«Die Kirchen sind nicht mehr gefragt»

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6. Dezember 2023 – Von 2020 bis 2022 hat die katholische Kirche Zollikon-Zumikon 116 von 4335 Mitgliedern verloren, die reformierte Kirche Zollikon 213 von 3773. Worauf führen die Verantwortlichen diesen Aderlass zurück? Sybille Binder und Pascal Marquard geben Antwort. (2 Kommentare)

6. Dezember 2023 – Von 2020 bis 2022 hat die katholische Kirche Zollikon-Zumikon 116 von 4335 Mitgliedern verloren, die reformierte Kirche Zollikon 213 von 3773. Worauf führen die Verantwortlichen diesen Aderlass zurück? Sybille Binder und Pascal Marquard geben Antwort.

Mittwoch, 12.30 Uhr: Katholische Kirche Zollikerberg – geöffnet
Mittwochmittag: Katholische Kirche Zollikerberg – geöffnet; Reformierte Kirche Zollikerberg – geschlossen (Fotos: rs)

Warum wollen so viele Mitglieder nichts mehr von Ihrer Kirche wissen?

Sybille Binder*: Wir diskutieren die Austritte in jeder Kirchenpflegesitzung und stellen fest, dass viele Menschen von den Skandalgeschichten im Umfeld der Kirche genug haben. Kommt dazu, dass sich zunehmend mehr Jugendliche für andere Religionen oder Spiritualität ausserhalb der Kirche interessieren. Sie sind zwar oft gläubig, gehen aber nie in die Kirche und sagen sich dann irgendwann auch, dass sie sich die Kirchensteuer sparen können. Gleichzeitig sehe ich bei Studierenden, dass viele auf der Suche nach Spiritualität sind, aber den Bezug zur Kirche verloren haben, weil sie von einem Kirchenbild geprägt ist, das sie nicht mehr berührt. Das durchaus positiv besetzte Wort «Demut» zum Beispiel ist bei jungen Frauen extrem negativ belastet und wird mit «Demütigung» gleichgesetzt, der Demütigung der Frauen in der Kirchengeschichte.

Pascal Marquard

Pascal Marquard*: Dass wir so viele Austritte zu verzeichnen haben, hängt mit den gesellschaftlichen Megatrends in Europa zusammen. Der Individualismus, die Vereinzelung, steht seit Jahren hoch im Kurs. Normen werden grundsätzlich hinterfragt oder gleich abgelehnt. Der spirituelle Bereich ist Privatsache, da lässt man sich von niemandem etwas sagen. Die Kirchen sind als normgebende Institutionen in moralischen und sittlichen Lebensfragen nicht mehr gefragt. Die gegenwärtige Häufung der Austritte wegen der Missbrauchsstudie ist dagegen eine Anekdote.

Frau Binder, die katholische Kirche ist deutlich stärker von Missbrauchsvorwürfen betroffen. Trotzdem hat die reformierte Kirche doppelt so viele Austritte zu verzeichnen. Wie erklären Sie sich das?

Sybille Binder: Egal, ob es um Missbrauchsvorwürfe oder um den Fall des Schokoladeherstellers Läderach und die Prügelstrafen in einer freikirchlichen Schule geht: in den Augen einer breiten Öffentlichkeit ist es immer «die Kirche», die schuld an solchen Skandalen ist, und das fällt auch auf uns zurück. Was man auch berücksichtigen muss: Viele Reformierte haben eine eher lose Bindung zu ihrer Kirche und sind damit – etwa bei Vorkommnissen wie den oben erwähnten – latent austrittsgefährdet. Die Hürde ist bei den Katholiken auf Grund ihres Kirchenverständnisses höher. Generell leben wir in einer Zeit der Krise grosser Institutionen – man sieht das nicht nur bei den Kirchen, sondern auch bei den politischen Parteien und den Medien. Vielleicht hat die protestantische Kirche, die rationaler ist als die katholische, auch deshalb mehr Austritte, weil die Menschen wieder mehr über ihre Emotionen angesprochen werden möchten, und mehr über eine Spiritualität, die nicht intellektuell vermittelt wird.

Haben Sie den Kontakt zu austretenden Mitgliedern gesucht, um die Gründe zu erfahren?

Sybille Binder: Wir besprechen, mit wem die Pfarrpersonen persönlich Kontakt aufnehmen wollen. Dies führt gemäss den Erfahrungen der letzten Jahre jedoch fast nie dazu, dass die Betroffenen ihren Austritt zurückziehen. Viele lehnen das Angebot eines persönlichen Gesprächs ab.

