«Die Kundschaft ist woanders»
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9. April 2025 – Wir vergleichen 6 zentrale Überlegungen des Siedlungsberaters Florian Inneman von «EspaceSuisse» und des «Hochparterre»-Redaktors Joris Jehle mit der aktuellen Situation in Zollikon. Standortnachteile und die veränderten Einkaufsgewohnheiten wirken sich ungünstig aus.


VON BARBARA LUKESCH UND RENE STAUBLI
Unter dem Titel «Dem Ortskern neues Leben einhauchen» haben gestern Roland Keinath (Innendekoration), Ellen Hausammann (Bäckerei/Café), Aaron Ruckstuhl (BioHuus) und Nicole Stoltenburg (Chäsbueb) Ideen entwickelt, wie man das Dorfzentrum und die Alte Landstrasse attraktiver gestalten könnte.
Heute präsentieren wir sechs zentrale Gedanken der beiden Experten Florian Inneman und Joris Jehle, die sich beruflich mit dem Thema Ortskernentwicklung befassen. Und vergleichen sie mit der Zolliker Realität.
1 – das kompakte Dorf
Experten: «Im historischen Dorf war alles auf engem Raum gemischt – Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Freizeit. Die Wege waren kurz.»
Zolliker Realität: Viele Gemeinden haben einen wichtigen Teil ihres öffentliches Leben rings um ihre Bahnhöfe entwickelt. Man findet überall die typischen Bahnhofstrassen mit Läden und viel Laufkundschaft (wie beispielsweise in Küsnacht). In Zollikon war dieses harmonische Wachstum aus topografischen Gründen nicht möglich, denn der Bahnhof steht weitab vom Zentrum im Niemandsland. Unsere Gemeinde ist auch nicht harmonisch von innen nach aussen gewachsen. Sie bestand ursprünglich aus den fünf separaten Siedlungskernen Chleidorf, Oberdorf, Hinterdorf, Chirchhof und Gstad, die sich erst mit der Zeit näherkamen. Der Zollikerberg als weiteres «Zentrum» war schon immer «ab der Welt», wovon die eigene Postleitzahl zeugt. Das waren keine idealen Voraussetzungen für die Entwicklung eines stabilen, belebten Ortskerns.
2 – die Entfernungen
Experten: «Seit 1940 wurden die Dörfer zu wenig dicht und deshalb zu weit weg vom Zentrum weitergebaut – alles in Abhängigkeit vom Auto. Heute können die meisten Menschen nicht mehr zu Fuss oder mit dem Velo im Ortszentrum einkaufen. In den Shoppingzentren, die auf die grüne Wiese gestellt wurden, ist die Auswahl grösser als in den Dorfläden, und wenn man sowieso das Auto benützen muss, kann man dort bequem für die ganze Woche einkaufen. Das ‹Lädelisterben› in den Dörfern ist eine Folge davon.»
Zolliker Realität: Als Folge der Zersiedelung sind fast alle Einwohnerinnen und Einwohner fürs Einkaufen auf das Auto angewiesen, und sie können auswählen, wo sie ihre Besorgungen erledigen – im Dorf, in Küsnacht, in Zumikon oder in der Stadt Zürich, auch noch schnell nach der Arbeit. Die Situation der Zolliker Ladenbetreiber ist mehrfach schwierig. Es gibt im Dorfzentrum praktisch kein sichtbares ansässiges Leben und deshalb auch wenig ständige Laufkundschaft.
3 – der Strukturwandel
Experten: «Das Dorfzentrum ist da, aber es wird nicht mehr genutzt. Die Kundschaft ist je länger je mehr woanders, im Netz. Dieser Strukturwandel ist kaum aufzuhalten, geschweige denn umzudrehen.»
Zolliker Realität: Seit Corona sind die Kartonberge an den Zolliker Strassenrändern noch grösser geworden. Inzwischen fallen rund 120 Tonnen pro Jahr an, die Abfuhr kommt jetzt jährlich zwölfmal statt wie bisher sechsmal, um die leeren Schachteln abzuholen. Der zunehmende Online-Einkauf hat direkte Auswirkungen auf die noch bestehenden Läden im Dorfzentrum. Dass wir keine Papeterie mehr haben wie früher, kein TV- und Radiogeschäft, kein «Wullelädeli» und keinen Kleiderladen, keinen Comestible und keinen Schuhmacher ist eine direkte Folge der veränderten Konsumgewohnheiten.
