«Bei uns wird niemand stigmatisiert»

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15. April 2025 – Brigit Belser, Schulleiterin im Oescher, steht voll und ganz hinter der integrativen Schule, ungeachtet der Kritik bürgerlicher PolitikerInnen, die einen Leistungsabfall befürchten. Aktuell läuft im Oescher das Pilotprojekt «Lernbox», welches das integrative Modell ergänzt.

Schulleiterin Brigit Belser (Foto: ZN)
Schulleiterin Brigit Belser (Foto: ZN)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Frau Belser, die integrative Schule wird seit einiger Zeit wieder einmal stark kritisiert. Lassen Sie uns zunächst einmal klären, was mit integrativer Schule genau gemeint ist.

Die Volksschule hat den Auftrag der Integration; sie nimmt alle Schüler und Schülerinnen auf, die in ihrem Umfeld wohnen. Egal ob sie verhaltensauffällig oder lernbeeinträchtigt sind, eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung haben oder unter einer Entwicklungsstörung leiden – alle Kinder haben ein Anrecht auf einen Platz in der Volksschule; wir können keines ablehnen. Diesen gesetzlichen Auftrag erfüllen wir seit fast 20 Jahren vom Kindergarten bis in die Oberstufe.

Welche Art von Förderung erhalten solche Kinder?

Zum Einen leisten unsere Klassenlehrpersonen täglich viel Integrationsarbeit. Zum anderen sind die schulischen Heilpädagoginnen für wenige Lektionen pro Woche in den einzelnen Klassen und zwar mehrheitlich während dem Unterricht in den Hauptfächern Deutsch und Mathematik. Das ist nicht viel; schliesslich haben wir Klassen mit bis zu 28 Kindern. Diese Zahl ist Zollikon-spezifisch. In städtischen Quartieren mit einem grösseren Ausländeranteil sind die Klassen deutlich kleiner.

Was machen die Heilpädagoginnen?

Im Grunde genommen sind sie für alle Kinder in einer Klasse da. Aber natürlich richten sie ihr Hauptaugenmerk schon auf jene Kinder, die etwas mehr Förderbedarf haben. Da kann es auch passieren, dass sie ein paar Kinder aus mehreren Parallelklassen zusammennehmen und mit ihnen in einem Gruppenraum gezielt an Mathe- oder Sprachaufgaben arbeiten. Sie sind mit ihrem Fachwissen eine wichtige Unterstützung für die Lehrpersonen.

Darüber hinaus gibt es ja noch Schüler und Schülerinnen, die einen «integrierten Sonderschulstatus» und damit einen besonders hohen Förderbedarf haben. Was verstehen Sie darunter?

Für diese wenigen Schülerinnen und Schüler ist eine angemessene Bildung und Entwicklung mit den regulären Massnahmen nicht gesichert. Deren Beeinträchtigungen sind derart schwerwiegend, dass sie auf Massnahmen der Sonderschulung angewiesen sind.

Trotzdem kommen sie in die Regelklassen?

Genau. Es gibt bei uns keine Separation, ausser in einzelnen 1:1-Settings, während denen eine Fachperson ein einzelnes Kind betreut. Wir legen grossen Wert darauf, dass niemand auf Grund einer Diagnose stigmatisiert wird. Wenn Sie bei uns auf Schulbesuch gehen, werden Sie kaum erkennen, dass ein Knabe oder ein Mädchen diesen Sonderschulstatus hat und mehr Förderung benötigt. Diesen Kindern stehen nochmals zusätzliche Heilpädagogik-Lektionen pro Woche zu.

Was ist mit jenen Kindern, die extreme Verhaltensauffälligkeiten wie fehlende Impulskontrolle oder zerstörerisches Verhalten gegenüber anderen Menschen, aber auch Sachen zeigen?

Das sind die sogenannten «Systemsprenger», bei denen wir tatsächlich an Grenzen kommen.

Was heisst das konkret?

