Die Scham ist riesig

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29. Februar 2024 – Armut zu ertragen in einer Welt, in der Konsum, Vergnügen und Überfluss alles beherrschen, ist hart. Auch in Zollikon gibt es Menschen, die unter materieller Not leiden und ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Der Versuch einer Annäherung an ein gutgehütetes Geheimnis. (1 Kommentar)

29. Februar 2024 – Armut zu ertragen in einer Welt, in der Konsum, Vergnügen und Überfluss alles beherrschen, ist hart. Auch in Zollikon gibt es Menschen, die unter materieller Not leiden und ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Der Versuch einer Annäherung an ein gutgehütetes Geheimnis.

Nur noch wenig Geld
Armut ist, wenn es jeden Tag um jeden Franken geht (Foto: rs)

Marie-Madeleine Matter, die Präsidentin des Zolliker Frauenvereins, nickt: «Natürlich gibt es Armut in Zollikon.» Sie sei allerdings stark tabuisiert und werde von den Betroffenen mit allen Mitteln zu verstecken versucht: «In unserer reichen Gemeinde ist es doppelt schwierig, sich als bedürftige Person zu zeigen.»

Sie erinnere sich gut an jene Frau, für die einer der hiesigen Pfarrer beim Frauenverein vorstellig wurde und um einen finanziellen Zustupf bat. Der Vorstand bezweifelte, dass die Frau, die einige kannten, wirklich auf Geld angewiesen sei. Zu gepflegt ihre Erscheinung, zu proper ihre Wohnung. Jemand wusste sogar, dass sie eine Nespresso-Kaffeemaschine hatte.

Matter schlug vor, sich selber ein Bild zu machen und besuchte die Frau. Dabei realisierte sie schnell, dass die Wohnung zwar liebevoll, aber auch sehr einfach eingerichtet war. Die umstrittene Kaffeemaschine stand ungenutzt in der Ecke. Eine Anschaffung aus besseren Zeiten, die sich aber immer noch dazu eignete, bei Gästen einen guten Eindruck zu hinterlassen. Serviert wurde ein Kaffee aus billigem Pulver.

Kein Geld für ein Geschenk

Die beiden Frauen hatten schnell einen Draht. Dabei kam auch eine Geburtstagseinladung zur Sprache, der die Frau nicht nachkommen konnte, weil sie kein Auto hatte. Das Angebot, sie dorthin zu fahren, nahm sie dankend an. Doch einen Tag vor dem Termin sagte sie überstürzt ab, es passe ihr nun doch nicht. «Der wahre Grund? Sie hatte kein Geld, um ein Geschenk zu kaufen», seufzt Marie-Madeleine Matter.

In der Folge überwies ihr der Frauenverein dreimal einen Betrag in der Höhe von je 100 Franken. Einmal zum Geburtstag, dann zu Weihnachten und das dritte Mal an Ostern. Später einmal erzählte sie Matter freudestrahlend, dass sie einen Teil des Geldes dafür verwendet habe, sich eine Calida-Unterhose zu kaufen. Die habe sie dringend gebraucht, weil sie wegen ihrer Rückenprobleme einen Physiotherapeuten aufsuchen und sich vor ihm bis auf die Unterwäsche ausziehen musste.

«Es war wie verhext»

Marie-Madeleine Matter hat eine spezielle, sehr persönliche Beziehung zum Thema Armut. Vor vielen Jahren geriet ihre Familie in die prekäre Lage, dass sie ihren damals sechs- beziehungsweise achtjährigen Kindern kaum mehr Essen kaufen konnte, auf jeden Fall keine Früchte, kein Joghurt, kein Fleisch und keinen Fisch mehr. Zudem ging das Auto kaputt, viele Arzt- und Krankenkassenrechnungen trafen ein und eine happige Steuerrechnung brachte die Mittelstandsfamilie letztlich ganz aus dem Tritt. «Es war wie verhext», sagt Matter. Die Familienfrau war auf einmal gezwungen, im Coop nach Aktionen Ausschau zu halten. Ihrem Sohn kaufte sie für das Skilager einen Helm in der Kleiderbörse, den dieser gehasst habe, weil seine Kollegen ihn darin ausgelacht hätten. «Was sollte ich tun?», fragt die Mutter, «seine Sicherheit war mir heilig, und so musste er ihn anziehen.»

