Der diskrete Pionier
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15. Dezember 2023 – Artur Beuls Tagebücher belegen eindrücklich, wie der 1915 geborene Zolliker Musiker als Homosexueller der gesellschaftlichen, aber auch der kirchlichen Ächtung zu entgehen versuchte.
VON MARKUS MICHAEL*
Wieso lese ich Artur Beuls Tagebücher? Und warum trage ich sie an die Öffentlichkeit? Hauptsächlich, weil sie ein einzigartiges Zeitzeugnis darstellen, zum anderen aber auch wegen einer biographischen Parallele. In den 1960er- und 70er-Jahren in Zürich als Schwuler aufzuwachsen, war nicht schön. Wie muss es erst für Artur Beul gewesen sein, der fast zwei Generationen älter war als ich! Ich habe ihn nur einmal persönlich getroffen, als er seine Frau im Pflegeheim besuchte, wo auch unsere Mutter in Rehabilitation war.
Als mich das IKRK in Simbabwes Hauptstadt Harare geschickt hatte und ich dort ein bisschen unterbeschäftigt war, transkribierte ich die Tagebücher, die mir mein Bruder Adrian übergeben hatte. Wieder zurück in São Paulo, wo ich lebe, analysierte ich sie inhaltlich und verfasste einen Artikel, in dem ich mich vor allem jenem Tagebuch widmete, das Artur Beul «Sex-jours» (Wortspiel mit dem französischen séjour – Aufenthalt) genannt hatte. Es ist das weitaus umfangreichste der drei Hefte. Ich skizzierte dessen Hauptthemen und liess vor allem Beul selbst durch Zitate sprechen.
Auf die deftigsten seiner Äusserungen habe ich verzichtet. Schliesslich war sich Beul selber nicht ganz sicher, ob er stellenweise nicht etwas zu dick aufgetragen hatte. So fragte er sich: «Wie kann man bloss als intelligenter Mensch so etwas zu Papier bringen? Aber ich wollte einmal sehen, was herauskommt, wenn man seinem tierischen Instinkt freien Lauf lässt.» Tja, auch wir sehen es und versuchen, uns einen Reim darauf zu machen.
Zwischen 1959 und 1962, als er so um die 45 war, lebte Beul in Paris. Er beschreibt in diesem Tagebuch auf fast 300 eng beschriebenen Seiten Lokale, Figuren und Szenen, die von einem Bohème-Leben zeugen. Den Anekdoten nach zu urteilen – auch wenn einige vielleicht frei erfunden sind – muss er einen unkonventionellen Bekanntenkreis gehabt haben, darunter viele Künstler.
Befreiende Werke grosser Schriftsteller
Das Tagebuch beginnt mit Betrachtungen über die Literatur und grosse Schriftsteller wie François Mauriac, Henry Miller und Jean Genet, deren Behandlung homoerotischer Themen ihn besonders faszinierten. Wichtig scheint, dass diese Art Literatur Beul sichtlich Halt bietet; wiederholt bezieht er sich auf sie im Tagebuch: «Ich lese die Werke dieser Autoren mit angenehmem Gefühl. Diese Bücher befreien mich…»
In Paris spürt Beul auch einen Wandel in der Art, wie die Jugend Sexualität in ihrer Kleidung zum Ausdruck bringt. Er wird überflutet von Testosteron und erlaubt es sich, diesen Gefühlen mindestens in seinen Notizen freien Lauf zu lassen. Wer weiss, vielleicht ja auch in natura. Titel und Untertitel des Tagebuchs («Pariser Aufzeichnungen für Erwachsene über 16 Jahre. Verbot für Minderjährige!») lassen jedenfalls keinen Zweifel, worum es ihm geht: «Ich denke jetzt nur ausschliesslich an Erotik.»
Geht es mir hier darum, Beul postum als homosexuell zu outen? Nein, auch wenn die Besprechung des Tagebuchs dies unabdingbar macht. Die ethische Frage eines nicht-konsensuellen Outings stellt sich durchaus. Indizien deuten allerdings darauf hin, dass Beul damit rechnete, ja, vielleicht sogar darauf hoffte, dass die Tagebücher eine Leserschaft haben werden. Dafür spricht die Tatsache, dass er sie während Jahrzehnten aufbewahrte und sie dann noch kurz vor seinem Tod verschenkte. Dies im Gegensatz zu seinen «Heimatfilmen» – so nannte er seine homoerotischen Pornovideos –, die er vernichtete.
Darüber hinaus finden sich im Text zahlreiche Hinweise auf eine Leserschaft: «Man urteile darum nicht gleich hart über mich und meine Erzählung», oder: «Darum beende ich meine Unterhaltung und lasse jeden persönlich mit seinen Gedanken und Fragen, seinen Meinungen u. Ansichten.» Oder bezogen auf die Kirche: «Ich hoffe zwar, dass nie solche Kleindenker und solch Festgefahrene diese Blätter lesen werden. Aber auch wenn es so wäre, die Dinge wären alle schon passiert, man könnte mich nur noch postum exkommunizieren. Und das wäre zu spät.»
