Das Fräuleinwunder

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Wir hatten es nicht leicht in den letzten Jahren. Zuerst kam Corona. Unser Leben drehte sich plötzlich um Zahlen: Neuinfektionen, Todesfälle, Spitalkapazitäten.  Wir mussten Wörter wie Übersterblichkeit und Durchseuchung in unseren Wortschatz aufnehmen.

Wir hatten es nicht leicht in den letzten Jahren. Zuerst kam Corona. Unser Leben drehte sich plötzlich um Zahlen: Neuinfektionen, Todesfälle, Spitalkapazitäten.  Wir mussten Wörter wie Übersterblichkeit und Durchseuchung in unseren Wortschatz aufnehmen.

In den Medien waren Infektiologen und Epidemiologinnen zu sehen. Alle sagten etwas Anderes. Wir sassen zu Hause und wussten nicht, welchen der vielen Ratschläge wir befolgen sollten.

Dann kam der Krieg. Die Diskussionen verlagerten sich auf dieses Thema, auch hier stellten sofort Experten ihr Fachwissen zur Verfügung und wurden für einen oder zwei Tage berühmt.

Täglich Berichte über so schwierige Themen zu lesen, stumpft ab. An die Übersterblichkeit haben wir uns gewöhnt; der Krieg scheint kein Ende zu nehmen. Wir aber haben ein neues Thema gefunden, das unsere Gemüter erhitzt: Die non-binäre Sprache.

Der Begriff schwappte aus dem englischsprachigen Raum zu uns herüber und wurde in den sozialen Medien kritiklos der deutschen Sprache übergestülpt. Vergessen wurde dabei, dass es im Deutschen – ebenso wie im Lateinischen – schon immer drei verschiedene Geschlechter gab. Wir sind hierzulande gar nicht binär, sondern ternär.

Schweizerdeutsch ist noch ternärer als andere deutsche Idiome. Wir pflegen an viele Begriffe den Diminutiv anzuhängen: Die Gspändli im Kindergarten essen ein Öpfeli zum Znüni, sitzen zusammen im Chreisli und gehen nach Hause, wenn das Elfiglöggli läutet. Im Coop nehmen wir das Poschtiwägeli für unsere Einkäufe. Wir trocknen unser Geschirr mit einem Tüechli.

 In unserem Schulhaus waren die Toiletten für die Kinder mit Buebe und Mäitli angeschrieben. Als Kinder sind sie auch heute noch «das Mädchen». Als Erwachsene wurden sie bis in die 80er-Jahre als Fräulein bezeichnet, solange sie nicht verheiratet waren. Sogar in meinem Maturzeugnis, also nach der Reifeprüfung, wurde ich als Fräulein bezeichnet.

Die Frauen kämpften dafür, dass das Fräulein abgeschafft wurde, sowohl als Anrede wie auch im Restaurant, wo man schon lange nicht mehr «Frölein, zahle!» rufen darf, wenn man die Rechnung möchte.

Wenn meine Mutter über mich sprach, benutzte sie das Pronomen «es», schweizerdeutsch mit einem langen offenen ee. «Ees sött na d Chappe aalegge!» Mit dem ees drückte man aus, dass das Mädchen noch ein Kind war. Nach der Abschaffung des Fräuleins bemühte man sich, für die Mädchen das feminine Pronomen zu gebrauchen.

Jetzt ist das Ees also zurück. Zwar nicht als Fräulein, sondern als non-binäre Person. Es wird diskutiert, wie man über es sprechen soll. Auch hier gibt es wieder Experten. Sie raten zu einem spielerischen Umgang mit der Sprache.

Betti Hildebrandt

Betti Hildebrandt war 40 Jahre lang Lehrerin an der Musikschule Zollikon. Sie ist ins Zürcher Oberland ausgewandert und pflegt seitdem ihr Heimweh.  

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