«Aus, Schluss! Keine Vorwürfe, kein Moralin!»

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24. Mai 2022 – Am 2. Juni sind es 20 Jahre her, dass die Schweizer Bevölkerung die Fristenlösung mit 72,2 Prozent Stimmen gutgeheissen hat. Die Zolliker Gynäkologin Susanne Baer erinnert sich an die damalige Zeit und schildert, wie sie heute mit dem einst hochumstrittenen Thema umgeht.

Porträt Susanne Bär, Gynäkologin
Susanne Baer: 40 Jahre Erfahrung mit Schwangerschaftsabbrüchen (Foto: bl)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Susanne Baer, wann sind Sie als Ärztin das erste Mal mit dem Thema Schwangerschaftsabbruch konfrontiert worden?

Das war 1982 während meiner Ausbildung zur Gynäkologin. Ich war in der Frauenklinik am Unispital Zürich angestellt und habe vom ersten Tag an nichts anderes gemacht als Schwangerschaftsabbrüche. Acht Monate lang. Da sind einige hundert zusammengekommen. Verrückt! Aber ich gehörte zur 68er-Generation, und wir sahen eine Abtreibung pragmatisch: Frauen hatten das Recht, über ihren Körper und ihre Zukunft selber zu entscheiden. Aus, Schluss! Keine Vorwürfe, kein Moralin! Ich bin Ärztin und wollte helfen. Dank dieser Erfahrung wusste ich auf jeden Fall, wie man den Eingriff fachgerecht ausführt.

Mit welcher Methode haben Sie damals Schwangerschaftsabbrüche gemacht?

Mit der Absaugmethode, die deutlich schonender ist als eine Curettage, das sogenannte Auskratzen. Ich habe Abbrüche bis zur 12. Woche durchgeführt. War eine Schwangerschaft bereits weiter fortgeschritten, haben die leitenden Ärzte oder sogar die Chefärzte sich dieser Fälle angenommen. Darüber war ich froh. Eingriffe dieser Art, bei denen man es bereits mit weiter entwickelten Föten zu tun hat, sind anspruchsvoll und gefährlicher.

Auf welcher gesetzlichen Basis konnten denn damals überhaupt Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden?

Die einzige Indikation, die seinerzeit einen Abbruch erlaubte, war die sogenannte medizinische Indikation. Das heisst: die Gesundheit der Frau musste stark gefährdet sein. Diese Diagnose mussten zwei Ärzte stellen. In aller Regel war der zweite ein Psychiater, wobei dessen Beitrag je nach Person eine reine Farce war. Aber das störte niemanden. Im Gegenteil, wir Ärzte und Ärztinnen waren froh um diese Kollegen, die mit uns zusammen verzweifelte Frauen aus einer Notlage befreien wollten.       

Wurde das Thema Schwangerschaftsabbruch während Ihrem Medizinstudium in den 70er-Jahren überhaupt je angesprochen?

Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern. Ich kannte immerhin den Zürcher Hausarzt Peter Frei, der ein echter Pionier und damals schon bereit war, Abbrüche durchzuführen. Was für mich ein richtiges Aha-Erlebnis darstellte, war der Film «Cabaret» mit Liza Minnelli …

… der 1972 herauskam …

… und in dem das Thema Abtreibung und die damit verbundenen Konflikte einer Frau erstmals aufgegriffen wurden. Dieser Film ist mir unglaublich eingefahren und bis heute sehr präsent.

Haben Ihre Eltern Themen wie Verhütung, Schwangerschaft, ja, vielleicht auch Abtreibung mit Ihnen besprochen?

Meine Mutter war Hebamme und wuchs im Umfeld der Heilsarmee auf. Entsprechend fromm war sie. Sie war aber keine Frömmlerin. Als ich mit 15, 16 Jahren erstmals mein Interesse an jungen Männern zeigte, gab sie mir Präservative und sagte: «Schütz dich, Susanne!» Da kam die Hebamme, eine praktisch denkende Berufsfrau, zum Vorschein, die mir eine ungewünschte Schwangerschaft ersparen wollte. Ihr Verhalten war besonders fortschrittlich, weil Ende 60er-, anfangs 70er-Jahre nicht nur Abtreibungen total tabu waren, sondern auch das Thema Verhütung.

1992 haben Sie Ihre Gynäkologie-Praxis in Zollikon eröffnet. Wie handhabten Sie dort den Wunsch von Patientinnen nach einem Schwangerschaftsabbruch?

Während der ersten Zeit habe ich Abbrüche in der Praxis durchgeführt. Es kamen allerdings weniger Frauen, die diesen Wunsch äusserten, als am Unispital, wo sich Frauen nicht nur aus dem Grossraum Zürich, sondern aus der ganzen stockkonservativen Innerschweiz und anderen Kantonen meldeten. Nach fünf Jahren aber hatte meine Praxisassistentin, eine katholische Italienerin, die ich sehr geschätzt habe, genug. Sie wollte nicht länger bei Abbrüchen assistieren. Von da an habe ich diese Eingriffe nur noch im Spital Hirslanden durchgeführt, wo ich als Belegärztin tätig war.