Ihre Tochter habe dermassen rebelliert, als sie mit ihr ebenfalls in die Kleiderbörse gehen wollte, um eine Skijacke zu kaufen, dass sie für die Achtjährige bei Jelmoli im Ausverkauf eine so grosse Jacke ausgewählt habe, dass sie ihr bis zur Matura gepasst habe.

Als sie einmal keinen Rappen mehr im Portemonnaie gehabt habe, um den freiwilligen Beitrag für den Suppenzmittag im Kirchgemeindehaus zu zahlen, auf den sich ihr kleiner Sohn «wahnsinnig gefreut» habe, sei – Gott sei Dank – eine Bekannte aufgetaucht, die auf «wundersame Art» realisiert habe, wie es um sie stand. Matter sagt: «Ich habe ihr Geldgeschenk nur annehmen können, weil es für meinen Sohn war. Wäre es für mich gewesen, hätte ich es abgelehnt.»

Schmerz, Bitterkeit und Scham

Auch wenn diese prekäre Phase nach einem halben Jahr vorbei war, habe sie diese Monate nie vergessen. Den Schmerz nicht, ihre Kinder nicht gut und ausreichend ernähren zu können. Die Bitterkeit nicht, als sie ihren Sohn nicht vor dem Gelächter seiner Kameraden bewahren konnte. Die Scham nicht, in einer der reichsten Gemeinden der Schweiz plötzlich mittellos dazustehen und den damit verbundenen Zwang, es niemandem sagen zu können. Die 62-Jährige schweigt eine Weile und sagt dann: «Es war eine schlimme Erfahrung.»

Seither ist sie sensibilisiert für das Thema und hat grosses Verständnis für Betroffene jeden Alters: «Armut kann alle treffen», konstatiert sie, «Schicksalsschläge, Krankheiten, eine Entlassung, steigende Miet- oder Gesundheitskosten, eine familiäre Vorbelastung oder eine Ballung aus verschiedenen Faktoren können auch gutsituierte Menschen aus dem Gleichgewicht bringen.»

Mehr als 1000 Betroffene in Zollikon

Ende 2022 betrug die Sozialhilfequote in Zollikon 1,4 Prozent. Das ist vergleichsweise wenig, beträgt die Quote im Kanton Zürich doch 2,8 und schweizweit sogar 3,1 Prozent. Aber es sind doch 190 Menschen, die nicht genug Geld haben für Essen, Wohnen, ÖV, Internet, Hobbys, von Freizeitvergnügen oder Reisen ganz zu schweigen. Darunter – so Schätzungen von Fachleuten – überdurchschnittlich viele alleinerziehende Frauen mit Kindern.

Darüber hinaus bezogen in Zollikon zum selben Zeitpunkt 841 Menschen (6,2 Prozent) im Rentenalter sogenannte Ergänzungsleistungen zur AHV, weil sie nur über bescheidene, mitunter auch gar keine Pensionskassen-Beiträge verfügen. Auch hier zeigen die Zahlen aus dem Kanton (11,8 Prozent) und der Gesamtschweiz (12,2 Prozent), dass ein vergleichsweise kleiner Teil der hiesigen Bevölkerung finanzielle Hilfe braucht, aber es sind doch 841 Betroffene.

In Franken umgemünzt hiess das: die Gemeinde bezahlte 3,6 Millionen Franken Sozialhilfe, erhielt aber von Kanton und Einzelpersonen 1,5 Millionen. zurückerstattet. Blieben also 2,1 Millionen, die noch um einen freiwilligen Betrag in der Höhe von 85’000 Franken aufgestockt wurden. An Ergänzungsleistungen zur AHV kamen 4,4 Millionen dazu und an jenen zur IV weitere 1,7 Millionen. Weitere individuelle Gemeindezuschüsse zur AHV oder Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitnehmende runden das Bild ab.

«Wer Unterstützung benötigt, muss sie erhalten»

So kommt denn Corinne Hoss-Blatter (FDP), Mitglied der Zolliker Sozialbehörde und als Kantonsrätin Co-Präsidentin der Zürcher Sozialkonferenz zum Schluss: «Es ist viel Geld, was die Gemeinde für Hilfeleistungen aufwendet. Dies ist auch richtig so – wer Unterstützung benötigt, muss diese erhalten.» Auch Marcus Kohout, ihr parteiloser Kollege in der Sozialbehörde, betont, dass die Gemeinde über «grosse Ressourcen verfügt, um armutsbetroffenen Menschen zu helfen».