Wie ich ihn nach der Lektüre seiner intimen Aufzeichnungen einschätze, würde er selber im Paradies wohl über diesen Artikel ein wenig erschrecken und ihn dann schmunzelnd wie seinen letzten Streich zur Kenntnis nehmen.
Paris: Erotik allüberall
Beul denkt und atmet in Paris Erotik, die er überall sieht: «In Formen, Farben, Situationen, in Gerüchen etc. Und darum zeigt sie sich in sehr verschiedener Gestalt u. tritt vielfältig an uns heran.»
Er zieht keine scharfen Grenzen zwischen Erotik und Sex. Eros als «Festgeschenk Gottes» ist allüberall in der Natur. Ganz im Sinne der griechischen Tradition erhebt Beul Eros zu einer mystischen Grösse. Selbst in Jerusalems Kirchen «kniet Eros vor dir und lässt dich nicht ungestört beten». Das grosse Mysterium des Eros geht für Beul immer einer Erfüllung entgegen. Welche Erfüllung allerdings, wisse man nie zum Voraus. «Und darin liegt die Freiheit des Eros, die aus eigenem Gesetz entstammt!» Vielleicht jedoch wusste er oft mehr im Voraus, als er enthüllt.
Das Tagebuch enthält viele voyeuristische Szenen: «Ich kannte jemanden…», und dann folgt eine amüsante Sammlung erotischer und sexueller Kuriositäten vom eher Skurrilen bis zum Romantischen: «Ich kannte auch einen Jungen, dessen grosse Liebe ein junger Mönch war.»
Wollte sich Beul damit outen? Ungewiss, denn andernorts stellt er sich als – wenn auch nicht sehr braven – Heterosexuellen dar, um dann gleich wieder eine Hymne auf die Homoerotik anzustimmen. Manchmal ziert er sich, indem er ein unbestimmtes grammatisches Subjekt wählt: «Ich kann es mir sogar im Bett recht hübsch denken, wenn man etwas Zärtliches neben sich hat» oder «Eigentlich hätte ich ganz gerne etwas Warmes mit ins Bett genommen.»
Zeugnis eines grossen Leidensdruckes
Nach der Lektüre des Tagebuchs wird die Vorstellung, Beul sei ein direkt aus einem seiner Lieder entsprungener Hetero, schwer haltbar. Wo genau auf dem Spektrum der sexuellen Orientierung er sich selber platzierte, ob er sich eher als schwul oder bisexuell bezeichnet hätte, ist sekundär, vor allem weil es heutzutage kaum mehr eine Rolle spielen würde. Ich möchte mehr darauf hinweisen, dass das Tagebuch von einem enormen Leidensdruck zeugt, den seine homosexuelle Veranlagung – wie wichtig sie immer war – in seinen jüngeren Jahren verursacht haben muss.
Der Katholik aus Einsiedeln löst sich nicht von Gott: «Doch glaube ich auch, dass hinter dem mystischen Sexualismus auch ein Gott steht und auf seine Menschen-Kinder wartet, die ihn vielleicht nicht erwarten! Warten wir ab.» Nach der Lektüre von Mauriac, dem katholischen Moralisten, mahnt er: «Wenn man ‹ein Bekenntnis› vom französischen Schriftsteller François Mauriac liest, wird man etwas weitsichtiger und beginnt vielleicht langsam zu denken. Ich wünsche, jeder Christ würde dieses kleine Buch lesen können, um nachher ein besserer, ehrlicher Christ zu sein!» Immer wieder verteidigt Beul den Eros als einen integralen Teil von Gottes Schöpfung.
Gleichzeitig hadert er mit der Kirche, hauptsächlich weil sie Erotik verdammt, speziell die homosexuelle: «Zwecklose Lust ist genauso berechtigt im erotischen Leben der Menschen wie zweckbestimmte Lust. Wie würde dann gleichgeschlechtliche Erotik Anerkennung finden können?… Ich kenne die christliche Auslegung, speziell die katholische, die an Intoleranz nicht mehr zu überbieten ist.»
Auch wettert er gegen den Abt, der eine Statue des heiligen Sebastian aus der Kirche Einsiedeln entfernen liess: «Und dann wirkt sogar ein hölzerner St. Sebastian aufregend, wenn er fleischfarbig angemalt ist.» Ohne sich ganz von kirchlichen und moralischen Vorschriften zu lösen, ist er Advokat für freiere Liebe, insbesondere freie homosexuelle Liebe: «Das Tier steckt in uns allen!»
