«Wir alle sollten ein Budget machen»

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22. November 2024 – Die Inflation, steigende Lebensmittelpreise, explodierende Mietzinse und Krankenkassenprämien belasten uns immer mehr. Philipp Frei, der Geschäftsführer der Budgetberatung Schweiz, gibt Ratschläge, was dagegen hilft: ein Budget.

Finanziell in der Klemme – ein Budget hilft (Foto: ZN)
Finanziell in der Klemme – ein Budget hilft (Foto: ZN)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Philipp Frei, erstellen Sie für sich selber ein Budget?

Ja, aber erst seit neuerem.

Was hat den Ausschlag gegeben?

Einerseits natürlich mein Beruf. Je länger ich mich mit Budgets beschäftige, desto mehr sehe ich, wie wertvoll dieses Tool ist. Und andererseits muss auch ich, wie viele andere auch, bewusster mit meinen Finanzen umgehen: wofür möchte ich eigentlich Geld ausgeben und wofür lieber nicht? Bei Ferien, habe ich herausgefunden, kann ich problemlos zurückfahren; bei meinem Hobby möchte ich mich weniger einschränken.

Sie sind Geschäftsführer der Budgetberatung Schweiz. Was würden Sie einem Klienten in Ihrer Situation empfehlen?

Philipp Frei

Wir Menschen sind ja extrem gut darin, uns selber zu überlisten. Der kaum mehr zu bremsende Trend, mit Karte beziehungsweise digital zu bezahlen, kann auch dazu beitragen. Man merkt gar nicht richtig, wieviel man jeweils ausgibt. Darum habe ich beschlossen, wieder vermehrt mit Bargeld zu bezahlen. Man weiss, dass es die Leute als schmerzhafter empfinden, Noten und Münzen in die Hand zu nehmen und diese auszugeben. Dazu werde ich das Drei-Konten-Modell konsequenter anwenden, das wir auch unseren Klienten empfehlen.

Wie sieht das aus?

Wir unterscheiden drei Konten: das Lohnkonto, das man gleichzeitig als Rückstellungskonto für Steuern, Krankenkassen und unvorhergesehene Ausgaben braucht. Dann ein Konto, auf das die Kredit- und die EC-Karte laufen und auf das ich nur Geld überweise, das ich im Verlauf des Monats wirklich ausgeben darf. Dank dieser Massnahme sehe ich sofort, wenn ich finanziell über die Stränge schlage. Bin ich dort auf Null, muss ich die Notbremse ziehen. Das dritte Konto wäre ein langfristig angelegtes Sparkonto.

Schildern Sie uns doch mal konkret, wie Sie bei einer Budgetberatung vorgehen!

Als Erstes schauen wir das Gesamtbudget an und suchen zunächst nach Sparmassnahmen, die man relativ schnell umsetzen kann. Beim Auswärtsessen lässt sich sofort einiges einsparen. Man kann ja etwas von daheim mitnehmen und damit auf den täglichen Besuch der Kantine oder gar eines Restaurants verzichten. Das sind doch erhebliche Beträge, die da zusammenkommen. Auch der tägliche Kaffee «to go» am Bahnhof hat seinen Preis, der sich Ende Monat auf rund 120 Franken summiert. Bei den Ferien kann man statt vier nur zwei Wochen buchen, dazu vielleicht auch auf Reisen ins Ausland verzichten. Auch bei den Hobbys gibt es bei den meisten Leuten noch Sparpotenzial. Wenn diese Einschnitte reichen, ist unser Auftrag erfüllt.

Und wenn nicht?

