Aussersihl und Hard – bunt, abwechslungsreich
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Barbara Lukesch und René Staubli: «Die alten Arbeiterquartiere sind zu Multi-Kulti-Vierteln geworden. An einem nebligen, kalten Februartag haben sie uns mit Attraktionen städtebaulicher, kultureller und gastronomischer Art begeistert.»
VON BARBARA LUKESCH (TEXT) UND RENE STAUBLI (FOTOS)
Wenn wir auf einer Städtereise im Ausland sind, ist die Entdeckerlust jeweils riesig, und wir streifen tagelang durch Warschau, Oslo oder Rom. Alles ist neu und interessant, kein Weg zu weit, kein Turm zu hoch, kein Museum zu gross – wir wollen alles sehen und erleben.
Wieder daheim liegt nichts ferner, als die vertraute Umgebung auf ähnliche Art zu erkunden. Kennt man ja eh alles schon. Tatsächlich? Seit uns eine Freundin auf die Stadtwanderungen durch die einzelnen Quartiere Zürichs aufmerksam gemacht hat, sind wir jedes Mal aufs Neue begeistert über all das Unbekannte und Spannende, das wir auf diesen Touren entdecken.
Diesmal waren wir unterwegs in Aussersihl und Hard, einer knapp 7 Kilometer langen Route, für die rund eineinhalb Stunden veranschlagt werden. Wer es etwas gemütlicher nimmt und etwas sehen will, sollte deutlich mehr Zeit einplanen. Wir haben mit allen Pausen und Fotostopps vier Stunden gebraucht.
Der Ausgangspunkt liegt beim Stauffacher, dem Tramknotenpunkt im Kreis 4, direkt vor der Citykirche «Offener St. Jakob». Sie macht ihrem Namen mit Öffnungszeiten von 7 bis 19 Uhr alle Ehre. Das Ende unserer Wanderung erreichen wir beim Stadion Letzigrund in Sichtweite des «Prime Towers». Die Rückfahrt absolvieren wir mit dem 31er Bus, einer Linie, die gern auch als «Schmelztiegel der Nationen» bezeichnet wird, so bunt und divers sind die Fahrgäste.

Dazwischen erleben wir zwei Quartiere, die abwechslungsreicher und temperamentvoller nicht sein könnten. Sie haben für alle Vorlieben und Geschmäcker etwas zu bieten. Nur schon architektonisch ist die Bandbreite riesig.
Ziemlich schnell erreichen wir die Genossenschaft Dreieck, eine Ansammlung von Gebäuden zwischen Anker-, Zweier- und Gartenhofstrasse, teils über 100 Jahre alt, teils neugebaut, aber auf attraktive Art miteinander verbunden. Hier wird nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet, sei es in verschiedenen kleinen Läden oder Werkstätten und Gewerberäumen.

Im weiteren Verlauf können wir mindestens von Ferne einen Blick auf das Kalkbreite-Areal werfen, auch das eine Genossenschaft, die auf über 6000 Quadratmetern urbanen Lebensraum modern, ja, regelrecht visionär gestaltet hat. Einmalig die Tramhalle, auf die man beim Essen im angrenzenden Restaurant «Bebek» einen ungehinderten Blick werfen kann.
Wir kehren nicht ein, sondern gehen über die Eisenbahnbrücke zum Lochergut, wo Zürich hoch hinauswill. Die sieben Hochhäuser bezeichnete die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist, die einst selber dort wohnte, als «Affenfelsen». Der Blick von ganz oben muss atemberaubend sein; die Wohnungen sind jedenfalls heiss begehrt.


