«Heimat bedeutet für alle etwas anderes»

0 KOMMENTARE

2. August 2024 – Für alle, die bei der 1. August-Feier auf der Allmend nicht dabei sein konnten, publizieren wir hier die Rede von Adrian Michael, ehemals Zolliker Primarlehrer, zum Thema «Geschichte und Heimat».

Festredner Adrian Michael, ehemaliger Zolliker Primarlehrer (Foto: zvg)

Liebe Zollikerinnen, liebe Zolliker, liebe Gäste, guete Abig mitenand.

Als mich vor gut zwei Monaten der Gemeindepräsident anrief und mich fragte, ob ich die diesjährige 1. August-Ansprache halten würde, sass ich gerade am Computer und schrieb an einem Text, in dem es unter anderem um die Geschichte von Zollikon ging.

Nachdem ich mich von meinem Schreck erholt und mir etwas Bedenkzeit ausbedungen hatte, setzte ich mich wieder an den Computer. Aber es gelang mir nicht, an meinem Text weiter zu schreiben, in meinem Kopf wirbelten die Gedanken hin und her: Was sagt man an einem 1. August? Was könnte ich sagen, das die Leute so einigermassen interessieren könnte? Was wollen die Leute hören, was sicher nicht?

Da hatte ich eine Idee. Da man sich ja heutzutage ganze Vorträge von künstlicher Intelligenz schreiben lassen kann, warum sollte mir die KI nicht eine 1. August-Rede schreiben können? Ich startete Chat GPT, tippte ein paar Stichwörter ein, drückte «Enter» und siehe da: Schon nach ein paar Sekunden erschien auf meinem Bildschirm eine Festrede. Ich mache es kurz: Sie hat nichts getaugt, eine Floskel folgte der nächsten. Beispiele:

Der Mut und die Entschlossenheit des legendären Schweizer Freiheitskämpfers Wilhelm Tell sind ein leuchtendes Beispiel für die Schweizer Identität. Und betrachten wir den majestätischen Zürichsee, der ein Symbol für den Reichtum und die Vielfalt unseres Landes ist. Wir feiern die Gegenwart und die Zukunft der Schweiz.

Mit solchen Sätzen habe ich sie nicht langweilen wollen; und Reden in diesem Stil werden vermutlich gerade jetzt in der Schweiz an mehreren Orten gehalten. Amüsiert hat mich besonders ein Satz:

Oder denken wir an Anton Zürich, den berühmten Schriftsteller, der mit seinen Werken das Wesen der Schweiz einfing und unsere Herzen mit seinen Geschichten berührte.

Ich nehme an, dass Sie von berühmten Schriftsteller Anton Zürich auch noch nie etwas gehört haben. Aber bei einem Abschnitt blieb ich hängen. Dort hatte der Computer nämlich geschrieben:

Wo fühlen wir uns zu Hause? Heimat ist nicht nur ein Ort auf der Landkarte, sondern ein Gefühl, das tief in unserem Herzen verankert ist. Es ist das Gefühl von Zugehörigkeit, von Gemeinschaft und von Geborgenheit. Aber Heimat ist nicht nur Landschaft, sondern auch Geschichte und Kultur.

Nun schoben sich der Text, an dem ich vor dem Telefon mit Sascha Ullmann geschrieben hatte, und dieser Abschnitt wie zwei Puzzleteile aneinander – und das war der Moment, an dem ich beschloss, ihm zuzusagen, ich hatte das Gefühl «Geschichte und Heimat» – da könnte ich etwas draus machen. Und um das Wort «Heimat» drehten sich in den folgenden Tagen immer wieder meine Gedanken.

Ich begann zuerst einmal bei mir selber. Von meiner Abstammung her bin ich zu drei Vierteln Deutscher. Aufgewachsen bin ich in Wollishofen, gerade gegenüber auf der anderen Seeseite. Trotzdem ist Zollikon für mich seit vielen Jahren meine Heimat. Wie kam es dazu? Wie kann ein solches Heimatgefühl überhaupt entstehen?  

