Das Etelwybli machte sich leider rar

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Thomas Widmer: «Während wir unlängst vom Rhein zur Limmat zogen, traf ich auf einen Gebäudetypus, den ich nicht gekannt hatte: die Mikwe. Auch erfuhren wir von einer Hexe, die an einem einsamen Waldweiher umgehen soll.»

VON THOMAS WIDMER

Es gibt doch dieses berühmte Buch «Fräulein Smillas Gespür für Schnee». Vielleicht könnte man einen Band nachschieben: «Herrn Widmers Gespür für Nebel». Ich verfüge über die sinistre Gabe, mein Wandergrüppli in den Nebel zu führen. Ohne es zu wollen.

Kürzlich ist es mir wieder passiert. Zollikerberg hat Sonne, Zürich hat Sonne, Eglisau hat Sonne. In Mellikon steigen wir aus dem Zug. Nebel.

Grauer Start in Mellikon (Fotos: Thomas Widmer)
Grauer Start in Mellikon (Fotos: Thomas Widmer)

Meine zwei Wandergspänlis und ich ziehen los. Der Plan ist einfach: Unser Startort Mellikon liegt am Rhein. Und Baden, unser Ziel, liegt an der Limmat. Ich liebe Unterfangen, die ein glasklares – um einen Modebegriff zu brauchen – Narrativ haben. Kann man jedem so erzählen, leuchtet jedem ein: «Du, gestern waren wir im Aargau und sind vom Rhein an die Limmat gelaufen.»

Mellikon ist schnell durchquert, es geht aufwärts, wir erreichen ein Bauernhaus mit der Wegweiserangabe «Nackthof». Huch. Wir sehen keine Menschen, also auch keine nackten Menschen. Dass wir nicht hinab ins Seitental zur Linken blicken können, des Nebels wegen, enttäuscht uns noch viel mehr. Dort steht die historische Propstei Wislikofen, eine, wie ich von einer früheren Wanderung weiss, stattliche Anlage, die mittlerweile zur Bildungsstätte mit Hotel umgenutzt ist.

Wir durchqueren einen Wald, steigen ab in eine Senke, erreichen den Etelweiher. Ein einsames Waldgewässer. Der Nebel verleiht ihm einen Zauber – ja, so etwas kann er.

2 Der Etelweiher, ein verträumtes Waldgewässer
Der Etelweiher, ein verträumtes Waldgewässer

Zwei Dinge sind zum Weiher zu sagen. Erstens: Er wurde vor sechs Jahrzehnten gezielt angelegt, damals setzte man Krebse und Fische aus dem Hallwilersee ein, die sich am neuen Ort offenbar wohlfühlten; auch ihre Nachkommen gedeihen hier.

Und zweitens soll beim Weiher eine Hexe hausen. Das Etelwybli. Wir sehen die gute Frau nicht. Ist sie wohl in den Ferien? Oder arbeitet sie Teilzeit und hat grad frei?

Wieder müssen wir im Folgenden steigen, ein Riesenwald ist zu durchqueren. Als wir danach ins freie Gelände kommen, auf ein Plateau, ist der Nebel mehr oder minder weg. Die Sonne scheint, entfaltet allerdings nicht viel Kraft. Zu Füssen haben wir nun das Surbtal, in das hinab wir wollen.

Hochland zwischen Mellikon und Lengnau, es hat aufgehellt
Hochland zwischen Mellikon und Lengnau, es hat aufgehellt

Bald sind wir in Lengnau. Und stossen gleich auf Tafeln eines Themenweges, der uns vom jüdischen Leben im Surbtal erzählt. Seit vier Jahrhunderten leben in Lengnau und im Nachbardorf Endingen Juden. Gegen Ende des Ancien Régime durften sie sich in unserem Land überhaupt nur hier niederlassen. Kein Wunder, haben so viele heutige Jüdinnen und Juden eines der beiden Dörfer als Bürgerort, etwa die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss.

Wir schauen uns zwei Gebäude im Dorfkern von Lengnau an. Zum einen ist das die Mikwe. So nennt man laut dem Schild jene Einrichtung, in der jüdische Frauen sich zum rituellen Bad treffen. Bis 1923 wurde die Mikwe von Lengnau genutzt, zerfiel später, wurde schliesslich als hisorisches Zeugnis restauriert. Durch die Scheiben sehen wir die Wasserbecken im Inneren.