Noch höher – bis zu 93 Meter – wird es gegen Schluss unserer Tour in der 1978 fertiggestellten Hardau, wo sich die höchsten Wohnbauten der Schweiz befinden. Das Quartier, einst mit schlechtem Ruf, hat eindeutig gewonnen, seit es ab Mitte der Nullerjahre saniert wurde. Eine neue Sporthalle, das mit viel Glas versehene Schulhaus Albisriederplatz, eine grosse freundliche Bibliothek und der Stadtpark Hardau laden zum Verweilen ein.
Hier fühlt man sich wohl, auch wenn die 15 Meter hohe Skulptur in Form eines gigantischen Ypsilons an eine Steinschleuder erinnert. Dieses Y kann man mit Hilfe langer Gummiseile auch als Schaukel benutzen, doch jetzt scheint eines gerissen zu sein. In einer Kritik zu diesem Kunstobjekt lesen wir: «Der unbescheidene, unzürcherische und fast monumentale Ansatz des Werks beeindruckt.» Das hat was.

Abgesehen von architektonischen und künstlerischen Attraktionen kommen wir auf dieser Wanderung auch an zahlreichen Orten vorbei, die einen tief in die Historie der Stadt entführen. Da ist zum Beispiel das Kanzleischulhaus direkt gegenüber dem Helvetiaplatz, in dem junge Leute in der Folge der Jugendunruhen 1986 ein Quartierzentrum eingerichtet hatten. Die Stadtzürcher Bevölkerung lehnte es dann zweimal knapp ab, diesen Treffpunkt zu erhalten. Was es heute immer noch gibt, sind das Kino Xenix, die zum Club umfunktionierte Turnhalle und der legendäre Flohmarkt, der an schönen Samstagen jeweils Hunderte anzieht.
Noch mehr Geschichte versprechen der Helvetiaplatz selber und das Volkshaus. Einst wurde hier die russische Revolution gefeiert und gegen den Faschismus protestiert, sogar Lenin trat im Volkshaus auf. Noch heute werden auf dem Platz 1. Mai-Kundgebungen abgehalten; viele Demonstrationen nehmen hier ihren Ausgangspunkt.
Um an all diese Ereignisse zu erinnern, wurde 1964 das «Denkmal der Arbeit» eingeweiht, das der Volksmund auch als «Denkmal der unbekannten Handtasche» verspottet. Die Tasche, die die weibliche Figur mit sich trägt, fällt tatsächlich durch ihr gewaltiges Volumen auf.


Das aus dem vorletzten Jahrhundert stammende Kasernenareal ist heute ein frei zugängliches Gelände, das verschiedenen Zwecken dient. So befinden sich dort das Restaurant Zeughaushof, die Kasernenwiese wird als Park genutzt, und mittendrin gibt es einen Labyrinthgarten, der seine volle Wirkung aber erst in der warmen Jahreszeit entfaltet, wenn die Bäume und Büsche Blätter tragen.
Mediengeschichte hat einst das Lokalradio LoRa geschrieben, dessen Gründung auf die Jugendkrawalle 1981 zurückgeht. Seine Studios, in denen noch heute Kultur- und Informationssendungen in rund 20 Sprachen realisiert werden, sind in einem Gebäude in einem Hinterhof an der Militärstrasse 85a untergebracht. Unübersehbar die Anschrift mit einem witzigen, farbenprächtigen Graffiti.

Hinterhöfe wie an der Militärstrasse und Innenhöfe, teilweise riesigen Ausmasses sind etwas, das uns auf dieser Stadtwanderung immer wieder überrascht. Wer hätte gedacht, dass es in Zürich und dann noch mitten in Aussersihl so viele lauschige Plätze gibt, oft liebevoll gepflegt, farbenfroh gestaltet, mit Tischen und Stühlen und voller Pflanzen! Man kann sich gut vorstellen, dass diese vielfältigen Treffpunkte im Frühling und Sommer den Menschen aus über 90 Nationen ein tolles Lebensgefühl vermitteln.

Eine der beeindruckendsten Entdeckungen unserer Tour machten wir kurz nach dem Lochergut entlang der Erismannstrasse. Hier finden sich riesige gemeinnützige Wohnsiedlungen, teilweise über 100 Jahre alt, die jeweils um einen begrünten, oft mit mächtigen Bäumen bestandenen Innenhof angeordnet sind. Darunter der denkmalgeschützte städtische Erismannhof, der 1928 bezugsbereit war, 170 Wohnungen umfasst, davon 129 bescheidene, nur 59 m2 grosse Dreizimmerwohnungen. In dieser Siedlung wird immer noch mit Holz geheizt, weil die Bewohnerschaft bei der Renovation 1990 nichts von einer zentralen Ölheizung wissen wollte.