(seufzt) Es ist schwierig. Wir können ja nur die Situation beschreiben im Sinne von «nicht mehr tragbar für die Klasse oder Lehrperson» und müssen in einer solchen Situation den Schulpsychologischen Dienst einschalten, um für alle entlastend wirken zu können. Am Ende tragen die Eltern die Verantwortung für ihre Kinder. Wenn wir uns gemeinsam auf das Kind fokussieren, finden wir in der Regel Lösungen, die die Bedürfnisse des Kindes und vor allem seinen Leidensdruck ins Zentrum stellen. Das kann dann zum Beispiel ein Wechsel in eine externe Sonderschule oder in eine Kleingruppenschule bedeuten. Wenn die Eltern einen anderen Lebensentwurf für ihr Kind haben, was ich zu einem Teil auch verstehen kann, ergeben sich daraus zuweilen lange und belastende Herausforderungen. Aber das passiert selten.

Ein Lehrer aus einer anderen Gemeinde am Zürichsee erzählte mir kürzlich, dass er keinen einzigen Schultag mehr erlebe, an dem nicht noch weitere Fachpersonen, Therapeuten oder Schulassistentinnen im Raum seien. Ist das auch in Zollikon so?

Nicht jeden Tag und nicht in jedem Setting. Für Kinder mit einem hohen Unterstützungsbedarf sind natürlich mehr Mitarbeitende zugegen. Dabei sind die Schulassistenzen eine grosse Hilfe im grossen Rad unserer Schule. Therapien wie Logopädie oder Psychomotorik, aber auch Deutsch als Zweitsprache werden bei uns mehrheitlich in separaten Settings unterrichtet. Auch Begabtenförderung erfolgt bei uns in einer separaten Kleingruppe von in der Regel acht Kindern, um auch diesen Knaben und Mädchen gerecht zu werden.

Was ist der Gewinn des integrativen Modells?

Unser Credo, unsere Überzeugung ist, dass wir als Volksschule allen Menschen – mit oder ohne Beeinträchtigung – nach einer elfjährigen Schulbildung einen Abschluss und damit eine Anschlusslösung ermöglichen wollen. Ich würde mir wünschen, dass wir noch mehr personelle Ressourcen und damit auch mehr Zeit für individuelle Förderung hätten, um diese Aufgabe bestmöglich zu erfüllen.

Wovon profitieren die Kinder in den gemischten Klassen?

Sie stärken ihre soziale und emotionale Kompetenz. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie fürsorglich und empathisch sie mit Gespänli umgehen, die eine gewisse Beeinträchtigung haben. Das sind Erfahrungen fürs Leben, die sie da machen.

Viele Eltern treibt jedoch die Sorge um, dass die integrative Schule das Leistungsprinzip aushöhlt und ihre Kinder schlecht vorbereitet ins Leben schickt.

Die Heterogenität bis zur 6. Klasse ist gross. Aber wir haben auch die kognitiv Stärkeren im Blick, denen wir ebenfalls gezielte Förderung anbieten. Wenn in einer Klasse eine besonders schwierige Situation besteht, kommen alle zu kurz und können nicht adäquat gefördert werden. Aber wir haben inzwischen so viel Erfahrung, Know How und Unterstützung aus dem gesamten Team, dass wir damit zurechtkommen. Dass eine solche Situation Effort und viel Kraft kostet, leugne ich nicht.

Trotzdem bleibt der Widerstand gegen die integrative Schule gross. Gerade kürzlich hat der Zürcher Kantonsrat eine Initiative für Kleinklassen angenommen, in denen verhaltensauffällige Kinder für ein halbes Jahr separat unterrichtet werden sollen. Das ist wieder ein deutlicher Schritt weg von der integrativen Schule. Was sind die Schwierigkeiten, die das Modell immer wieder unter Druck setzen?

Die Herausforderungen an das integrative Modell sind gross. Das stelle ich nicht in Abrede. Als Schulleiterin im Oescher, einer Volksschule mit bald 31 Klassen und 630 Kindern, darunter vier bis fünf pro Klasse mit Förderbedarf, muss ich einräumen, dass wir hier Tage erleben, an denen die Lehrpersonen und die Klassen an ihre Leistungsgrenzen stossen.

Als Folge des integrativen Modells?

