«Ich bin Organisator, Coach und Mentor»

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31. Oktober 2023 – Christian Walti ist in Zollikon aufgewachsen. Heute arbeitet er als reformierter Pfarrer im Berner Holligenquartier, dessen Bewohner nicht sehr kirchennah sind. Mit unkonventionellen Methoden versucht er sie für die Kirche zu interessieren.

Talkgast und Death Café-Organisator Christian Walti (Foto: bl)
Talkgast und Death Café-Organisator Christian Walti (Illustration: Willi Spirig)

Ich arbeite vor allem dann, wenn die meisten anderen Leute freihaben: abends und an den Wochenenden. Würde ich mich darauf beschränken von Montag bis Freitag Dienst zu tun, würde ich nur noch Erwerbslose und Pensionierte sehen. Aber ich möchte auch andere Menschen kennenlernen.

Meine Tage beginnen mit dem Ritual, das mir am wichtigsten ist: dem gemeinsamen Morgenessen mit meiner Frau und unseren Kindern, einem vierjährigen Knaben und einem sechsjährigen Mädchen. Wir essen Brot mit Butter und Konfi, also nichts Spezielles, und sitzen auch nicht länger als eine halbe Stunde zusammen. Dann müssen alle los. Aber ich schätze diesen Moment sehr, weil ich – wie gesagt – häufig an den Abenden, aber auch am Samstag und Sonntag unterwegs bin und wenig Zeit für die Familie habe.

Was nicht fehlen darf, ist Kaffee. Ich trinke gut und gern sieben Tassen pro Tag, ausser in der Fastenzeit vor Ostern und Weihnachten. Dann mache ich einen «kalten Entzug» und trinke gar keinen Kaffee. So kann ich wenigstens ein Stück weit spüren, wie abhängig ich bin.

«Allein zu schwitzen, würde mich langweilen»

Ab 9 Uhr nehme ich berufliche Termine wahr. Ausser ich treibe Sport. Ich schwimme sehr gern, im Sommer in einem der Freibäder in der Gegend, oder ich gehe ins Crossfit, einer Kombination verschiedener Disziplinen wie Gymnastik, Rennen und Gewichtheben, die man in der Gruppe betreibt. Allein an einer Maschine zu schwitzen, würde mich langweilen. Den Austausch mit anderen finde ich herausfordernd und lustig.

Um 10 Uhr bin ich dann bereit zum Arbeiten. Das heisst in meinem Fall zahllose Sitzungen, deutlich mehr als Einzelgespräche, und zwar an mindestens vier verschiedenen Orten in der Stadt Bern: in der Friedenskirche, dem Dock 8, einem Restaurant, das wir als Kirche gemeinsam mit anderen sozialen Institutionen betreiben, wo ich auch mein Büro habe, in der Heiliggeistkirche und dem kirchlichen Zentrum Bürenpark und manchmal auch an der Uni. In der Regel bin ich mit dem Fahrrad unterwegs. Wenn richtig viel los ist, komme ich mir vor wie ein Velokurier.

Viele Aktivitäten, die unsere Kirchgemeinde initiiert hat, sind an Gruppen gebunden. Eine Gruppe ist verantwortlich für das Quartierfest, die andere für ein Kinofestival, eine weitere besucht Leute, die einsam sind, die nächste braut Bier. Meine Funktion ist die eines Organisators, Coachs und Mentors. Natürlich bin ich dabei immer auch Seelsorger, bekomme «en passant» viel Vertrauliches und auch Schwieriges mit und versuche mich in die verschiedenen Menschen und ihre Lebenssitutation einzufühlen.

«Nach einer Beerdigung bin ich total erschöpft»

Zwei- bis dreimal pro Monat führe ich durch eine Beerdigung, die meistens am frühen Nachmittag stattfindet. Darauf bereite ich mich sehr kurzfristig vor. Das kann man als schlechte Angewohnheit bezeichnen; mir hilft es, frisch zu bleiben und so direkt, frei und glaubwürdig wie möglich über den Verstorbenen zu sprechen. Ich mache mir nur wenig Notizen, schreibe meine Predigten meistens nicht auf. Das zwingt mich zu grosser Präsenz und Konzentration im Moment der Feier.

Ich muss vor Ort das Zusammenspiel mit den Musikern im Auge behalten und dafür sorgen, dass die Trauernden einen Rahmen vorfinden, in dem sie auch Platz haben für ihre eigenen Gedanken. Nach einer Beerdigung bin ich immer total erschöpft. Dann brauche ich unbedingt einen Kaffee. Am liebsten in einem Café, denn ich bin nicht wahnsinnig gern im Büro.

Ein Café, sei es unser Dock 8 oder ein anderes im Quartier, hat den Vorteil, dass ich auf unkomplizierte Art mit Menschen ins Gespräch komme. Auch dort führe ich ganz viele Seelsorgegespräche, höre zu oder frage nach wie es so geht, spreche mit Menschen über Gott und die Welt.

Der Abend endet oft erst um 22 Uhr

Abends finden oft wieder Gruppenanlässe statt. Das kann ein Konfirmandenunterricht sein, aber auch andere Treffen mit Jugendlichen, die natürlich erst dann Zeit haben. Oder das Death Café, ein Angebot, das ich Menschen mache, die über den Tod reden wollen, Fragen stellen, Erfahrungen austauschen, Ängste thematisieren.

Samstags und sonntags gibt es im Dock 8 oft Veranstaltungen: Karaoke mit Barbetrieb, Konzerte, Publikumsveranstaltungen mit Lesungen oder Podiumsdiskussionen. Kürzlich hatten wir eine Lesung zum Thema Randständigkeit mit dem berühmten Surprise-Journalisten und Philosophen Klaus Petrus. Er las vor und verschiedene Gassenarbeitende und auch ein ehemaliger Obdachloser diskutierten auf dem Podium. Da betätige ich mich als Moderator und Gastgeber.

Etwa um 22 Uhr geht’s auf den Heimweg. Weil ich in der Nähe wohne, bin ich schnell zuhause. Dort unterhalte ich mich mit meiner Frau über den Tag, was wir erlebt haben, wie es den Kindern geht. Diesen Austausch geniesse ich sehr. Um 24 Uhr bin ich im Bett; meine Frau ist ein Nachtmensch und bleibt meistens noch etwas länger auf.

Mittwoch ist mein freier Tag. Dann habe ich mehr Zeit für meinen Sohn und meine Tochter, und abends können wir sogar zusammen essen. Ein schöner Moment, der mir viel bedeutet.» (bl)

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