Vormals badeten hier die örtlichen Jüdinnen – die Mikwe in Lengnau
Vormals badeten hier die örtlichen Jüdinnen – die Mikwe in Lengnau

Zum anderen ist da die Synagoge, die ebenfalls verschlossen ist. Sie kommt uns riesig vor. Über dem Eingangsportal prangt ein Spruch in Hebräisch und Deutsch. Eine Bibelstelle, Jesaia 56.7: «Mein Haus wird ein Bethaus genannt für alle Völker.»

Nein, keine Kirche! Das ist eine Synagoge. Die von Lengnau
Nein, keine Kirche! Das ist eine Synagoge. Die von Lengnau
6 Zweisprachige Inschrift über dem Synagogenportal
Zweisprachige Inschrift über dem Synagogenportal

Zeit für eine Pause. Im «Ristorante» bestellt Wanderfreundin Sina bei der Serviererin, die so circa 14-jährig ist, einen Prosecco. Die Serviererin hat keine Ahnung, was das ist. Und überhaupt, warum ist sie so jung? Stellt sich heraus, dass sie der Schnupperstift ist. Der Wirt weiss Bescheid, und so kommt Sina zu ihrem geliebten Prosecco.

Über die Raserstrasse

Zeit, Lengnau zu verlassen und das Nachbardorf anzupeilen. Nach Freienwil geht es ein drittes und letzes Mal aufwärts und in den Wald. Das Hörnli, den höchsten Punkt mit der Antenne, tangieren wir nicht. In Hertenstein überqueren wir einige Zeit später die Raserstrasse von Baden nach Freienwil und erreichen gegenüber im Wald das «Hertenstein-Chänzeli», einen wundervoll platzierten Aussichtspunkt hart an der Kante zum Limmattal.

Auf dem Hertenstein-Chänzeli. Unten die Limmat, die Ennetbaden (links) von Baden trennt. Zur Linken der Lägernkamm
Auf dem Hertenstein-Chänzeli. Die Limmat trennt Ennetbaden (links) von Baden
7 Zufrieden mampft das Limousin-Rind – auf dem Hof zum Jägerhuus in Hertenstein
Zufrieden mampft das Limousin-Rind auf dem Hof zum Jägerhuus in Hertenstein

Zwei Junge haben den Grill angeworfen, die Würste liegen bereit. Weil wir Hunger haben, schauen wir lieber nicht genau hin. Stattdessen geniessen wir das Szenario gegen Süden. Unter uns strömt die Limmat, auf der Ennetbadener Seite säumen sie Rebhalden, auf der Badener Seite sticht uns die riesige neue Badeanlage «Fortyseven» von Mario Botta ins Auge. Im Aussenbecken sehen wir Badekappen aus dem Wasser lugen wie Stecknadelköpfe.

Wir überqueren die Limmat, noch zehn Minuten, dann gibts zu essen
Wir überqueren die Limmat, noch zehn Minuten, dann gibts zu essen

Ein letztes Mal steigen wir ab. Ennetbaden, eine Brücke, Baden. Und dann sind wir auch schon am Ziel. Nein, ich meine nicht den Bahnhof, obwohl der nur eine Gehminute entfernt ist. Sondern das Restaurant Schwyzerhüsli, das so nett ist, auch am Nachmittag die Küche offenzuhalten und warme Speisen zu servieren.

Ich bestelle eine Pouletbrust mit Pommes Frites; sie schmeckt ausgezeichnet. Die anderen zwei des Trios setzen auf Pizza; auch die ist, sagen sie, sehr gut. Und Sina schlürft dazu wieder einen Prosecco.

Die Serviererin hat sofort gewusst, was das ist.

Meine Pouletbrust vom Grill – schön saftig
Meine Pouletbrust vom Grill – schön saftig

Anforderung: 16 km, 554 Meter aufwärts, 513 Meter abwärts. 4 Stunden, 15 Minuten.

Route: PDF von SchweizMobil

Interessante Links:

Jüdischer Kulturweg in Lengnau und Endingen
Ristorante Schmitte
Hofladen
«Schwyzerhüsli»

Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»

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