«Dann sind die Eltern nicht länger Bittsteller»

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21. Januar 2022 – Die Zolliker Inklusionsfachfrau Özlem Bächli hat selber einen dreissigjährigen Sohn mit Trisomie 21. Sie beurteilt das neue Gesetz, das Behinderten im Kanton Zürich sehr viel mehr Autonomie beim Wohnen einräumt, sowohl fachlich wie auch persönlich.

Özlem Bächli und ihr Sohn Fabian
Özlem Bächli und ihr Sohn Fabian (Foto: zvg)

MIT ÖZLEM BÄCHLI SPRACH BARBARA LUKESCH

Özlem Bächli, was sagen Sie zum neuen Selbstbestimmungsgesetz, das Menschen mit einer Behinderung dank finanzieller Unterstützung ermöglicht, allein oder in einer WG zu wohnen statt ins Wohnheim zu ziehen?

Dieses Gesetz ist in meinen Augen die logische Konsequenz all jener Anstrengungen, die viele Eltern seit Jahren zugunsten von mehr Selbst- und Mitbestimmung der Menschen mit einer Beeinträchtigung unternommen haben. Die Fachleute sprechen ja vom Normalisierungsprinzip, das zugunsten von Betroffenen angewendet werden soll. Darum hat zum Beispiel Pro Infirmis sogenannte Wohnschulen gegründet, in denen Männer und Frauen mit Einschränkungen das eigenständige Wohnen üben können. Mit dem neuen Gesetz wird jetzt diese Wohnform auch finanziell unterstützt und damit vielen überhaupt erst ermöglicht.

Was ist der konkrete Gewinn des Gesetzes für die einzelnen?

Sie können selber bestimmen, wo, wie und mit wem sie zusammenleben möchten. Wollen sie es mal allein probieren oder ziehen sie eine WG mit zwei, drei Kollegen vor, die ihnen sympathisch sind? Dazu können sie mitreden, wenn es um das Ausmass und die Art der Unterstützung geht. Brauchen sie mehr Hilfe im administrativen Bereich, bei der Zubereitung der Mahlzeiten oder der Organisation ihrer Freizeit?

Wie ist es denn im Vergleich dazu in den Heimen?

Heute ist es häufig so, dass die Betroffenen in einem Wohnheim in jenem Zimmer untergebracht werden, in dem es gerade Platz hat. Vorausgegangen ist höchstens ein Gespräch mit ihren künftigen Zimmernachbarn, die dann sagen dürfen, ob ihnen der neue Kollege passt oder nicht. Dazu ist der Verlust an Autonomie ähnlich gross wie in Altersheimen, wo es auch passieren kann, dass die Betreuenden einfach in einem Zimmer hereinschauen, ohne sich vorher bemerkbar zu machen.

Wo sehen Sie am ehesten Schwierigkeiten bei der Umsetzung des neuen Gesetzes?

Eine grosse Herausforderung wird es sein, diese neuen, vielfältigen Wohnformen zu organisieren. Die geplante Fachstelle wird alle Hände voll zu tun haben, um festzulegen, wer wieviel Geld bekommt und nach welchen Kriterien es bemessen wird. Da werden sehr individuelle Entscheide nötig sein: die Frau mit Trisomie 21, die fit ist, braucht weniger Hilfe als der Mann im Rollstuhl, der auch auf körperliche Pflege angewiesen ist.

Und für die Betroffenen selber?

Nehmen Sie einen jungen Menschen, der sehr introvertiert ist. In einem Heim hat er täglich Gesellschaft, sei es beim Essen oder in der Freizeit, unabhängig davon, ob er das schätzt oder nicht. Lebt er jetzt allein, besteht die Gefahr, dass er vereinsamt. Man muss bei ihm also ein spezielles Augenmerk darauf richten, dass er weiterhin regelmässige Kontakte hat. Bei anderen wird man darauf achten müssen, dass sie gesund und regelmässig essen und sich nicht nur mit Süssigkeiten vollstopfen. Roman Burri, den jungen Zolliker mit Trisomie 21, der diese Woche im «Tages-Anzeiger» porträtiert wurde, kenne ich persönlich. Er schilderte ja als eines seiner Probleme, dass er immer wieder mal zu spät zur Arbeit erscheint. Abgesehen davon, dass das uns Nicht-Behinderten auch passieren kann, bräuchte es da sicher einen Spezialeffort, um ihn zu unterstützen, wenn er mal allein wohnt.

Ihr Sohn Fabian ist 30, bekleidet ein 80 Prozent-Pensum als Küchenhilfe in einer Schule in der Stadt Zürich und wohnt mit Ihnen zusammen in Zollikon. Wäre Fabian auch ein Kandidat für das selbständige Wohnen?

(lacht) Ich habe ihn gestern Abend und heute Morgen darauf angesprochen und ihm erzählt, dass Roman Burri, ein guter Kollege von ihm, gern allein wohnen würde. Dazu weiss er auch, dass ein anderer Kollege schon länger allein wohnt und gut damit klarkommt. Dessen ungeachtet findet Fabian, dass ihn diese Diskussion nichts angeht. Er habe es gut daheim, sei gut organisiert und brauche nichts anderes. Das muss ich momentan respektieren.

Würden Sie es Ihrem Sohn zutrauen, allein zu wohnen?

