Der liebestrunkene Premierminister
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Balz Spörri: «Der Sommer des Jahres 1914 ist ungewöhnlich warm, in London amüsieren sich die Menschen. Doch am Horizont ziehen dunkle Wolken auf. Am 28. Juni wird in Sarajevo der österreichisch-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, ermordet (…)
VON BALZ SPÖRRI
Der Sommer des Jahres 1914 ist ungewöhnlich warm, in London amüsieren sich die Menschen. Doch am Horizont ziehen dunkle Wolken auf. Am 28. Juni wird in Sarajevo der österreichisch-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, ermordet. Wenige Wochen später taumelt Europa in den Ersten Weltkrieg.
Der englische Premierminister Herbert Henry Asquith (1852-1928) bleibt zunächst gelassen. Er glaubt, dass er Grossbritannien aus dem Konflikt heraushalten kann. Die meiste Zeit ist er mit seinen Gedanken ohnehin woanders: Wie besessen schreibt er Liebesbriefe an Venetia Stanley, manchmal mehrere am gleichen Tag. Venetia ist 26-jährig, aus gutem Hause, unbekümmert und zugewandt. Asquith selbst ist mehr als doppelt so alt, verheiratet und mehrfacher Vater.
Kurz bevor im August 1914 auch Grossbritannien in den Krieg hineingezogen wird, schreibt er ihr: «Gestern Nacht im Bett habe ich überschlagen, dass ich Dir seit Dezember grob geschätzt 170 Briefe geschrieben habe. Niemals zuvor habe ich irgendeinem menschlichen Wesen auch nur annähernd so viel von dem enthüllt, was zu meinem geheimsten Inneren gehört. Ich lege Dir 2 oder 3 kleine Auszüge aus den ausländischen Telegrammen bei, weil das nicht in den Zeitungen stand.»
Wenn Venetia in London weilt, fährt Asquiths Chauffeur die beiden aus, manchmal durch die Strassen der Stadt, manchmal über Land. Im Fond des Wagens, geschützt von heruntergelassenen Jalousien, schüttet Asquith der jungen Begleiterin sein Herz aus, schildert ihr die militärische Lage. Er zeigt ihr hochgeheime Telegramme, zerreisst sie und wirft sie während der Fahrt übermütig aus dem Fenster.
Spaziergänger finden die Schnipsel und bringen sie auf den Polizeiposten. Paul Deemer, ein junger Detektiv, wird beauftragt herauszufinden, wer hinter diesem Geheimnisverrat steht.
So beginnt der Plot von «Abgrund», dem neuen Roman von Robert Harris. Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit: Die Affäre zwischen Asquith und Venetia Stanley gab es wirklich. 560 Briefe des liebestrunkenen Premiers sind erhalten geblieben. Historiker haben daraus wichtige Erkenntnisse über die britische Politik gewonnen.
Robert Harris ist ein Meister darin, historische Fakten und Fiktion miteinander zu verweben. Berühmt gemacht haben ihn der Roman «Vaterland» und eine Trilogie um die Lebensgeschichte des römischen Philosophen und Politikers Cicero («Imperium», «Titan», «Dictator»). Gerade läuft in den Kinos «Conclave», ein Film über eine fiktive Papstwahl, der ebenfalls auf einem Roman von Harris beruht.
«Abgrund» ist eine süffige Mischung aus historischem Politthriller, Liebesgeschichte und einem Sittenbild der englischen Aristokratie. Wie sich die Affäre zwischen Premier Asquith und Venetia Stanley aber weiterentwickelt, soll hier nicht verraten werden.
Robert Harris, Abgrund, 510 Seiten (Heyne), ca. 25 Euro