Eine irritierende Wahrnehmung
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10. Januar 2022 – Seit einem Jahr habe ich einen richtigen Job. Unbefristet, in einem grösseren Unternehmen und mit Weihnachtsessen. Ich wohne allein, und meine Wohnung ist – fast – immer sauber. Seit etwas mehr als einem Jahr kann ich sogar Auto fahren. Ich bin erwachsen geworden.
Seit einem Jahr habe ich einen richtigen Job. Unbefristet, in einem grösseren Unternehmen und mit Weihnachtsessen. Ich wohne allein, und meine Wohnung ist – fast – immer sauber. Seit etwas mehr als einem Jahr kann ich sogar Auto fahren. Ich bin erwachsen geworden.
Mit dem Erwachsenenleben kommen mehr Verantwortung, mehr Fixkosten, auch mehr Kosten-Nutzen-Abwägung. Besonders bewusst ist mir das geworden, als mich ein Freund bei einem Bier gefragt hat, wann ich mir das letzte Mal etwas gekauft habe, einfach nur weil es mir Spass gemacht hat.
Ich schluckte leer und dachte nach. Es war Monate her. Zu fest war ich damit beschäftigt, Dinge zu kaufen, die ich brauchte. Dazu kommt, dass das Alleinwohnen nicht gerade günstig ist. Und dann wollte ich doch noch etwas auf die Seite legen.
Ich erinnerte mich an mein jüngeres Ich, das lange in der Schule war, studierte und streng haushalten musste. In dem Moment realisierte ich, dass ich mich überhaupt nicht verändert hatte. Nach wie vor versagte ich es mir, etwas «nur» zu kaufen, weil es mir Freude bereitete. Dabei hatte sich mein jüngeres Ich doch so auf die Lebensphase gefreut, in der ich mich jetzt befinde: ein fester Job mit festem Lohn, der es mir erlauben würde, mir auch mal etwas Schönes zu kaufen. Einfach so, weil es schön ist. Ich fragte mich, ob ich vor lauter Ernsthaftigkeit verlernt hatte, die lustvollen Seiten des Lebens zu pflegen.
Sechs Monate später habe ich darauf immer noch keine Antwort gefunden. Stattdessen betrachte ich meinen wunderschönen Alessi-Plissé-Wasserkocher. Seitdem ich im Februar in meine eigene Wohnung gezogen bin, habe ich mit dem Gedanken gespielt, ihn mir zu kaufen.
Seit ich ihn auf Weihnachten geschenkt bekommen habe, steht er in meiner Küche.
Olivia Eberhardt (geb. 1994) hat 2017 ihr Studium an der ZHAW abgeschlossen und arbeitet nun als Redaktorin beim Online-Stadtmagazin «Züri Today». Sie bezeichnet sich als «Beobachterin mit feinen Antennen und dem Wunsch, die Essenz dieser Beobachtungen mit einem humoristischen Ansatz niederzuschreiben».