Wenn er ganz allein klarkommen müsste, wäre er überfordert. Dann hätte ich grosse Bedenken. Mit ein, zwei Kollegen kann ich es mir aber vorstellen. Bei ihm müsste man sicher auf die Ernährung achten: wie und was isst er? Wie strukturiert er seine Tage? Kriegt er eine gewisse Regelmässigkeit hin? Bei uns daheim hat er die: er steht morgens auf, frühstückt mit mir, legt seinen Arbeitsweg ohne Hilfe zurück, liebt seine Arbeit, organisiert mit meiner Hilfe seine Freizeitaktivitäten und geht auch abends zu einer vernünftigen Zeit ins Bett. Als er dann allerdings während dem Lockdown tagelang allein zuhause war, weil sein Arbeitsplatz geschlossen war, ich aber arbeiten musste, hat er nichts anderes gemacht als stundenlang fernzusehen – was ihm überhaupt nicht gut bekommen ist.

Sähen Sie andere Situationen, die ihm Mühe machen würden?

Ich befürchte, dass er massiv überfordert wäre, wenn er allein wäre und etwas Aussergewöhnliches passieren würde. Nehmen wir an, er vergisst die Herdplatte, und etwas beginnt zu brennen. Dann wäre jeder Mensch geschockt, aber wir wüssten uns wohl zu helfen. Fabian könnte in Panik geraten. Es sei denn (lacht), er würde daran denken, die Polizei zu holen, auf die er grosse Stücke hält. Er bewundert seine «Freunde und Helfer» über alles. Was man bei ihm auch nicht unterschätzen darf, ist, dass er mitunter zu unerwarteten Reaktionen neigt. Als ich mal an einem Abend weg war, wollte er unbedingt ein Glacé essen, und als er bei uns keines fand, ist er in den Keller gestiegen und hat bei den Nachbarn so lange gesucht, bis er dort auf eines gestossen ist.

Wenn Fabian mit Ihnen zusammenwohnt und sie weiterhin etliches an Betreuungsaufgaben erledigen, hätten auch Sie als Mutter gemäss dem neuen Gesetz ein Recht auf eine gewisse finanzielle Entschädigung. Würden Sie die beanspruchen?

(schweigt lange) Da müsste ich wirklich nachdenken und mich noch vertiefter in die Materie einarbeiten. Fabian ist ja in vielem sehr selbständig und braucht mich nur am Rande. Was mich allerdings immer noch stark einschränkt, ist die Notwendigkeit, im Grunde sieben Tage pro Woche daheim zu bleiben – es sei denn, ich finde jemanden, bei dem er übernachten kann oder der zu uns kommt. Ich könnte mir vorstellen, dass ich die Auslagen für diese Form von Fremdbetreuung in Rechnung stellen würde.

Das neue Gesetz betrifft nicht nur die Menschen mit einer Behinderung und deren Angehörige, sondern auch die Wohnheime. Denkbar, dass bald einmal deutlich weniger Plätze in ihren Häusern beansprucht werden.

Das kann ich mir auch vorstellen, und ich gehe davon aus, dass die Verantwortlichen schon ein bisschen in Sorge sind angesichts von dem, was da auf sie zukommt.  Vielleicht suchen künftig tatsächlich mehr Eltern private Wohnlösungen für ihre Töchter und Söhne statt sie wie bisher automatisch in einem Heim zu platzieren. Unter diesen Bedingungen müssten sich die Heime wohl von der Idee verabschieden, dass die Eltern als Bittsteller antreten, die glücklich sein müssen, überhaupt einen Platz für ihr Kind zu bekommen. Darüber wären die Mütter und Väter natürlich sehr froh. Künftig sind sie Dienstleistungsbezüger, und die Heime müssen sich noch ein paar Gedanken mehr dazu machen, wie sie ihre Kunden und Kundinnen mit attraktiven Angeboten gewinnen. Es geht ja überhaupt nicht darum, sie abzuschaffen. Die Wohnheime erfüllen sehr wichtige Aufgaben. Aber in Zukunft stehen sie in Konkurrenz mit anderen Angeboten und müssen sich bewähren wie zum Beispiel ein Hotel. 

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Eine berechtigte Frage. Es ist in der Tat sehr schwierig, wer über wen entscheidet, wie und in welcher Form. Meiner Meinung oder Erfahrung nach ist es egal, ob Betreuungspersonen in einer Institution, in einer Wohngemeinschaft, in einer Partnerschaft oder Angehörige dies tun. Aus meiner Sicht sind es die Werte und die Grundhaltung solcher Personen, die ausschlaggebend sind. „Angemessen“ bedeutet daher für mich, entsprechend den Möglichkeiten und Fähigkeiten eines Menschen mit einer Beeinträchtigung, für ihn (oder mit ihm) eine bestmögliche, Gewinn und Freude bringende Entscheidung zu treffen.

Vielen lieben Dank für den aufschlussreichen Beitrag. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, geht es darum, den Menschen mit einer Beeinträchtigung angemessene Autonomie zu geben. Die Frage, die mich beschäftigt ist, wer entscheidet, was „angemessene“ Autonomie ist – und auf welcher Grundlage. Ich verstehe meine Fragen nicht als Votum gegen die Vorlage.

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