Erinnern Sie sich an einzelne Fälle?

Mir sind verschiedene Frauen in Erinnerung geblieben, die ein Jahr nach einem Abbruch bereits wieder schwanger waren und das Kind nun plötzlich behalten wollten. Bei ihnen hatte der Schwangerschaftsabbruch offenbar einen Reflexionsprozess ausgelöst. Was mich geärgert hat, waren Frauen, die dreimal einen Abbruch wünschten. Beim zweiten Mal habe ich mir noch gesagt: Okay, da war meine Beratung in Sachen Verhütung offenbar nicht ausreichend. Aber beim dritten Mal wurde ich stutzig und habe mich gefragt, ob eine solche Frau nicht sehr fahrlässig durchs Leben geht. Aber was wollte ich tun? Letztlich habe ich ihr dann doch geholfen.

Jetzt sind Sie ärztliche Leiterin der Walk-In-Praxis Ladies Permanence am Zürcher Stadelhofen. In welchem Masse sind Sie dort mit Frauen konfrontiert, die einen Abbruch wünschen?

Wir sehen häufig solche Frauen, manchmal mehrere an einem Tag. Das geht schon in Ordnung. Für genau solche Bedürfnisse sind wir als niederschwellige Walk-In-Praxis, die rund ums Jahr geöffnet ist, ja da. Wir beschränken uns allerdings auf Abbrüche bis zum 49. Tag nach der letzten Menstruation, in der Fachsprache: bis Schwangerschaftswoche 7+0. Frauen, deren Schwangerschaft bereits weiter ist, schicken wir ins Spital oder zu anderen Ärzten und Ärztinnen. Frauen unter 16 Jahren überweisen wir zunächst an die Beratungsstelle «Lust und Frust», die mit den Betroffenen vor allem auch Lösungen für die künftige Verhütung und deren Finanzierung sucht. Das muss eine 15-Jährige ja oft auf die Reihe kriegen, ohne ihre Eltern einzuweihen.

Welche Abtreibungs-Methode wenden Sie in der Ladies Permanence an?

Wir verwenden ausschliesslich Medikamente, die zu Kontraktionen der Gebärmutter und dann zu Blutungen führen, mitunter auch verbunden mit starken Schmerzen. Weil die Schwangerschaft sich noch in einem derart frühen Stadium befindet, ist die Behandlung damit in aller Regel abgeschlossen. Es bräuchte eigentlich keine weiteren Konsultationen, wir kontrollieren aber zur Sicherheit nochmals nach zwei Wochen.

Schildern Sie doch einmal die einzelnen Schritte, die vorausgehen!

Nach einem ersten Besuch in unserer Praxis, bei dem ich nach einem Gespräch einen Ultraschall durchführe, um mir über den Stand der Schwangerschaft Klarheit zu verschaffen, lege ich grössten Wert darauf, eine Bedenkfrist von 24 Stunden einzulegen. Wir händigen den Frauen eine Mappe aus, in der sie einen Leitfaden mit wichtigen Adressen, beispielsweise von Beratungsstellen, finden, dazu ein Infoblatt mit allen Angaben zum medikamentösen Abbruch plus eine Einverständniserklärung, die die Betroffenen unterschreiben müssen. Wichtig ist auch, dass wir der Gesundheitsdirektion jeden Schwangerschaftsabbruch für die Statistik melden müssen.

Brauchen Sie eine spezielle Bewilligung, wenn Sie als Praxis Abbrüche durchführen?

Die braucht es tatsächlich. Auch dafür ist die Gesundheitsdirektion verantwortlich, die mir das Papier schon vor etlichen Jahren ausgestellt hat. Immerhin ist der Umgang mit dem Schwangerschaftsabbruch ja immer noch im Strafgesetzbuch geregelt: Artikel 119, Absatz 2. Das ist nicht mehr zeitgemäss bei einem Eingriff, den die Grundversicherung der Krankenkasse bezahlt und der bereits vor 20 Jahren von der überwältigenden Mehrheit der Stimmbevölkerung akzeptiert worden ist.

Was löst das Thema Schwangerschaftsabbruch heute bei Ihnen als Ärztin aus, die sich bereits 40 Jahre damit beschäftigt hat?

Ich merke, dass es mir zusehends Mühe macht, wie unsorgfältig Frauen mit der Verhütung umgehen. Die Pille ist tabu, weil sie dick machen oder Stimmungsschwankungen verursachen könnte. Die Spirale ist auch nicht gut, weil sie mit einem Eingriff verbunden ist. Lieber verlässt man sich auf Kondome, die nun mal nicht ganz sicher sind oder die Zykluskontrolle per App, die nur schon bei einer fiebrigen Grippe unbrauchbare Ergebnisse liefert. Am Ende steht man bei uns in der Praxis und fragt verzweifelt, ob man einen Abbruch bekommen könne. Vielleicht rührt meine leichte Gereiztheit auch bloss daher, dass ich mit meinen knapp 70 Jahren einer Generation angehöre, die seinerzeit extrem glücklich war, als die Pille auf den Markt kam.

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