«Steh auf! Es gibt immer eine Lösung»
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28. November 2024 – Ruth van de Gaer Sturzenegger wurde Opfer eines gewaltigen Onlinebetrugs, bei dem sie fast eine Million Franken verlor. Vor ihrem Auftritt im «Talk am Puls» schildert sie, was bei ihr an einem 18-Stunden-Tag so alles geschieht.
Meine Tage verlaufen verschieden, je nach dem, was auf dem Programm steht. Donnerstags zum Beispiel stehe ich jeweils um 4 Uhr auf. Mein Morgenritual besteht aus einer Meditation, während der ich den Tag gedanklich vorwegnehme und meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringe. Ich trinke einen Liter Wasser und einen Power Cocktail aus Gemüse- und Früchteextrakten, die ich mit Tee aufgiesse.
Um 5 Uhr früh starte ich von meinem Hauptwohnsitz in Vaduz nach Schaan, wo ich als Fitnesscoach ein intensives Intervalltraining leite, das darauf ausgelegt ist, die Grenzen meiner Teilnehmer zu erweitern.
Ich fordere sie heraus, ihre Komfortzone zu verlassen – nicht nur, weil das Training zu einer ungewohnt frühen Stunde beginnt, sondern auch durch anspruchsvolle Übungen, die den ganzen Körper fordern. Für 40 Minuten geht es darum, alles zu geben und den inneren Schweinehund zu überwinden.
Eine der Lieblingsübungen, „Burpees“, ist hart, aber wirkungsvoll: Aus dem Stand geht es runter in die Liegestütze, weiter bis auf den Boden und dann zurück in den Stand – eine Bewegung, die garantiert für Muskelkater sorgt. Diese intensiven Minuten sollen meinen Teilnehmern zeigen, wozu sie fähig sind und ihnen ein starkes Gefühl der Erfüllung geben.
Mein Ziel? Dass sie jeden Muskel spüren und dabei an ihren Fortschritt – und an mich denken.
Ich selber mache auch mit. Wie soll ich sonst für die Leute ein Vorbild sein? Um 6.10 Uhr ist die erste Gruppe fertig. Kaputt, nassgeschwitzt, aber auch sehr zufrieden. Wir haben auch viel Spass zusammen und lachen immer wieder. Sonst hält man ein solches Training nicht durch.
Um 7.30 Uhr kommt die zweite Gruppe. Wieder höchstens sechs Leute, damit ich jeden einzelnen kontrollieren kann. Wir sind ja wahnsinnig gut darin zu schummeln und uns vor harten körperlichen Anstrengungen zu drücken. Trainieren wir allein, sind wir meistens viel zu lieb mit uns selber. Aber nicht mit mir. Ich weiss aus meiner langjährigen Erfahrung mit diesem Training, wie gut es auch dabei hilft, mentale Stärke aufzubauen.
Um 8.10 Uhr fahre ich zurück nach Vaduz, dusche und ziehe mich um. Nachher geht’s weiter nach Zürich, wo ich eine Zweitwohnung habe, in der ich, wie in Vaduz, gemeinsam mit meinem 19-jährigen Sohn lebe. Ich packe aus und bereite mir eine Portion Rührei zu, meine erste Mahlzeit an diesem Tag.
Ab 12 Uhr arbeite ich im Café am Puls im Zollikerberg, wo ich als stellvertretende Betriebsleiterin überall dort mitanpacke, wo Unterstützung nötig ist. Im Service, am Buffet, in der Küche, in der Administration. Freitags beginne ich bereits um 9 Uhr und arbeite bis 20 Uhr im Café. Das heisst, ich helfe auch beim Apéro mit. Mein Pensum umfasst rund 16 Stunden und entspricht in etwa einer 30 Prozent-Anstellung.
Donnerstags bleibe ich jeweils in Zürich. Gegen 18.30 Uhr bin ich zuhause und hole Archie, unseren Corgi, einen richtigen Sonnenschein, bei der Nachbarin ab und gehe mit ihm laufen.
Nach einem solchen Tag ist an einen ausgedehnten Abendausgang nicht zu denken. Zunächst einmal koche ich etwas Gutes und Gesundes für meinen Sohn und mich. Und dann widme ich mich noch einige Zeit unserem Projekt «The Bright You», unserem gemeinnützigen Verein für Onlinebetrugs-Geschädigte, den ich gemeinsam mit meiner Freundin und Geschäftspartnerin Ayda Ergez im Jahr 2024 gegründet habe.
Unser Vereinszweck umfasst vier Schwerpunkte: emotionale Unterstützung, präventive Arbeit auf emotionaler Ebene, True Crime Talks in Unternehmen und Schulen sowie den Aufbau der Onlinebetrugs-Hotline «Von Geschädigten für Geschädigte und Gefährdete», die für die Allgemeinheit offen ist.
Wir bieten einmal pro Monat Selbsthilfe-Calls für Betroffene an, die wir alle vorab persönlich oder mindestens via Zoom kennengelernt haben. Unser Ziel ist es, die Geschädigten zu stärken, damit sie ihre Scham beiseitelegen und beginnen, über ihr traumatisches Erlebnis zu sprechen. Denn nur so schaffen sie es, mit der Zeit und viel Geduld das Erlebte zu verarbeiten.
Um die Gesellschaft zu sensibilisieren und wachzurütteln, machen wir viel Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Das heisst, ich gebe Interviews und schreibe Artikel für Zeitungen. In meinem Buch «Nichts gegen eine Million» schildere ich meinen eigenen Fall und versuche aufzuzeigen, wie skrupellos und raffiniert die Online-Betrüger vorgehen. Egal wie gebildet jemand ist – kein Mensch ist gefeit gegen solche Machenschaften. Darum geht dieses Thema alle etwas an.
Unser Verein heisst «The Bright You» und steht für Zuversicht und Optimismus. Meine Botschaft an Betroffene lautet: «Steh auf und gib nicht auf! Es findet sich immer eine Lösung.» Dazu ist tatsächlich ein schmerzhafter Verarbeitungsprozess nötig, der nur möglich ist, wenn man es schafft die Scham beiseitezulegen.
An den Donnerstagabenden muss ich allerspätestens um 22 Uhr ins Bett. Ich beschliesse diese langen Tage mit einem Abendritual, mit dem ich mich für den Tag bedanke. Dann lasse ich für die Dauer von zwei bis drei Stunden auf Youtube eine Meditation laufen, die mich entspannt einschlafen lässt. Am Freitag geniesse ich den Komfort, dass ich erst gegen 5.30 oder gar 6 Uhr aufstehen muss.» (Aufgezeichnet von Barbara Lukesch)
«Talk am Puls», Donnerstag, 5. Dezember, im Café am Puls, Zollikerberg. Baröffnung 19 Uhr, Talk 19.30 Uhr, anschliessend gemütliches Zusammensein. Gastgeber: Pfarrer Simon Gebs, Eintritt frei.