Knirsch, quietsch – wir sind drin!
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Thomas Widmer: «Diesmal sind wir in Berschis bei Walenstadt unterwegs, das Dorf birgt etliche Wunder. Umso kurioser kommt mir das Gekarre auf der nahen Autobahn vor: Warum rasen Leute in die Ferne, wo es doch in der Nähe Schönes und Interessantes zu erkunden gibt?»
VON THOMAS WIDMER
Bringt ein Ei mit», habe ich den Leuten in meinem Grüppli zwei Tage zuvor gemailt. Nun fahren wir im Zug nach Walenstadt, steigen um auf den Bus ins nahe Berschis. Wir haben Ostern. Bevor wir im reizenden Dörfli starten, müssen wir den Schlüssel holen, per Telefon habe ich das in der Vorwoche organisiert. Mehr vom Schlüssel und was er öffnet, später.
Wir haben zuvor zwei andere Ziele im Auge. Auf der Cavortschstrasse – die Gegend war einst rätoromanisch, manchem Flurnamen hört man es an – halten wir in Südostrichtung aus dem Dorf. Es geht ein bisschen aufwärts, bald biegen wir ab in den Wiesenweg zu der Lourdesgrotte am Fuss des markanten St. Georgenbergs direkt über uns. Ich lasse auf einer Bank bei der Grotte meinen Rucksack liegen, es wird doch wohl keiner im Angesicht der Gottesmutter klauen. Das Heiligtum entstand 1921. Ein Jahr zuvor hatte in der Gegend eine Viehseuche gewütet, die Tiere von Berschis aber verschont.
Das unheimliche Loch mit der Schlange
Auf der Landeskarte ist der Pfad am Waldrand nördlich unter dem St. Georgenberg nicht eingezeichnet, aber vor Ort gibt es ihn sehr wohl samt Wegweiser zu Beginn bei der Grotte. Wir folgen dem Pfad, bald zeigt sich ein Miniabzweiger zum «Ughüür Brune».
Ein Schild erklärt das unheimliche, in den Fels eingetiefte Loch. Vor etwa 50 Jahren pumpte man das Wasser ab. Man fand Stufen, die wohl römischen Ursprunges sind, die Römer unterhielten auf dem St. Georgenberg eine Station, um den Transitverkehr von Sargans zum Walensee zu überwachen. Im Brunnen soll auch eine Schlange wohnen, die eine Schatztruhe bewacht. Nun, als wir da sind, sehen wir das Untier nicht. Und leider auch nicht die Schatztruhe.
Wir gehen weiter auf dem Pfad, der sich bei Capölla wieder zur Cavortschstrasse senkt. Spitzkehre, jetzt steigen wir auf den St. Georgenberg und lesen dabei die Tafeln, die von archäologischen Grabungen und urgeschichtlichen Siedlungen erzählen. Und von den Römern. Schnell sind wir oben, die Sicht auf das Tal der Seez und die Berge rundum ist grossartig.
Vor allem aber stehen wir jetzt bei dem wunderschönen Kirchlein, das von weither sichtbar ist. Wer schon von Zürich nach Chur reiste, dürfte die St.-Georgs-Kapelle im Kopf haben: eine weisse Gottesburg auf einem Felssporn.
Ich hole den Schlüssel hervor. Ein schwäbisches Wandererpärli merkt grad auf, die wollten auch in die Kirche, fanden die Tür aber verschlossen. Gar nicht einfach, sie zu öffnen, der Trick besteht darin, den Schlüssel nicht zu tief ins Schloss zu stecken. Knirsch, quietsch – wir sind drin! Die Kapelle gilt als die älteste im Kanton St. Gallen, Apsis und Gewölbe stammen wohl aus dem 11. Jahrhundert. Auch hier gibts eine Tafel mit Infos zur verworrenen Baugeschichte.
Summen im Kopfwehloch
Mich interessiert im Kapelleninneren etwas anderes viel mehr. Wieder ist es ein Loch. Diesmal freilich ein gemauertes, sauber viereckiges auf Wadenhöhe. Ich knie nieder, halte meinen Kopf hinein, das geht nur knapp. Die Schwaben flüstern miteinander, die Frau kichert. Nein, ich bin nicht gaga. Es handelt sich um ein Kopfwehloch, eine Einrichtung, die auch von anderswo bekannt ist. Wer Kopfweh hat, den Kopf ins Loch steckt und summt, der oder die ist – heisst es – das Kopfweh gleich los. Nun, mein Problem ist, dass ich kein Kopfweh habe. Da kann ich noch lange summen.
Nachdem wir die rührenden Fresken rundum beschaut haben, komplimentiere ich die Schwaben wieder ins Freie und schliesse ab. Und dann steigen wir auf dem Direktweglein die Waldflanke hinab zur Lourdesgrotte. Ja, mein Rucksack ist noch da! Ich öffne ihn, packe mein Ei und eine Flasche Prosecco aus. Eben, es ist Ostern, jetzt wird angestossen und getüscht.
Die Wanderung ist damit längst nicht fertig. Etwas ernüchtert von meiner Tütsch-Niederlage – die Eierschale ist beim ersten Duell zerbrochen – führe ich mein Grüppli wieder hinab ins Dorf. Retourniere den Schlüssel, bedanke mich mit einem Sprüngli»-Osterhäsli. Und dann geht es ein zweites Mal los.
Der tobende Wasserfall
Berschis liegt unter dem steilen Felsriegel vom Sichelchamm zum Alvier. Dort oben wird der Berschnerbach geboren, das Gefälle verleiht ihm eine erstaunliche Kraft. Im Dorf überqueren wir den Bach auf einem Steg, kommen ins Gebiet Finge, nehmen den Pfad in den Steilhang, steigen, immer in Bachnähe auf, die Felswände beidseits rücken näher.
Es ist eiskalt in der Schlucht, es rauscht und tobt immer lauter – voilà der Berschnerfall, den man vom Dorf aus nicht sieht. 46 Meter hoch ist er, und weil in der Höhe schon Schnee schmilzt, führt er viel Wasser. Wir geniessen den Anblick vom Brücklein unterhalb, können uns nicht sattsehen und -hören.
Auf der anderen Seite des Brückleins steigen wir noch etwas höher zu einer Aussichtsplattform. Als wir danach durch den Wald nach Berschis absteigen, denke ich: Erstaunlich, dass die Leute massenweise auf der Autobahn in den Süden fahren. In Berschis gibt es Schönheit und Wunder. Haltet mal an, haltet mal inne, Leute!
Anreise: Mit dem Zug nach Walenstadt und von dort mit dem Bus nach Berschis
Anforderung: 5,2 km, je 357 Meter aufwärts und abwärts, knapp 2 Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil
Kapellenschlüssel: Die fünf Orte, wo man ihn holen kann (etwas runterblättern)
Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»