Das Problem aber ist, dass viele Betroffene die ihnen zustehenden Leistungen gar nicht beanspruchen. Sei es aus Unkenntnis oder Respekt vor dem drohenden administrativen Aufwand, sei es aus Scham. Marie-Madeleine Matter bringt es auf den Punkt: «Die Menschen wollen nicht die Hosen herunterlassen in einer so kleinen Gemeinde, in der sich alle kennen.» Da verzichte man lieber, ziehe sich sozial vollständig zurück und versuche sich irgendwie durchzuwursteln.

Um so wichtiger, dass Hilfsbedürftige überhaupt wissen, welche Angebote es gebe und welche Leistungen ihnen zustünden. Und dass sie als Betroffene – so Marcus Kohout – «gemäss Sozialhilfegesetzgebung einen Anspruch auf Unterstützung haben».

Wer in Zollikon hilft

Wer sich in Zollikon umschaut, stösst auf etliche Einrichtungen und Angebote, die auch Menschen mit beschränkten Mitteln nutzen können. Da ist zum Beispiel der Chramschopf, der von Porzellan über Möbel und Kleider bis zu Büchern und CDs alles zu ausgesprochen tiefen Preisen, aber in gleichwohl guter Qualität anbietet. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung des dazugehörigen Cafés, wo man für 2.50 Franken einen Kaffee trinken und sich – der entscheidende Punkt – wieder einmal mit anderen unterhalten kann. «Die Gefahr, dass sich armutsbetroffene Menschen zurückziehen und unter grosser Einsamkeit leiden, ist real», konstatiert Marcus Kohout.

Dazu gibt es auf dem Zollikerberg die Kinderkleiderbörse Gummibärli. Auch die Winterhilfe des Bezirks Meilen hat im vergangenen Geschäftsjahr 24 Erwachsene und 67 Kinder aus der Gemeinde mit Velo-, Bücher- oder Zoogutscheinen, mehr als 20 Weihnachtsgeschenken für armutsbetroffene Kinder, knapp 30 Anteilen an Ferienpässe oder Ferienlager und anderem unterstützt.

Die App «Too good to go», die in erster Linie verhindern will, dass Lebensmittel weggeworfen werden, eignet sich mit ihren reduzierten Preisen aber durchaus auch für Menschen mit kleinem Portemonnaie. In Zollikon sind es verschiedene Coop-Filialen, aber auch die Bäckerei Hausammann, die sich an dem Projekt beteiligen.

Ein Versuch führte zu folgendem Ergebnis: Beim Kauf eines sogenannten Überraschungspäcklis in der Coop-Filiale Neumünster für 5.90 Franken erhielten wir frische Melonen- und Mangoschnitze, ein Birchermüesli, eine Packung veganes Sushi und ein grosses belegtes Sandwich. Das Ablaufdatum lag am Kauftag, geniessbar war alles gleichwohl noch Tage später.

«Niemand kommt von sich aus auf uns zu»

Der Frauenverein, so Marie-Madeleine Matter, habe Mittellosen 2022 rund 4000 Franken überwiesen, was ein vergleichsweise kleiner Betrag gewesen sei. Letztes Jahr habe man sehr viel mehr Geld gesprochen, nachdem der Verein öfters um Hilfe gebeten worden sei. Dabei achte man stets auf die sorgfältige Verwendung. Für einen Sozialhilfebezüger, der eine neue Wohnung bezieht, übernehme man beispielsweise die Zügelkosten, wünsche dann aber eine präzise Abrechnung.

Zum Schutz aller Beteiligten werden diese Transfers in der Regel anonym abgewickelt; einzig die Finanzchefin kenne die Koordinaten. Was nach wie vor harzig ablaufe, sei der erste Kontakt von Bedürftigen mit dem Verein. «Niemand kommt von sich aus auf uns zu», stellt die Präsidentin des Frauenvereins fest. Es brauche immer vermittelnde Personen wie eine Lehrerin oder die Schulsozialarbeiterin, der ein Kind auffällt, das wiederholt von einem Skilager oder einem Schulausflug abgemeldet wird, oder den Pfarrer, dem sich jemand in Not anvertraut. Madeleine-Marie Matter seufzt: «Die Scham ist einfach riesig.» (bl)

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so wichtig, dass ihr das thema armut aufgenommen und so anschaulich geschildert habt. die tabuusierung der armut lässt die betroffenen nochmals mehr leiden.

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