Heimat ist, wo dein Herz ist, heisst es. Das ist sicher nicht falsch, aber wie kommt das Herz dorthin? Wie entwickelt sich Heimatgefühl – oder warum? Dem möchte ich ein bisschen nachgehen.

Ein ungewohntes, aber intensives Heimatgefühl erlebte ich mehrere Male während der Zeit, als ich Flight Attendant bei der Swissair war. Wenn wir in Afrika oder Asien, zum Beispiel in Lagos oder Bombay, für den Rückflug vom Hotel zum Flughafen gefahren wurden, da sahen wir auf dem Flugfeld die DC-10 der Swissair bereitstehen – mit dem grossen Schweizer Kreuz am Seitenleitwerk, ein Stück Schweiz, in tropischer Umgebung stand dort ein Stück Heimat.

Aber das Heimatgefühl gibt es ohnehin nicht, für jede Altersstufe bedeutet Heimat etwas anderes; für die einen viel, für andere wenig oder nichts.

Für jüngere Kinder besteht die Heimat wohl in erster Linie aus der Familie. Mami, Papi, die Grosseltern, die vertraute Wohnung, das Meerschweinchen und die Freundinnen und Spielkameraden aus Schule, Sportclub oder Pfadi.

Als Teenager rücken Mami, Papi und das Meerschweinchen in den Hintergrund und etwas ganz anderes wird wichtig. Internet natürlich – die Basis der Nahrungspyramide eines Teenagers, Heimat ist, wo es Internet und ein Passwort gibt. Dazu kommen Freundinnen, Freunde und cooli Locations wo man chillen kann. 

Später, wenn wir erwachsen sind rückt auch das in den Hintergrund. Vielleicht. Aber dann, irgendwann, stellt sich vielleicht bei einigen ein Heimatgefühl ein und man sagt, doch, hier bin ich daheim. Aber woher kommt es, dieses Gefühl? Nicht einfach nur irgendwo zu wohnen, sondern wirklich zuhause zu sein?

Das kann durch Vieles geschehen. Aber sicher ist, dass Heimatgefühle immer mit einem Gefühl von Zugehörigkeit, Sicherheit und Vertrautheit verbunden sind. Dies wiederum kann durch verschiedene Faktoren ausgelöst werden:

  • Oft sind Heimatgefühle stark mit Erinnerungen aus der Kindheit verknüpft. Orte, an denen man aufgewachsen ist, die Schulhäuser, in die man gegangen ist, die Kirche, in der man konfirmiert worden ist. Auch vertraute Gerüche und Geräusche wie Kirchenglocken spielen eine grosse Rolle.
  • Soziale Bindungen fördern die Beziehungen zu einem Ort. Freunde und Bekannte bieten Unterstützung und gemeinsame Erlebnisse.
  • Auch kulturelle Identität wie Traditionen, Bräuche und Sprache können wesentlich dazu beitragen, ein Gefühl von Heimat zu schaffen. Samichlaus und Sechseläuten vielleicht, die Schüeli. Und natürlich die Zolliker Chilbi.
  • Auch Landschaften, Klima, Architektur und Musik können Heimatgefühle auslösen. Blühende Obstbäume auf der Allmend im Frühling, die Seebadi im Hochsommer, der Kirchturm im Nebel, die Riegelhäuser im Kleindorf, das Quartier, in dem man wohnt, Appenzeller Naturjodel.
  • Positive Erfahrungen und prägende Ereignisse können das Gefühl der Heimat verstärken. Dies können Erfolge, persönliche Meilensteine oder bedeutsame Momente sein, die mit einem bestimmten Ort verbunden sind.

Für mich kommt aber noch etwas Wichtiges dazu: Die Geschichte, die Geschichte der Schweiz, die Geschichte Zollikons. Und die Geschichte unseres Dorfes hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich mich heute da zuhause fühle.

Zur Geschichte von Zollikon kam ich durch den Unterricht, Heimatkunde 4. Klasse.

