Wintermärchen: Die Schöne und das Biest
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Edwin van der Geest: «Traum-Wintertage sind in Zollikon selten und wollen entsprechend genutzt werden. So entsteht die Idee, für einmal ein Winterwander-Märchen zu schreiben. Es heisst: ‹Die Schöne und das Biest›. Neugierig geworden? Also los!»
VON EDWIN VAN DER GEEST
Als ich morgens den Vorhang aufreisse, begrüsst mich der Tag mit frischem Schnee und einem tiefblauen Himmel. Es ist klirrend kalt, der ferne Uri Rotstock nickt mir zu und lädt zur Skitour. Doch ich entscheide mich anders: Warum auch in die Ferne fahren, wenn das Schöne vor der Haustüre liegt!
Von zuhause bis zum Wehrenbachtobel ist es nur ein kurzes Stück. Ich wandere zuerst durch unser hübsches Jugendstil-Quartier, überquere das Riet (den Fussballplatz), komme zu den Genossenschafts-Siedlungen und den Schrebergärten und durchquere anschliessend die Zürcher «Hospital-City» zum Balgrist.
An der Tramhaltestelle schnappe ich mir schnell den besten Schoggi-Gipfel der Stadt. Den gibt es bei «Eric’s», anno dazumal die «Bäckerei Baumann» – aber mit dem schicken Vornamen lässt sich der Preis der Leckerei besser rechtfertigen. Anerkennend mampfend tauche ich wenige Meter weiter in den Wald ein.
Das Wintermärchen beginnt – denn jetzt bin ich bei der «Schönen» – das Wehrenbachtobel ist das Lieblichste seiner Art am ganzen Pfannenstiel (es gibt mindestens sieben Tobel). Und heute ganz besonders! Der Pulverschnee knirscht betörend unter meinen Sohlen. Mit der weissen Pracht beladene Äste hüllen den Pfad wie ein festlicher Reigen ein. Das Wasser gurgelt dumpf, das Plätschern der Wasserfälle über die Wehren wird vom Schnee verschluckt.
Ich bin fast alleine unterwegs, das ist an den Wochenenden nicht so. Der elegante Bachlauf ist längst kein Geheimtipp mehr. Das Teilstück bis zur Trichtenhausermühle wird von Joggern, Bikern, Hündelern und Wanderern gleichermassen geschätzt. Weiter oben wird es ruhiger – aber nicht minder romantisch. Neben der Mühle erhebt sich ein grosses Wasserrad (eine Kopie aus dem Zürcher Oberland), das Original lieferte einst die Energie für das Sägewerk. Der noch funktionierende Zeitzeuge ist ein Eyecatcher im Sommer, heute präsentiert er sich vom Eis erstarrt.
Wenig später überquere ich die Binzstrasse und betrete jenen Teil des enger werdenden Tobels, in dem ich manch freie Stunde meiner Kindheit verbrachte. Wir stauten den Bach, gruben Höhlen unter den Wurzelwerken der Bäume (bis sie umstürzten…) und rauchten heimlich «Nielä», die am Waldrand wuchsen. Heute begegne ich einem Reiher, der sich geschickt jonglierend einen Weg durch die Äste sucht, um danach im Wasser stehend Ausschau nach Beute zu halten.
Beim Weiler Sennhof verlasse ich den Wald und steige über die Brunnewisen (wo der Kanton eine Deponie plant) hoch zur Krete – der Grenze zwischen Zollikerberg und Binz. Auf diesem «Pass» sieht man schön ins Glatttal und bald auf den Greifensee hinunter. Ich folge dem Gratrücken im stetigen Auf und Ab bis zum Wehrmänner-Denkmal auf der Forch, dem höchsten Punkt meiner Wanderung. Der Schnee liegt hier oben einiges höher als beim rund 300 Meter tiefer gelegenen See, im stillen Wald ist er noch unberührt. Herrlich.
Beim Wehrdenkmal erwartet mich das grandiose Alpenpanorama. Lange bleibe ich jedoch nicht stehen, es ist wirklich richtig kalt, die Bise grüsst. Zeit für eine Einkehr in der Krone Forch, die mich heute mit tibetanischer Küche überrascht.
Gewärmt und gestärkt mache ich mich später auf den Rückweg nach Zollikon. Dieser führt zunächst über das offene Feld zum Weiler Wangen. Dort tauche ich in das Küsnachter Tobel ein. Und das ist das «Biest», allerdings ein gezähmtes Biest. Dieser stürmische Bach hat sich nämlich viel tiefer in die Molasse hineingefressen als sein lieblicher Nachbar. Unzählige Wehren haben seine Kraft schliesslich gebändigt.
An zahlreichen Picknickplätzen vorbei und über elegant geschwungene Brücklein führt der Pfad nach Küsnacht hinunter. Und ja: An das «Biest» erinnert heute noch die «Drachenhöhle», ein wohl nicht nur für kleine Kinder schauerlich wirkendes Felsloch oberhalb des Weges. Auch die monströsen Findlinge im Tobel sind würdige Mahnmale der gewaltigen Natur.
Schliesslich führt mein Weg über viele Stufen wieder hoch zum Schübelweiher in Itschnach. Dabei schiesst mein Puls kräftig hoch. Das unterstreicht, welch ganze Arbeit das Wasser über die Jahrtausende geleistet hat. Am Tobelrand soll eine Hängebrücke installiert werden. Sie wird die Wanderer eines Tages mühelos über das Tobel surfend zur Küsnachter Allmend führen – falls der Landschaftsschutz mitmacht. Ich freue mich darauf.
Mein Winterwander-Märchen führt weiter entlang des verträumten Schübelweihers zum Rumensee. Beide könnten sich mit ihrer feinen Eisschicht und umrahmt von schneeverzierten Bäumen fast nicht romantischer präsentieren. Wunderbar!
Nach gefühlten zehn Fotos traversiere ich den Wald nach Zollikon zurück, wo die Passage über die Allmend ein weiteres Highlight der Wanderung ist. General Guisan (bzw. sein Denkmal) ist zu beneiden: Der ausladende Blick auf das eingepuppte Dorf mit seinem kecken Kirchturm, den See, die Albiskette und den Alpenkranz ist nur einfach herrlich.
Beim Parkplatz gibt es heisse Marroni und andere Wintersnacks zum Aufwärmen. Dann tauche ich in das letzte «Töbelchen» ein, das mich 10 Minuten weiter unten an der Stadtgrenze wieder ausspuckt. Von dort bin ich bald wieder zuhause – und meine Nachwanderer finden nach wenigen Hundert Metern das Tram beim Balgrist – oder die warme Stube von Eric’s!
Anforderung: 23,5 km, 521 m auf- und abwärts, 6 Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil
Der Zolliker Edwin van der Geest ist ein begeisterter Wanderer. Er beschreibt regelmässig seine Lieblingstouren, die sich insbesondere für gut trainierte Wandersleute eignen.