Die Offenlegung des gesamten Lebens
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21. November 2024 – Stephan Jaggi, Leiter des Sozialdiensts, ist zuständig für die operative Durchführung der Sozialhilfe in Zollikon. Nach 18 Jahren im Amt weiss er, was Menschen in schwierige Lebenslagen bringt, und wieviel Schuld- und Schamgefühle die finanzielle Not bei ihnen auslöst.
INTERVIEW: BARBARA LUKESCH
Stephan Jaggi, unsere Gemeinde hat 13’500 EinwohnerInnen. Wie viele Menschen beziehen Sozialhilfe?
Im Jahr 2023 waren es 169 Personen, darunter 37 Kinder. Das ergibt eine Sozialhilfequote von lediglich 1,24 Prozent, was sehr tief ist. Im Vergleich dazu beträgt diese Quote im Kanton Zürich 2,8 Prozent.
Wie erklären Sie sich diesen tiefen Anteil in Zollikon?
Ein wichtiger Grund ist sicher, dass der Anteil von Zuzügern mit Sozialhilfe relativ klein ausfällt, weil nur beschränkt bezahlbarer Wohnraum in Zollikon zur Verfügung steht.
Das heisst, über die hohen Mieten zieht die Gemeinde in erster Linie wohlhabende Menschen an, bei denen die Gefahr klein ist, dass sie eines Tages Sozialhilfe beantragen werden?
Sagen wir es so: In einer Gemeinde wie Zollikon, in der günstige Wohnungen nicht zuhauf vorhanden sind, werden Menschen, deren materielle Existenz sich am unteren Rand befindet, per se ein Problem haben, eine Wohnung zu finden.
Die ziehen dann nach Zürich-Seebach oder Affoltern, wo es für sie erschwingliche Wohnungen gibt?
Davon gehe ich aus. Aber auch in Zollikon leben Menschen mit tiefen Einkommen, die mit Sozialhilfe unterstützt werden müssen. Insofern gibt es auch bei uns eine entsprechende – meiner Meinung nach – wichtige soziale Durchmischung.
Wie lösen Sie für die SozialbezügerInnen dann das Problem mit den wirklich hohen Mieten in Zollikon?
Die Sozialhilfe zahlt Beiträge an die Mieten, die sich im ortsüblichen Rahmen bewegen. Das heisst, dass diese Beiträge regional flexibel sind und sich an den ortsüblichen Mieten orientieren. Abgesehen davon gibt es auch in Zollikon bezahlbare Wohnungen, vor allem in älteren und alten Liegenschaften, die sich auch Menschen leisten können, die Sozialhilfe beziehen.
Wer erhält in Zollikon und im Zollikerberg Sozialhilfe?
Rund 60 Prozent der Personen, die Sozialhilfe beziehen, sind alleinstehende Personen. Einpersonenhaushalte stellen insofern ein grösseres Risiko dar, als dass eine zweite Person fehlt, die auch noch über ein Einkommen verfügt und damit die finanziellen Lasten mittragen kann. Eine weitere grosse Gruppe von armutsbetroffenen Menschen, die Sozialhilfe benötigen, sind alleinerziehende Personen, Mütter und Väter mit ein, zwei, auch drei Kindern. Sie stellen 30 Prozent aller SozialhilfebezügerInnen, darunter die bereits erwähnten 37 Kinder.
Schildern Sie uns doch etwas konkreter, welche Lebensumstände Männer und Frauen zum Beantragen von Sozialhilfe veranlassen können?
Das kann die Unternehmerin sein, die konkurs gegangen ist oder der Arbeitnehmer, der nun ausgesteuert ist, die alleinerziehende Mutter, deren Ex-Partner sich weigert oder nicht in der Lage ist, Unterhaltszahlungen zu leisten, eine Person, die schwer erkrankt ist und der es an Abfederung durch die Sozialversicherungen fehlt.
Gehören auch Menschen mit Migrationshintergrund zu den SozialhilfebezügerInnen?
Alle Schweizer und Schweizerinnen, aber auch die ausländische Wohnbevölkerung mit Aufenthaltsbewilligung B oder C, können in der Schweiz Sozialhilfe beantragen. Anders sieht es beispielsweise bei den Geflüchteten aus der Ukraine mit dem Schutzstatus S aus, für die die Asylfürsorge der Gemeinde zuständig ist.
Ab wann hat eine Person überhaupt Zutritt zur Sozialhilfe?
Das ist die alles entscheidende Frage. Wenn sich jemand bei uns im Sozialdienst meldet, werden zur Einschätzung der Situation zuerst diverse Eckdaten erfragt, zum Beispiel ob die beantragende Person aus einem Ein- oder Mehrpersonenhaushalt kommt oder auch, wie hoch ihre Miete und Krankenkassenprämien sind. Nebst anderem definieren die Höhe dieser Beträge die Eintrittsschwelle zur Sozialhilfe. Was darin natürlich fehlt, sind Nebenkosten für Strom und Heizung, Steuern, Zahnarztkosten oder Selbstbehalte und Franchisen der Krankenkasse. Die sind im besten Fall gering. Wenn jemand krank ist, betragen sie aber schnell einmal Tausende von Franken. Weil all diese Ausgaben nicht berücksichtigt werden, ist die Ermittlung der Eintrittsschwelle heikel. So kann es systembedingt passieren, dass Menschen, die wirklich arm sind, knapp an dieser Schwelle scheitern und keine Sozialhilfe erhalten.
Lassen Sie solche Menschen dann mit leeren Händen gehen?