Dort stiess ich zum ersten Mal auf die abenteuerlichen Namen der Alemannen Zollo, Vitalo und Truchthilo. Ich besuchte die Keltengräber im Feufbühl, studierte alte Karten und las, wie aus den paar Höfen im Zollikerberg die heutige Siedlung entstand und wie im Dorf die ursprünglichen kleinen Wachten wie das Chleidorf, der Chirchhof, das Oberdorf und das Gstad, die kleinen Dörfer, zur heutigen Gemeinde zusammenwuchsen. 

Und mit Erstaunen vernahm ich, dass Zollikon neben den Städten Zürich und Winterthur die älteste Gemeinde des Kantons ist; die Gründung geht auf das Jahr 1330 zurück. Zollikon ist heute also 694 Jahre alt – in sechs Jahren haben wir also Anlass für eine ganz grosse Feier, die unser Heimatgefühl noch verstärken kann. Dieses Eintauchen in Zollikons Vergangenheit trug wesentlich dazu bei, dass ich die Gemeinde kennen lernte und sie meine Heimat wurde.

Wenn ich von Geschichte rede, dann meine ich nicht in erster Linie die Schlacht von Morgarten und den Apfelschuss des Tell oder die Sage vom Rütlischwur, der ja, nebenbei gesagt, nie so stattgefunden hat.

Ich betrachte die Geschichte grundsätzlich ganz allgemein als eine Art Basis, auf der sich die Gegenwart aufbaut; die heutigen Gemeinden und politischen Systeme der Schweiz beruhen alle auf Geschichte. Wer sich nur mit der Gegenwart und den heutigen Erscheinungsformen befasst, dem fehlt gewissermassen die Grundlage, das grundlegende Verständnis für so Vieles, was sich heute abspielt. 

Dies betrifft im Grunde genommen vielleicht nicht alles, aber sehr viel. Auch wer zum Beispiel die heutige Musik verstehen will, tut gut daran, sich auch mit deren Geschichte etwas zu befassen. Dies gilt auch für Literatur, Architektur, Malerei, alte Bräuche, die Geschichte des Autos und der Luftfahrt, der Kirchengeschichte, Religionen, die Sprache und vieles mehr.

Dies gilt natürlich auch für die Geschichte von Menschen. Wer die Vergangenheit eines Menschen ausblendet, seine Herkunft, sein bisheriges Leben nicht kennt, der wird einen Menschen nie in seinem Ganzen verstehen können.

Jetzt könnte natürlich bei Ihnen die Frage auftauchen: Was müsste sich in Zollikon ändern, damit ich mich hier heimisch oder noch heimischer fühlen kann? Darauf möchte ich mit einem Zitat des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy antworten, der 1961 in seiner Antrittsrede sagte: «Frage nicht, was das Land für dich tun kann. Frage, was du für das Land tun kannst».

Dafür gibt es auch in Zollikon einige Möglichkeiten. Engagieren Sie sich in Vereinen, in Sportclubs, treten Sie einer Partei bei. Und jetzt wende ich mich auch an die Jungen: Dies ist nicht nur etwas für die Erwachsenen, das betrifft auch euch, Kinder und Jugendliche.

Engagiert euch! Sei es im Sport, in der Pfadi, im Schülerparlament in der Schule oder sonstwo, aber engagiert euch, übernehmt Verantwortung, wenn ihr etwas älter seid! Ihr könnt viel erleben, Freundschaften fürs Leben schliessen und viel für eure Zukunft mitnehmen. Das Wichtigste für den Lehrerberuf habe ich, nebenbei gesagt, als junger Leiter in der Pfadi gelernt und nicht in der Lehrerausbildung.

So haben Jüngere und Ältere die Möglichkeit, ihre Umgebung mitzugestalten und dafür zu sorgen, dass sich die Gemeinde zum noch Besseren verändert und für viele zu einer neuen Heimat werden kann – so wie sie es für mich geworden ist.

In der Vergangenheit, in der Geschichte haben sich unzählige grosse und kleine Geschichten zugetragen; lustige, traurige, aufregende. Eine davon möchte ich Ihnen jetzt erzählen, eine Geschichte aus der Geschichte gewissermassen. Das Besondere: Sie hat sich in Zollikon zugetragen.

