Landliebe

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Wenn ich im Zollikerberg unterwegs bin, werde ich oft gefragt, weshalb ich meine alte Heimat verlassen habe. Dann werde ich stutzig und kann die Frage nicht gleich beantworten.

Der Zollikerberg und ich – das war immerhin eine über sechzig Jahre alte Liebesgeschichte. Wir hatten unsere diamantene Hochzeit schon hinter uns, als sich unsere Wege trennten.

Es ist wie in allen Beziehungen: nämlich kompliziert. Wer ist schuld? Wer hat die Beziehung aufgegeben? Wer hat wen verlassen?
Im Grunde hat meine Heimat mich verlassen und mich damit gezwungen, mir ein neues Leben einzurichten. Das war nicht einfach. Doch der Reihe nach.

In den 60er-Jahren war der Zollikerberg auf dem Land. Kein Dorf, keine Gemeinde, einfach nur Land. Die neuen Siedlungen hatten sich in das Ackerland hineingeschneist. Sie waren schnell vermietet an Schauspieler, Musiker und Bühnenpersonal vom nahen Opern- und Schauspielhaus. Gut situierte Städter gründeten hier ihre Familien; schnell mussten neue Schulhäuser gebaut werden. Aber in den umliegenden Weilern gab es noch grosse Bauernhöfe mit Milchvieh und Ackerbau. Die Milch kam nicht aus dem Karton, sondern aus dem Milchkesseli. Diese Welt war klein und überschaubar. Abends schloss man die Türen nicht ab. Wozu auch?

So konnte es natürlich nicht bleiben. Nach und nach verwandelte sich der Ort in eine typische Agglomerationsgemeinde. Die Kühe und die Milchkesseli verschwanden und mit ihnen der ländliche Stallgeruch.

In den 70er-Jahren gab es einen Versuch, das verlorene Paradies zurückzuholen.

Ich besuchte damals schon das Gymi und war begeistert von der Stadt. So nahe waren alle Konzertsäle, so kurz der Heimweg nach dem Kulturgenuss. Ich hätte wohl nichts mehr wissen wollen vom Zollikerberg, wäre da nicht der Schafclub gewesen.

Viele Zollikerinnen und Zolliker mögen sich noch an die «Junge Kirche» erinnern, die mit Plattenaufnahmen ihrer Hüttenlieder von sich reden machte. 1974 wurde diese Gruppe rund um den charismatischen Zolliker Pfarrer Jakob Schiltknecht aufgelöst. Es entstanden mehrere Arbeitsgruppen; eine davon war der Schafclub.

40 Mitglieder zwischen 12 und 55 Jahren teilten sich in die Betreuung von rund zwanzig Schafen. Felix Weber, der Bauer in der Unterhueb, stellte den Vereinsmitgliedern Land, einen Stall und sein fachmännisches Wissen zur Verfügung, um uns verstädterten Zollikerberglern das Landleben wieder näher zu bringen. Er zeigte uns, wie wir die Weide hagen mussten, damit die Tiere nicht gleich wieder davonliefen. Die Schafe wurden geschoren und die Wolle im Kirchgemeindehaus und im Keller des Pfarrhauses verarbeitet. Die Frauen, darunter meine Mutter, gründeten eine Spinngruppe und ich spann fleissig mit. Das war eine angenehme Arbeit, weil die fein gekardete Wolle weich in den Fingern lag und sich wie von selbst zu einem Wollfaden drehte. Mein Vater verrichtete die schwere Arbeit auf der Weide und im Stall. Ich war ihm dabei keine grosse Hilfe. Dafür brachte er mir das Traktorfahren bei.

Mit den Jahren verlor der Schafclub viele Mitglieder. Die Arbeit mit den Tieren war streng und nicht jedermanns Sache. Wie in allen Vereinen blieb sie an einigen Unentwegten hängen. Schliesslich wurde der Club aufgelöst.

Es waren gute, identitätsstiftende Jahre, die der Zollikerberg und ich miteinander verbrachten. Sie trugen dazu bei, dass wir noch eine Weile zusammenblieben, als es schon nicht mehr so gut lief mit uns, und sogar das diamantene Jubiläum feiern durften.

In den letzten Jahren veränderte sich der Zollikerberg schnell. Oder veränderte ich mich und passte nicht mehr in diese Beziehung? Schon lange fühlte ich mich hier nicht mehr auf dem Land. Es fühlte sich aber auch nicht an wie in der Stadt. Der Zollikerberg ist gierig geworden; er hat seine Seele verkauft.  Die Geschäfte und Restaurants verlieren ihre Existenzgrundlage, weil es profitabler ist, Wohnungen daraus zu machen. Sogar die Bäckerei sieht keine Zukunft mehr für sich. Der Zollikerberg hat sein Gesicht verloren.

Seit einem Jahr wohne ich im Zürcher Oberland. Letzte Woche hatte ich Besuch von einem Freund aus der alten Heimat. Als ich ihn vom Bahnhof abholte, fuhren wir auf dem Heimweg beim benachbarten Bauernhof vorbei. Ich wollte vor dem Einnachten noch das Milchkesseli füllen. Als ich wieder ins Auto stieg, beschwerte sich der Freund über den Stallgeruch, den ich mit ins Auto brachte.

Ich öffnete das Fenster und lachte zufrieden. Jetzt war ich wieder auf dem Land daheim.

Betti Hildebrandt

Betti Hildebrandt war 40 Jahre lang Lehrerin an der Musikschule Zollikon. Vor einem Jahr ist sie ins Zürcher Oberland ausgewandert und pflegt seitdem ihr Heimweh.  

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Liebe Betti, was für schöne Erinnerungen und was für eine berührende Geschichte aus einer Zeit und von einem Ort, die mir gleichzeitig nah und doch so fern sind! (1974 war ich drei Jahre alt und wohnte im Dorf …)

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