Dann muss man auch Ausgaben prüfen, die sich nicht von heute auf morgen stoppen lassen. Klassisches Beispiel: Abonnements im Bereich Internet, Telefonie, Medien. Auch da lassen sich einige hundert Franken pro Jahr sparen. Wenn das Budget nun immer noch nicht im Lot ist, sind gröbere Einschnitte nötig, die tiefer und schmerzhafter sind. Dann muss man Posten wie das Auto und das Wohnen anschauen und über Einschränkungen nachdenken, mit denen sich viele Leute verständlicherweise schwertun. Wer will schon auf einen kleineren Wagen umsteigen oder auf dem eh schon angespannten Wohnungsmarkt nach einer billigeren Alternative suchen? Was auch ansteht, ist die Frage, ob man allenfalls Anspruch auf die Verbilligung seiner Krankenkassenprämien hat.

Was belastet Menschen am meisten, die als Einzelperson mit rund 2300 Franken und weniger leben müssen und damit als arm gelten?

Was wir merken, ist, dass es sie extrem frustriert, dass sie nichts gegen steigende Mietkosten oder Krankenkassenprämien tun können. Diese Entwicklung rollt über sie hinweg und lässt sie mit einem Gefühl von Ohnmacht zurück. Als schwierig erleben sie auch die steigenden Heiz- und Energiekosten, weil viele von ihnen in alten, schlecht isolierten Wohnungen leben, die besonders hohe Heizkosten verursachen. Da schränken sie sich an allen Ecken und Enden ein, drehen jeden Franken dreimal um, und trotzdem ist Ende Monat kein Geld mehr auf dem Konto. Erschwerend kommt die soziale Isolation dazu, die mit Armut fast immer einhergeht.

Was heisst das konkret?

Nehmen Sie ein Elternpaar, das bei seinen Kindern immer zuletzt sparen möchte, aber irgendwann nicht anders kann. Dann kann die Tochter nicht mehr ans Geburtstagsfest ihrer Freundin gehen, weil sich die Familie kein Geschenk für das Mädchen leisten kann. Ein eigenes kleines Fest auszurichten, kommt schon gar nicht in Frage.

In solchen Fällen wird Geld zum alles beherrschenden Thema.

Man ist ständig am Rechnen und Checken, wo man sparen könnte, und gleichzeitig versucht man das Problem vor anderen zu verstecken und ja nichts nach aussen dringen zu lassen, weil man sich schämt.

Ist die Nachfrage nach Budgetberatungen in den letzten Jahren gestiegen?

Einige Stellen führen Wartelisten. Was auffällt, ist, dass eine neue Schicht von Menschen zu uns kommt. Menschen, die bisher gut durchgekommen und eher unbekümmert mit ihrem Geld umgegangen sind, merken auf einmal, dass sie sich erstmals gründlicher mit ihren Finanzen auseinandersetzen müssen.

Ist das der vielzitierte Mittelstand, der plötzlich von Armutsangst betroffen ist?

Ja, der tiefere und mittlere Mittelstand, also Menschen, die früher ganz selbstverständlich mit der Vorstellung Einfamilienhaus, Auto, Ferien gelebt haben. Dazu gehörten auch Handwerker oder Lehrerinnen. Aber diese Vorstellung geht heute nicht mehr auf. Ein Eigenheim ist für die meisten unerreichbar geworden, es sei denn, man erbt eine Immobilie.

Das klingt so, als sollten die Menschen unbedingt ein Budget erstellen.

Wir empfehlen es tatsächlich allen. Egal ob das Geld knapp ist oder nicht, letztlich profitieren alle davon. Man gibt sein Geld erstens viel gezielter aus, und zweitens beruhigt es einen, weil man den Überblick über seine Finanzen bewahrt. Die angesprochene Armutsangst, unter der auch Menschen leiden, die eigentlich keinen Grund dazu hätten, lässt sich mit einem Budget viel besser in Schach halten.

Warum erstellen so viele Leute trotzdem kein Budget?

Weil es in unserer Gesellschaft selten oder gar nicht thematisiert wird, weder daheim noch in der Schule. Finanzfragen werden generell stiefmütterlich behandelt. Ich bin im Kollegenkreis noch nie darauf angesprochen worden, ob ich ein Budget mache, höchstens ein-, zweimal, seitdem ich den Job bei der Budgetberatung habe. Viele denken wohl auch, dass Budgets etwas für Leute seien, die kein Geld oder ihr weniges Geld nicht im Griff haben.