Sozialhilferechtlich sind unsere Möglichkeiten ausgereizt. Aber wenn sich eine Person in einer prekären Lage befindet, prüfen wir, wo sich eine andere Finanzierungsquelle ausserhalb der Sozialhilfe finden lässt. Was wir auch machen, ist, ihr beim Ausfüllen eines Antrags helfen, der beispielsweise an die Winterhilfe geht.
Das heisst, der Sozialdienst leistet nicht nur Hilfe finanzieller Art und sorgt für die Existenzsicherung Betroffener?
Genau. Wir unterstützen im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen persönlichen Hilfe auch Menschen, die kein Geld, aber persönliche Beratung wünschen. Das umfasst verschiedene Bereiche: Die einen brauchen eine Paar- oder Familienberatungsstelle, andere wollen mehr Sicherheit im Umgang mit ihrem Einkommen und fragen nach der Adresse einer Budgetberatungsstelle. Dieser Teil unserer Arbeit ist auch deshalb so wichtig, weil er dem präventiven Ansatz dient, den wir auch verfolgen wollen. Wir wollen bei Schwierigkeiten rechtzeitig eingreifen und damit verhindern, dass sich die Abwärtsspirale im Leben betroffener Menschen ganz nach unten dreht.
Welche anderen Hilfsangebote gibt es im Sozialdienst?
Wir legen ein besonderes Augenmerk auf die berufliche und soziale soziale Integration. Um Betroffenen beim Wiedereinstieg in die Erwerbstätigkeit zu helfen, arbeiten wir mit Fachstellen im Raum Zürich zusammen. Diese unterstützen die Leute bei der Beurteilung von Lebensläufen oder vermitteln Integrationsarbeitsplätze. Darüber hinaus ist es uns ein grosses Anliegen, dass sich von Armut Betroffene sozial wieder besser integrieren können. Denn der Mangel an Geld kann auch einhergehen mit dem Verlust des bisherigen Umfelds. Der Kontakt mit Bekannten und Freundinnen läuft meistens auch übers Monetäre. Man geht zusammen essen, besucht gemeinsam ein Kino oder Theater. Soziale Integration kann auch bedeuten, dass Menschen dank einer sinnvollen Aufgabe wie einem Arbeitseinsatz in einem Café, einer Schule oder einem Spital wieder eine Tagesstruktur und soziale Kontakte erhalten.
Darf man in einem Ort an der Goldküste wie Zollikon überhaupt so arm sein, dass man Sozialhilfe beanspruchen muss, oder ist es hier besonders beschämend, sich mit einem solchen Bedürfnis zu outen?
Ist das nicht überall so, dass sich die Leute schämen, wenn sie Sozialhilfe brauchen, und dass sie den Sozialdienst deshalb meistens auch zu spät aufsuchen?
Woher rührt diese Scham?
Es löst sicher Schuld- und eben auch Schamgefühle aus, wenn sich Menschen mit ihrer Armut und der Unfähigkeit, selber genügend Geld verdienen zu können, erstmals anderen gegenüber offenbaren. Damit einher geht die riesige Angst, dass es öffentlich werden könnte, wie es um sie steht. Darum äussern sehr viele Leute ganz früh die Frage, wer alles davon erfahre, dass sie bei uns sind. Ich versichere ihnen jeweils, dass Diskretion, Daten- und Persönlichkeitsschutz bei uns hochgehalten werden und wir uns bewusst sind, dass wir es mit höchst sensiblen Informationen zu tun haben.
SozialhilfebezügerIn zu sein, heisst also für viele immer noch, versagt zu haben?
Das ist so. Viele meinen, damit seien sie abgestempelt, ja, stigmatisiert. Vom Staat Geld kassieren, im Wissen, dass alle mit ihren Steuern dafür aufgekommen sind, ist ein Gedanke, der die Schamgefühle verstärken kann. Was man nicht unterschätzen darf, ist die Vorgeschichte, die dem erstmaligen Gang zum Sozialdienst vorausgeht. Meist sind es sehr belastende Geschichten von Sorgen und Existenzängsten, Stellenverlusten, gescheiterten Partnerschaften, mitunter auch begleitet von Gewalt, sozialem Abstieg, der Aussteuerung und dem verzweifelten Ringen, doch noch ohne staatliche Hilfe klarzukommen. Doch dann stellt auch noch der Ex-Partner seine Unterhaltszahlungen ein, und trotz einem 60 Prozent-Pensum und Subventionen für die Kita der Kinder reicht es einfach nicht, und man hat keine andere Wahl, als zu uns zu kommen.
Ist der Antrag auf Sozialhilfe mit grossem administrativem Aufwand verbunden?
Meiner Einschätzung nach ist der Aufwand überschaubar. Was aber damit einhergeht, ist eine Offenlegung des kompletten Lebens. Man muss einen Mietvertrag einreichen, was ja noch geht. Dazu die Krankenkasse-Police. Geht auch noch. Dann das Scheidungsurteil, was schon wesentlich intimer ist, detaillierte Bankauszüge und die Steuererklärung und vieles mehr. Dass sie sozusagen ihr ganzes Leben auf den Tisch legen müssen, fährt den Betroffenen extrem ein.
Zum Schluss noch die ganz konkrete Frage: Wieviel Geld bekommen denn Betroffene in Zollikon überhaupt von der Sozialhilfe?
Die materielle Grundsicherung in der Sozialhilfe setzt sich aus drei Bereichen zusammen. 1031 Franken für den Lebensunterhalt einer Person, 2206 Franken für denjenigen eines Vierpersonen-Haushalts. Monatliche Mietkosten bis zum Maximalbetrag für eine Person von 1300 Franken beziehungsweise 2200 Franken für vier Personen. Dazu die Krankenkassen-Prämien für die obligatorische Grundversicherung.
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