Kampf gegen die Unterdrückung
Im Aufbegehren gegen die herrschende Moral und die kirchliche Hypokrisie ergiesst sich Beul in seitenweisen Tiraden: «Warum legt sich die Menschheit solche Fesseln an, die in unserem Sonnensystem gar nicht enthalten sind? Und darum fickt der Grossteil der Menschen illegal u. verdiente dafür eine Strafe. Viele kriegen sie, weil sie überführt werden können. Die meisten kommen ohne Strafe davon. Und so ficken sie illegal, ihrem Urtrieb entsprechend. Aber die Wächter der Moral schreiben dauernd neue Gesetze, die das Ficken erschweren.»
Er kämpft als Eros-Ritter gegen Unterdrückung von offizieller Seite: «Ewige Urkraft von Erotik, wie vielgestalt erweist du dich. Und soviele Menschen schämen sich deiner, verleugnen Dich, unterdrücken Dich, als ob du etwas schlechtes, unanständiges wärest.»
In seinem persönlichen Kampf jedoch, und wir gratulieren ihm dazu, scheint er eine innere Befreiung erlangt zu haben: «Seit ich jenseits von Gut u. Böse lebe muss ich lachen über diese Gesetze, die die Menschheit tyrannisieren u. unglücklich machen.» Was Beul mit «jenseits von Gut und Böse» meint, ist ersichtlich aus eindeutigen Passagen aus einem anderen wesentlich kürzeren Tagebuch aus der Zeit in Paris und Cannes Anfang 1964, in denen er sich seiner homosexuellen Eroberungen in sehr expliziter Form rühmt.
Nicht tugendhaft, sondern vorsichtig
Beul handelt in seinen Umschreibungen homosexueller Handlungen im Tagebuch nicht tugendhaft, sondern vorsichtig. Während ein Coming-out in seinem persönlichen Umfeld – wer weiss, vielleicht hat ein solches dort ja auch stattgefunden – wohl keinen Skandal ausgelöst hätte, hätte es wohl seiner Karriere als populärem Musiker und Komponist sehr geschadet oder ihr gar ein Ende gesetzt. Ebenso schwer wiegen die Gesetze, die in Deutschland, Frankreich und der Schweiz die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen unter erwachsenen Männern erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach und nach abgeschafft haben.
So dienen auch die wenig überzeugenden heterosexuellen Szenen in den Tagebüchern wohl eher als Camouflage. Alles in Allem ein durchaus rationales Handeln, das als Selbstschutz vor den überwältigenden Trieben dient: «Erotik muss man überlegt geniessen, sonst gewinnt sie die Herrschaft über uns. Und die Gesetze sind nicht umsonst geschrieben worden.»
Trotzdem trägt er dermassen dick auf, seitenweise, nie ermüdend sich zu repetieren, dass der Verdacht aufkommt, er rühmt sich seiner Taten: Schaut mal, was ich alles gewagt habe! Und ich habe mich nicht erwischen lassen! Und selbst mit diesem Tagebuch kriegt ihr mich nicht!
Das Ende der offiziellen staatlichen Homophobie in Westeuropa kam gegen Ende des Jahrhunderts schnell und fast unerwartet – und für Beul zu spät. Wir können deshalb sein Tagebuch verstehen als Zeugnis einer nicht-so-fernen finsteren Zeit, die die jüngere Generation daran erinnern kann, diesbezügliche Errungenschaften nicht einfach als selbstverständlich hinzunehmen.
Man denke an das nicht-so-ferne Russland, wo Homophobie von Staat und Kirche noch heute propagiert und gefördert wird. Beul dazu: «Glücklich macht nur die Freiheit, die bewusste Freiheit. Und die kann erreicht werden, wenn man geistig gesetzliche Vergewaltigungen überbaut, sie umwandelt, diminuiert, oder gar vernichtet in seinem Innern. Es braucht dazu natürlich eine starke innere Persönlichkeit, die auch Konsequenzen auf sich nehmen will, wenn es sein muss.»
Zeugen eines inneren Ringens
So können wir Beul als diskreten Pionier verstehen, der sich freikämpfte gegen innere und äussere Zensur, soweit es ihm möglich war in seiner Zeit und in seiner Stellung, und die Tagebücher als Zeugen seines inneren Ringens.
Beul war ein grosser Künstler und Lebenskünstler, ein herzlicher Freund und Gefährte für seine Umgebung, und weit unkonventioneller als man aus seinen Liedertexten schliessen könnte. Er träumte im Tagebuch: «Dass aber auch die Ansichten je nach Land wechseln findet man, so man sucht, vielleicht sogar ein Land, wo mein illegales Ficken legal sein kann.»
Ja, Artur Beul, wärest du damals in die Zukunft transportiert worden, hättest du dieses gelobte Land leicht gefunden: hier.
*Markus Michael lebt in Brasilien. Bis zu seiner kürzlichen Pensionierung war er international tätiger Berater für öffentliche Gesundheit im Krieg. Sein Bruder Adrian Michael – langjähriger Zolliker Primarlehrer – hat ihn im März 2023 in den «ZollikerNews» porträtiert: Eine Oase im «Armenhaus» Brasiliens.