Dazu geht es mit einem gewissen Zusatzaufwand einher.

Das ist so. Viele Leute sind auch überfordert mit dem Zusammentragen der relevanten Zahlen und Budgettabellen. So entstehen natürlich Berührungsängste, und es braucht einiges, um da mal Gas zu geben.

Die Goldküste gilt als Ort der Wohlhabenden und Reichen. Sind Budgets für diese Menschen überhaupt ein Thema?

Es sollte auf jeden Fall eines sein. Denn wir sehen immer wieder Menschen bei uns in der Beratung, die finanziell sehr gut ausgestattet sind und bei denen es am Ende des Monats trotzdem nicht aufgeht. Es ist ja so: Wenn ich mehr verdiene, habe ich meistens auch einen höheren Lebensstandard und folglich mehr und grössere Verpflichtungen. Ich habe eine teurere Hypothek auf meinem Haus, beschäftige möglicherweise Hausangestellte, fahre ein grösseres Auto, pflege teurere Hobbys. Unter dem Strich bleibt auch bei diesen Leuten nicht mehr viel übrig. Und wenn dann etwas Unerwartetes passiert wie ein Unfall oder der Verlust der Stelle, spielt es keine Rolle, ob ich monatlich 5’000 oder 20’000 zur Verfügung hatte – entscheidend ist, ob ich in besseren Zeiten Reserven gebildet habe.

Das muss für solche Menschen ja ein riesiger Schock sein.

An der Goldküste leben und die eigenen Kinder nicht mehr in die Privatschule schicken können, ist für solche Menschen sicher sehr belastend. Ja, vielleicht schämen sie sich sogar noch mehr, weil es in ihren Kreisen extrem verpönt ist, über Verluste und Misserfolg zu reden. Da steht man am Schluss ganz allein da und fühlt sich schuldig am eigenen Versagen. Es ist ja sprachlich spannend, dass der Begriff Verschuldung so nahe am Begriff Schuld angesiedelt ist. Das führt dann auch zu den reflexhaften Vorwürfen: wer Geldprobleme hat, ist selber schuld und hat über seine Verhältnisse gelebt. Kein Wunder, trauen sich die Leute kaum über ihre Finanzprobleme zu reden und sich Hilfe zu holen.

Welche Fragen stellen denn jene Menschen, die dann doch den Schritt machen und zu Ihnen kommen?

Sie wollen vor allem wissen, wo sie sparen können. Viele sind überfordert damit und können sich nicht vorstellen, bei welchen Ausgaben sie sparen könnten. Und auch wenn man es weiss, fällt die Umsetzung vielen schwer. Was Menschen wichtig ist, ist sehr unterschiedlich. Ein Beispiel ist ein Paar, das dringend hätte sparen müssen. Die Frau aber stellte sich auf den Standpunkt, dass ihre 800 Franken monatliche Kosmetikausgaben unverhandelbar seien. Er pochte im Gegenzug darauf, dass er unter keinen Umständen auf sein sehr teures Auto verzichten würde. Wir können den Leuten diese Entscheide nicht abnehmen. Für uns ist es aber wichtig zu wissen, dass wir es zwar in erster Linie mit Zahlen zu tun haben, dass sich dahinter aber Identitäten, Prägungen und kulturelle Werte verbergen. Wenn man sich dessen bewusst ist, wird man weniger unbarmherzig mit Menschen umgehen, die sich verzweifelt gegen den Verkauf ihres Autos oder ihrer Ferienwohnung wehren. Ich hätte ja auch Mühe, wenn ich 20 bis 30 Prozent meiner Ausgaben kürzen müsste.

Gestern erschienen: Die Offenlegung des gesamten Lebens

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