Animal Farm 2.0

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16. Januar 2023 – Der alte Oberholzer-Bauer hatte abends im schönen Freilauf-Stall nochmals nach den Kühen geschaut. Müde öffnete er in der Küche eine Flasche Bier und trank genüsslich die ersten Schlucke. Er seufzte bekümmert, als er an das Gespräch beim Abendessen dachte.

Der alte Oberholzer-Bauer hatte abends im schönen Freilauf-Stall nochmals nach den Kühen geschaut. Müde öffnete er in der Küche eine Flasche Bier und trank genüsslich die ersten Schlucke. Er seufzte bekümmert, als er an das Gespräch beim Abendessen dachte.

Sein Sohn, der vor einigen Monaten den Hof übernommen hatte, hatte ihm heute mitgeteilt, dass er und sein Lebenspartner den Betrieb künftig als Gnadenhof führen würden. Der alte Bauer seufzte nochmals. Er hatte vor gut 20 Jahren auf biologische Landwirtschaft umgestellt. Das war ein gutes Stück Arbeit gewesen, und er hatte damals viel Geld investiert. Er war stolz auf die Bio-Knospe, die auf einer Tafel am Hofeingang prangte. Immer noch war er überzeugt von der Idee, den Hof nach biologischen Richtlinien zu führen. Und jetzt sollte dieser Vorzeigebetrieb ein Altersheim für Tiere werden!

Der Bauer seufzte ein drittes Mal, trank die letzten Schlucke aus der Flasche und ging hinauf ins Schlafzimmer.

Sobald aus dem Zimmer kein Licht mehr zu sehen war, begann in den Ställen ein geschäftiges Treiben. Am Abend hatte die Nachricht die Runde gemacht, dass der alte Hund Seppo beim Abendessen etwas Merkwürdiges erfahren hatte. Davon wollte er den anderen Tieren berichten. So war man übereingekommen, sich am späten Abend, wenn man vor dem alten Oberholzer sicher war, auf dem Heuboden zu treffen.

Der Hund Seppo streckte sich und kam aus seinem warmen Versteck unter dem Küchentisch hervor. Die Kühe spazierten über den schönen Hofplatz, die Schweine grunzten, die Hühner gackerten aufgeregt. Zum Glück hatte der alte Bauer vergessen, das Gitter zu ihrem Stall zu schliessen. So platzierten sie sich erwartungsvoll auf den Dachbalken.

Seppo postierte sich ganz vorne auf ein paar Heuballen. Als alle Tiere da waren, bellte er laut und sagte dann: «Heute habe ich beim Abendessen ein merkwürdiges Gespräch gehört. Florian und Kevin, die zwei jungen Leute, die unseren Hof seit einigen Monaten führen, haben dem alten Bauern mitgeteilt, dass sie fortan kein Fleisch mehr essen, keine Milch mehr trinken oder verkaufen werden. Wir Tiere dürfen hierbleiben. Aber arbeiten und produzieren dürfen wir nicht mehr. Die Hühner dürfen keine Eier mehr legen, die Kühe dürfen den Melkroboter nicht mehr benützen. Überhaupt werden alle Tiere nicht mehr gebraucht. Der Hof wird nicht mehr biologisch geführt, sondern zu einem Gnadenhof umfunktioniert.»

Unter den Tieren hörte man ein Raunen. «Gnadenhof? Was ist das? Wie geht das?»

Seppo räusperte sich und blickte ruheheischend in die Runde. «Ihr Lieben, ich weiss nicht genau, wie das alles gehen soll. Die jungen Leute meinen es gut. Sie möchten uns nicht mehr ausnützen und uns ein schönes Leben bieten, auch wenn wir nicht mehr arbeiten und für den Lebensunterhalt der Bauern sorgen. Doch was ist ein schönes Leben? Und was ist ein schöner Tod? Auf dem Gnadenhof werden wir alt und älter werden. Wenn wir nicht mehr gehen können, werden sie uns Räder unter die Pfoten schnallen. Wenn wir nicht mehr essen können, werden sie uns mit Schläuchen ernähren. Wenn wir nicht mehr atmen können, werden sie uns künstlich beatmen. Aber liegt das in der Natur der Sache? Ist das Land, in dem wir leben, so erbarmungslos, dass man uns keinen rechtzeitigen Tod gönnen mag?»

Seppo seufzte. «Viel mehr habe ich euch nicht zu sagen. Aber denkt an meine Worte: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht mit dem Tod umgehen kann.  Und dennoch spielt er sich zum Herrscher über alle Tiere auf. Auf dem Gnadenhof werden wir ein Alter erreichen, dass weit über unsere natürliche Lebenserwartung hinausgeht. Und doch entgeht kein Lebewesen letzten Endes dem Tod. Irgendwann hat es sich für uns alle ausgegackert und ausgebellt! Damit müssen wir leben.»

Die Tiere gingen nachdenklich in ihre Ställe zurück. Wie sollte es jetzt weitergehen mit ihnen?

Betti Hildebrandt

Betti Hildebrandt war 40 Jahre lang Lehrerin an der Musikschule Zollikon. Sie ist ins Zürcher Oberland ausgewandert und pflegt seitdem ihr Heimweh.  

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