Eine weitere grüne Oase riesigen Ausmasses ist der Bullingerhof. Es erstaunt uns zusehends, wie viele Grünflächen Aussersihl bietet, ein Quartier, das so viel Beton und Verkehr zu verkraften hat. Erst mit der Eröffnung der Westumfahrung im Jahr 2009 wurden beispielsweise die Bullinger- und die Sihlfeldstrasse in Quartierstrassen umgewandelt. So entstanden schöne Begegnungsorte, zum Beispiel das beliebte Café du Bonheur an der Zypressenstrasse 115.
Last but not least: Eine städtische Grünzone mit wechselhafter Geschichte ist die Bäckeranlage, unter Fans auch «Bäcki» genannt. Das Areal mit grossen Bäumen, vielen Bänken und galoppierenden Bronzepferden grenzt direkt an das gleichnamige Quartierzentrum mit Restaurant und Gartenbeiz. Vor allem an warmen Tagen treffen sich hier Gross und Klein.

Probleme tauchten in den 70er Jahren auf, als sich die Drogenszene zusehends in den Park verschob, konsumiert und gedealt wurde. Kürzlich schien sich diese Entwicklung zu wiederholen, was sofort den Widerstand der Nachbarschaft weckte, darunter viele Familien mit Kindern, die direkt gegenüber der Anlage in die Schule gehen. Inzwischen hat sich die Situation wieder beruhigt.
Als wir an diesem kalten Februartag vorbeikommen, sitzen mehrere Gruppen zusammen, wärmen sich an einem offenen Feuer, essen und trinken etwas und geniessen es offensichtlich, hier einen leicht zugänglichen Begegnungsort zu haben.
Apropos Essen und Trinken: Eingekehrt sind wir am Nachmittag zunächst in der Bar des «Volkshauses», wo wir uns mit feinem Ingwertee und saftigem Schokoladenkuchen gestärkt haben. Ein einladender Ort. Gegen 17 Uhr nötigte uns die Kälte nochmals zu einer Aufwärmpause. Im Grand Café am Lochergut mundete uns der auf frischen Blättern aufgebrühte Pfefferminztee ausgezeichnet.
Den Abschluss dieses schönen Nachmittags machten wir dann im Thai-Restaurant «555+», das zum Hotel Greulich gehört. Um 18.15 Uhr, wenn es in fast jeder Beiz in Zürich noch freie Plätze hat und angenehm ruhig ist, betraten wir dieses spektakuläre Lokal, in dem die Gäste an Tischen mit farbenfrohen Wachstüchern vor rosa oder hellblauen Plastiktellern sitzen – an den Wänden Gummiblumen und schillernden Sporthosen.

Unser hochspeditiver und sehr freundlicher Kellner erklärte uns das Food-Konzept: Man bestelle zwei bis drei Dishes pro Person und teile dann alles. Wir wählten insgesamt vier Gerichte – eine Pouletvorspeise, einen Auberginensalat, ein grünes Curry mit Crevetten und Schweinsspiesse vom Holzkohlengrill. Dazu tranken wir ein Singha-Bier. Es war ein richtiges Yummy-yummy-Essen, das alles bot, was man sich wünschen kann. Vor lauter Hunger haben wir vergessen, es zu fotografieren.
Anforderungen: 6.7 km, 1 Stunde 35 Minuten reine Spazierzeit
Route: PDF von SchweizMobil
Die Leporellos der Zürcher Stadtspaziergänge kann man kostenlos bei www.stadt-zuerich.ch/zufuss oder beim Tiefbauamt der Stadt Zürich bestellen (044 412 50 99) bestellen.