach meinem Stellenantritt und der vorübergehenden Schliessung des Hauses relativ schnell mit einem neuen Angebot aufwarten wollten. Es ist eine Wanderausstellung, die das Ortsmuseum eingekauft hat. Ich fand die Ausstellung wirklich gut, sowohl vom Thema wie auch von der Präsentation her. Was gefehlt hat, sind Geschichten direkt aus Zollikon. Die präsentierten Schicksale liessen sich zwar durchaus auf Zollikon übertragen, aber es war tatsächlich keine klassische lokalgeschichtliche Ausstellung.

Wie war die Resonanz?

Wir hatten 500 Besucher, was recht gut ist. Was mich besonders gefreut hat, sind die Reaktionen aus verschiedenen Schulklassen, in denen es wiederholt hiess: Aha, auch das kann Ortsmuseum sein! Es ist schön, wenn die Leute merken, dass es hier Freiräume zum Denken und Diskutieren gibt. Das hat mich bestärkt, auch künftig Themen wie gesellschaftliches Zusammenleben oder mentale Gesundheit aufzugreifen.

Wie politisch darf es denn werden?

Museen sind immer politisch und müssen gemäss meiner Überzeugung zu bestimmten Themen eine Haltung beziehen. Die Ausstellungen müssen über ein gewisses kritisches Potenzial verfügen, das Reibung verursachen kann. In der heutigen Zeit stehen so viele konfliktbeladene Themen an wie Klimawandel, Migration, Eigentumsverhältnisse beziehungsweise Umverteilung, Stichwort Seeuferweg-Initiative, dass man als Museum nicht daran vorbeikommt. Ich möchte nicht, dass die Leute beim Verlassen des Ortsmuseums knapp sagen, ja, war gut, aber ansonsten unberührt bleiben.

Das Schokolade-Museum von Lindt & Sprüngli in Kilchberg ist ein Publikumsmagnet; das Fifa-Museum in Zürich-Enge floriert ebenfalls. Schokolade und Fussball sind nun mal grosse Leidenschaften, die die Leute zu begeistern vermögen. Was kann ein Ortsmuseum anbieten?

Die Leidenschaft, die ein Ortsmuseum entfachen kann, zeigt sich, wenn Besucher merken, dass sie die Umgebung, in der sie leben, mitgestalten können. Gerade junge Menschen sollen realisieren, dass ihre Stimme eine Bedeutung hat und dass sie sich unbedingt auch zu Wort melden sollen. Meine Wunschvorstellung wäre, dass wir zu einem Ort der brennenden Fragen und des Austauschs darüber würden.

Bruno Heller, 35, stammt aus Wiesbaden, lebt aber schon zehn Jahre in Zürich. Er hat in Berlin Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation studiert und anschliessend den Studiengang Curatorial Studies an der Zürcher Hochschule für Künste absolviert. Am Museum für Gestaltung hat er während seinem zweijährigen Praktikum seine erste Ausstellung mitverantwortet. Seit einem Jahr leitet er das Ortsmuseum Zollikon. Er ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder und lebt im Zürcher Kreis 6.

Die Vernissage der Ausstellung «Zollikon von oben. Einladung zum Perspektivenwechsel» findet am 4. April ab 18 Uhr statt. Begrüssung durch Gemeindepräsident Sascha Ullmann und Bruno Heller, anschliessend Apéro.

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