Pascal Marquard: Alle Personen, die uns zwischen 2020 und 2022 ein Austrittsschreiben sandten, habe ich zu einem Gespräch eingeladen. Ich habe auch angeboten, sie zu Hause zu besuchen. Aber die meisten haben gar nicht darauf reagiert oder mitgeteilt, sie seien an einem Gespräch nicht interessiert. Wenige, die offen waren für eine Begegnung, haben ihr Austrittsschreiben zurückgezogen. Auch wenn ich nicht alles darauf abschieben möchte, so ist sicher zuweilen auch das Geld der wahre Grund für den Austritt: Man kann jährlich doch einige Hundert Franken Steuern sparen und damit in die Ferien gehen oder sich ein Skibillett leisten.

Treten vor allem Jüngere, Ältere, Männer, Frauen, ganze Familien aus?

Sybille Binder: Es sind nach wie vor mehr Männer als Frauen, die diesen Schritt vollziehen, aber es sind alle Gruppen vertreten. Auffällig ist, dass seit kürzerer Zeit auch jüngere Menschen mit Jahrgängen zwischen 1995 und 2000 austreten. Zuweilen sind es auch ganze Familien, die gemeinsam beschliessen, dass sie nicht mehr dabei sein wollen.

Pascal Marquard: Vor dem 12. September, als die Ergebnisse der Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche publiziert wurden, waren es vor allem Babyboomer, die den Austritt gaben. Inzwischen haben wir vereinzelt auch ganze Familienaustritte bekommen und emotionale Briefe von Menschen, die sich nicht vorstellen können, in einer Kirche zu bleiben, in der Missbräuche vertuscht worden sind.

Welche Massnahmen ergreifen Sie, um den Trend zu stoppen?

Sybille Binder: Wir besuchen beispielsweise den Neuzuzüger-Anlass der Gemeinde und versuchen ganz generell, bei Veranstaltungen mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Mit gutem Erfolg: es gibt fast jeden Monat einige Kirchen-Eintritte, das darf man nicht vergessen, aber die Eintritte sind natürlich viel kleiner als die Zahl der Austritte. Mir scheint wichtig, dass die Kirche ein anderes Bild von sich vermittelt und dieses neue Bild dann öffentlich und breit diskutiert wird. Die Kirche muss allgemein wieder mehr das Herz ansprechen und weniger den Intellekt. Ernüchternd ist, dass wir bei allem, was wir tun, den Trend derzeit nicht stoppen können; es treten jeden Monat zwischen 12 und 15 Leute aus unserer Kirche aus.

Pascal Marquard: Die effektive Zahl der Katholiken im Raum Zollikon-Zumikon hat sich in den letzten 30 Jahren dank der Zuzüge nur unmerklich verkleinert. So gesehen haben wir keinen unmittelbaren Handlungsdruck. Was das Missbrauchs-Thema angeht, so haben wir in unserem neuesten Kirchenblatt vom Samstag eine Stellungnahme der Kirchenpflege und des Seelsorgeteams veröffentlicht und geschildert, welche Anstrengungen wir unternehmen, um solche Übergriffe in unserer Gemeinde zu verhindern. Wir wollen zeigen, dass wir unsere Verantwortung wahrnehmen. (rs)

* Sybille Binder ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der reformierten Kirche Zollikon – Zollikerberg. Pascal Marquard ist Seelsorger an der katholischen Kirche Zollikon – Zollikerberg – Zumikon.

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Ich möchte der reformierten Kirche Zollikon – Zollikerberg ein Kränzlein winden: Ihre Jugendarbeit – getragen von motivierten LeiterInnen – ist vorbildlich und sehr nahe an der Welt der Zielgruppe. Alleine dafür lohnt sich die Kirchensteuer. Das Café am Puls trifft weiter einen Nerv im Zollikerberg, die Begegnungszone trägt aktiv zu einem lebenswerten Quartier bei. Danke allen, die sich – oft auch ehrenamtlich – dafür engagieren!

Vielen herzlichen Dank, Herr Dümmler, für diesen schönen, liebevollen und aufstellenden Kommentar. Wir sind von Herzen dankbar für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich so wertvoll, verantwortungsbewusst und zuverlässig engagieren. Denn ohne sie wäre vieles nicht möglich. Auch im Namen aller Freiwilligen und Mitarbeiter:innen vom Café am Puls möchte ich mich bedanken für Ihr wertvolles Feedback. Es freut uns sehr, dass wir mit dem Café am Puls einen so geschätzten Ort für alle Generationen ermöglichen können. Auch dies ist möglich durch den wöchentlichen Einsatz von liebevollen, gastfreundlichen und treuen Freiwilligen.

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