Als Folge der Herausforderung, in einer Gemeinde wie Zollikon, wo die Eltern nicht nur eine adäquate Bildung ihrer Kinder wünschen, sondern die optimale, allen Kindern gerecht zu werden. Wir können einen Volkswagen liefern, aber keinen Rolls-Royce, wie es etliche Eltern erwarten. In diesem Spannungsfeld kommen wir an Grenzen.

Was passiert an einem solchen Tag, an dem Lehrkräfte und Klassen nicht mehr können?

Denkbar sind folgende Szenarien: Eine Schülerin verlässt das Schulgelände und läuft einfach weg. Oder ein Schüler, der keine Impulskontrolle hat, gerät in der Pause in einen heftigen Konflikt mit seinen Kollegen. Die anschliessende Streitschlichtung absorbiert die Lehrperson dermassen, dass an geordneten Unterricht in der folgenden Lektion nicht mehr zu denken ist. Oder ein Mädchen geht mit einer Schere auf eine Kameradin los, weil es sich in seiner Not nicht anders zu helfen weiss.

Sie befinden sich im Oescher seit knapp einem Jahr in einem Pilotprojekt, den sogenannten Lerninseln oder «Lernboxen», mit denen Sie das integrative Modell ergänzen. Worum geht es da genau?

Weil wie vermehrt Kinder mit Entwicklungsstörungen wie ADHS, Asperger, aber auch mit anderen Symptomen wie Depressionen, Ängsten und schweren Erschöpfungen in den Klassen haben – oft sind es mehrere pro Klasse – haben wir nach Lösungen gesucht, wie wir diese Kinder adäquat unterrichten können. Unser Vorteil ist, dass wir eine engagierte Mitarbeiterin haben, die sich in diesem Bereich ständig weiterbildet. Wichtige Inputs erhält sie im CAS bei Professor OskarJenny, Entwicklungspädiater im Kinderspital, dem Nachfolger von Remo Largo. Sie teilt ihr Wissen mit ihren Kollegen und Kolleginnen und richtet den speziellen Lernraum ein, den wir «Lernbox» nennen. Dort bieten wir aktuell an jedem Mittwochmorgen vier Lektionen an, während denen sich bis zu acht Kinder zurückziehen, sich entspannen, aber auch an konkreten Projekten weiterarbeiten können.

Wie ist der Anmeldeprozess für einen solchen Platz?

Sehr niederschwellig. Eine Lehrperson kann in der Pause entscheiden, dass sie eine Schülerin für zwei Lektionen hinschickt, vorausgesetzt es hat noch Platz. Vier Plätze sind momentan fest vergeben. Selbstverständlich erfolgt alles in Absprache mit den Eltern.

Besteht damit nicht die Gefahr, dass einzelne doch ausgegrenzt und stigmatisiert werden?

Im Gegenteil. Alle Kinder möchten in die «Lernbox», nachdem sie den Raum zu Beginn des Schuljahrs gemeinsam mit ihrer Lehrperson besichtigt haben.

Lernbox: beliebt bei allen Kindern (Foto: zVg)
Lernbox: beliebt bei allen Kindern (Foto: zVg)

…weil er so hübsch eingerichtet ist?

Genau, aber nicht nur. Der Raum ist auch ein Pädagoge und spricht die Kinder mit seinen Farben, dem vielen Holz, der Struktur bietenden Einrichtung und dem ausgewählten Lernangebot an.

Welche Zwischenbilanz zur «Lernbox» ziehen Sie?

Die Wirkung ist überwältigend. Die ersten Umfragen sind positiv. Es ist eine richtige Erfolgsgeschichte für das Oescher und soll auch als Vorzeigeprojekt für erfolgreiche Integration dienen.

*Brigit Belser, 67, ist seit siebeneinhalb Jahre Schulleiterin im Oescher. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Söhnen, die alle im Oescher in die Schule gegangen sind. Die gelernte Kindergarten-Lehrperson startete ihre Schulkarriere im Elternverein, über den sie in die Schulpflege gewählt wurde, der sie 12 Jahre lang angehörte und für das Ressort Sonderpädagogik zuständig war. Damals wurde sie für die integrative Schule sensibilisiert. Später hat sie die Schulleiterausbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) gemacht. Sie ist Mitglied des Gemeindevereins Forum 5W.

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