4 – die Aufenthaltsqualität
Experten: «Die Ortszentren können wir nur retten, wenn wir mehr Aufenthaltsqualität schaffen, auch mittels Umgestaltung der Strassen, wodurch die Leute länger bleiben und mehr Geld ausgeben. Gewerbetreibende befürchten oft, dass ihr Umsatz einbricht, wenn Parkplätze entfernt werden, aber diverse Studien beweisen das Gegenteil: Wenn Verkehr und Parkierung reduziert werden, steigen die Umsätze.»
Zolliker Realität: Mit dieser These sind die Zolliker Ladenbetreiber nicht einverstanden. Für sie stellen Parkplätze direkt vor den Geschäften eine Notwendigkeit dar. Der «Aufenthaltsqualität» dient das nicht (siehe Foto oben). Viele Kunden halten an den unmöglichsten Orten «nur schnell an», um etwas zu kaufen und wieder loszufahren. Der Weg in die Parkgarage ist fast schon eine Zumutung. Auch der Dorfplatz verströmt – ausser am Samstag – wenig «Aufenthaltsqualität». Wie lange soll das noch so bleiben? Hier könnte man doch etwas verbessern.
5 – Begegnungen
Experten: «Im Dorfzentrum geht es aber nicht nur um ein reines Festhalten am Einkauf, sondern um Begegnung im generellen Sinn. Hierzu gehört eine ganze Palette an Angeboten: Dienstleister, Kultur, Ärzte, Ämter oder Kirchen. Gastronomie und Events sind eine Ergänzung zum Einkauf, aber kein Allerheilmittel. Wenn der Ortskern zur Festhütte verkommt, treten neue Probleme auf, die dem Wohnen nicht zuträglich sind. Mit dem Wohnen steht zumindest ökonomisch eine Nutzung bereit, welche die Ortskerne stabilisiert.»
Zolliker Realität: «Wohnen im Ortskern» als «ökonomische Basis» und als «stabilisierendes Element»? Wie viele Familien mit Kindern gniessen in Zollikon dieses Privileg? Und von denen, die in Gehdistanz wohnen: warum kommen sie unter der Woche nicht ins Zentrum? Unserem Ortskern fehlt es an Leben und Attraktivität; in den Ferien wirkt er vollends ausgestorben. Ein Ladenbesitzer verriet uns, er habe vor vielen Jahren im Ladenlokal des «Rössli» eine Bar einrichten wollen. Zolliker Pendler hätten nach der Arbeit im nahen Parkhaus das Auto abstellen und sich am Tresen mit andern Menschen treffen und austauschen können. Der Plan sei an den Besitzern des «Rössli» gescheitert – «die hatten Angst vor Ruhestörungen». Ist es das, was wir in Zollikon weiterhin wollen: unsere Ruhe?
6 – die neue Gemütlichkeit
Experten: «Die gefühlvolle Renovation der Häuser ist ein wichtiger Schritt gegen den Niedergang. Wenn die Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser dann auch draussen in den Gassen den Raum nutzen und ihn mit Leben füllen, kann ein Ortskern eine neue Gemütlichkeit ausstrahlen. Bei der neuen Ausrichtung der Ortskerne spielen neben der Öffentlichkeit deshalb vor allem die Liegenschaftseigentümer eine zentrale Rolle.»
Zolliker Realität: Wenn wir unseren Ortskern anschauen, so kommen wir zu folgendem Schluss: Wir haben ein wunderschönes Zentrum rund um das «Rössli» mit sorgsam renovierten Riegelbauten, nur leider ohne Läden für den täglichen Einkauf. Unsere wichtigste Geschäftsader, die Alte Landstrasse, ist unansehnlich und wird vom Verkehr dominiert, es macht keinen Spass, dort zu Fuss unterwegs zu sein. Der Dorfplatz «funktioniert» nur am Samstag, wenn Markt ist, und auf dem Beugi-Areal bröckelt seit Jahren das ehemalige Altersheim vor sich hin. Man könnte am einen oder anderen Ort etwas tun, ohne gleich an den ganz grossen Wurf zu denken. Wann packen wir es endlich an?
Teil 3: Lesen Sie am Freitag einen Bericht zum Dialogabend des Gemeinderats zu den Themen «Situation und Ausblick Öffentlicher Verkehr» und «Begegnungsort Dorfplatz/Alte Landstrasse».
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