Vor langer Zeit tauchte in Zollikon ein fremder Mann auf, der behauptete, er habe im Wald Goldadern entdeckt. Er habe Berglunge gegessen, erklärte er, mit der könne man in den Boden hineinsehen.  Der Fremde zeigte den Zollikern einen schwarzen Stein.  «Das ist Berglunge», erklärte er, die müsse man aber weichkochen.

So machte man unter einem grossen Kessel ein Feuer und rührte fleissig. Damit die Berglunge weich werde, müsse man Gold in den Kessel geben, sagte der Mann. Die Zolliker holten also ihre Goldstücke und ihren Schmuck. Der Zauberer nahm alles und tat so, als liesse er es in den Topf fallen.

Spät in der Nacht verkündete der Fremde, die Berglunge sei jetzt bald gar. Er aber müsse jetzt mal schnell austreten. «Vergesst aber nicht zu rühren, sonst gelingt es nicht!», rief der Mann und verschwand im Wald.

Erwartungsvoll blickten alle ins siedende Wasser, aber schliesslich wurden sie ungeduldig. Sie leerten den Kessel – und fanden nur einen Steinbrocken und einige Schneckenhäuschen – das Gold war verschwunden und der Fremde natürlich auch.

An diese Geschichte der Lunggesüüder erinnert heute noch der Zolliker Weisswein, der Lunggesüüder.

Heute lächeln wir über die leichtgläubigen Zolliker, die sich von den Versprechungen eines Betrügers haben täuschen lassen und sind uns sicher, dass ein derartiger Schwindel in der heutigen Zeit nicht mehr möglich wäre.

Aber im April 1998 ist in Winterthur tatsächlich Folgendes passiert:

Ein Mann kommt in den Laden eines Ehepaars, kauft eine Kleinigkeit und erwähnt nebenbei, er könne mit Hilfe von Chemikalien Geld herstellen. Das Ehepaar wird neugierig und bittet ihn um eine Demonstration.

Der Unbekannte nimmt eine Hunderternote und zwei gleich grosse weisse Papierstücke. Auf den echten Geldschein tröpfelt er eine «Geheimflüssigkeit», die für die Vermehrung sorgen soll, die beiden weissen Papiere begiesst er mit Farbe. Dann verlangt er einen Eimer Wasser und schwenkt die Note darin. Dass der Mann zwei weitere echte Hunderternoten in der Hand versteckt hält, die er mit den Papierstücken austauscht, entgeht dem Ehepaar.

Als der Kübel geleert wird, liegen am Boden drei echte Hunderternoten. Beeindruckt fragte das Ehepaar, ob er auch 100’000 Franken vermehren könne. Klar könne er, das sei kein Problem.

Ein paar Tage später erscheint der Mann wieder. Er umwickelt die hundert Tausendernoten des Ehepaars mit Alufolie und schnürt sie zu einem Paket zusammen. Das beträufelt er mit seiner Zauberlösung und als die Ladenbesitzer in der Küche etwas zu trinken holen, wechselt der Betrüger das Paket aus. Dann erklärt er, jetzt müsse man die Noten in einem Eimer mit Wasser einen Tag ruhen lassen. Er werde morgen wieder vorbeikommen, um das Geld definitiv zu vermehren. Sie wissen, was jetzt kommt: Das Ehepaar wartete vergeblich.

Sie merken es: Abgesehen davon, dass aus der «Berglunge» des Fremden in der ersten Geschichte Chemikalien geworden sind, hat sich in der Vergangenheit und der Gegenwart die genau gleiche Geschichte abgespielt.

In der Mittelschule fragte der Deutschlehrer jeweils: «Was will uns der Dichter damit sagen?» Oder anders gefragt: Was können wir aus diesen beiden Geschichten für eine Lehre ziehen?

Wenn wir bereit wären, aus der Vergangenheit, aus der Geschichte etwas zu lernen, wäre schon viel gewonnen.  Also machen Sie es besser, damit unsere Heimat gut bleibt – oder noch besser wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen guten Abend.

Hebeds Si’s guet, adie mitenand.

WIR FREUEN UNS ÜBER IHREN KOMMENTAR

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

16 + zehn =

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht