«Digitalisierung darf nicht zur Religion werden»
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14. April 2023 – Längerfristig sollen Zollikerinnen und Zolliker 80 Prozent ihrer Anliegen im Verkehr mit der Gemeinde digital erledigen können. Als erfolgreicher IT-Unternehmer ist der Gemeinderat und Bauvorstand Dorian Selz (GLP) ein wichtiger Treiber in diesem Prozess. (2 Kommentare)
14. April 2023 – Längerfristig sollen Zollikerinnen und Zolliker 80 Prozent ihrer Anliegen im Verkehr mit der Gemeinde digital erledigen können. Als erfolgreicher IT-Unternehmer ist der Gemeinderat und Bauvorstand Dorian Selz (GLP) ein wichtiger Treiber in diesem Prozess.
INTERVIEW: RENE STAUBLI
Herr Selz, Sie sind ein erfolgreicher IT-Unternehmer. Nun investieren Sie mehr als 50 Stunden pro Monat in die Arbeit als Gemeinderat. Lohnt sich das?
Ob es sich für die Gemeinde gelohnt hat, sehen wir im Jahr 2026 nach Ablauf der ersten Legislatur. Für mich ist jede Minute wertvoll investiert, denn ich darf Zollikon von einer ganz anderen Seite kennenlernen. Kürzlich war ich zu Gast beim Quartierverein Zollikerberg; da hatte ich Begegnungen, die es sonst nicht gegeben hätte. Allerdings ist das Amt als Gemeinderat ziemlich anforderungsreich, ich arbeite momentan sechseinhalb statt fünfeinhalb Tage pro Woche.
Die Frage zielte auch auf den finanziellen Aspekt. Als Gemeinderat erhalten sie jährlich 37’500 Franken inklusive Spesen, was für Sie sicherlich eine bescheidene Entschädigung ist.
Ich bin Jungunternehmer, unsere Saläre sind generell nicht allzu grosszügig. Würde ich den Gemeinderats-Lohn nicht beziehen, würde sich in meinem Leben nichts gross ändern. Ich mache diese Arbeit nicht wegen des Geldes, sondern in Erinnerung an Ulrich Bremi.
Ulrich Bremi?
Vor 15 Jahren habe ich dem Schweizer SP-Präsidenten Peter Bodenmann geschrieben, ich sei Digitalunternehmer und hätte mein Leben lang links abgestimmt, aber die SP gehe mir langsam auf den Geist. Ob er mir gedankliche Unterstützung liefern könne, warum ich der Partei trotzdem beitreten solle? Ich habe von ihm nie etwas gehört. Dann schrieb ich Ulrich Bremi von der FDP. Ich sei als Unternehmer eigentlich prädestiniert, um bei seiner Partei mitzumachen, aber die habe die Peilung inzwischen so sehr verloren, das gehe eigentlich gar nicht. Ob er mir gedankliche Unterstützung bieten könne, um meine Meinung allenfalls zu ändern? Am nächsten Tag rief er mich an. Wir haben uns dann zehn Jahre lang immer wieder getroffen, um über gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und persönliche Themen zu reden. Er hat mich nie zu irgendetwas überreden wollen, er hat nur Fragen gestellt.
Wie ging es weiter?
Ulrich Bremi hat stets gesagt, wir könnten stolz sein auf unser politisches System. Wir alle seien Teil davon und könnten uns persönlich engagieren. Als er gestorben war und sich eine stille Wahl für den Zolliker Gemeinderat abzeichnete, kam ich mit Sascha Ullmann in Kontakt für eine mögliche Kandidatur.
Informatik ist die wohl schnellste Branche überhaupt, die Verwaltung die langsamste. Wie gross war der Kulturschock?
Ins Gemeindehaus zu gehen, ist mein persönliches Entschleunigungs-Programm (lacht). Wobei fairerweise zu sagen ist, dass eine IT-Bude und eine öffentliche Verwaltung per Definition andere Aufgaben und entsprechende Geschwindigkeiten haben.
Der Gemeinderat will die Digitalisierung vorantreiben. Was können wir als EinwohnerInnen schon bald digital erledigen?
Es gibt schon einige Dinge, die man auf Gemeinde- oder Kantonsebene digital erledigen kann. Etwa die Steuererklärung oder den Bezug einer Betreibungsauskunft. Bei der Diskussion der Legislaturziele 2022–26 habe ich mich zuerst dagegen gewehrt, die Digitalisierung zum Thema zu machen. Ganz einfach deshalb, weil sie sowie so stattfindet. Software frisst die Welt, das ist so sicher, wie das Wasser bergab fliesst. Trotz meines anfänglichen Widerstands haben wir dann das Thema auf unsere politische Landkarte gesetzt, damit es sowohl intern wie extern eine entsprechende Gewichtung bekommt.
Was werden wir auf dieser Landkarte zu sehen bekommen?
Wir haben im Moment eine Longlist von Services, die wir uns anschauen. Beispiele sind die elektronische Einreichung und Bearbeitung von Baugesuchen, die medienbruchfreie Bestellung von Tickets, die Anmeldung von Hunden, die elektronische Administration der Freizeitdienste oder die Schaffung eines digitalen Dorfplatzes mit einem Schaufenster für die Vereine. Wir wollen die Welt aber nicht komplett neu erfinden, sondern auch prüfen, was andere Gemeinden schon erfolgreich umgesetzt haben.
Was geschieht mit den Menschen, die mit digitalen Prozessen nicht klarkommen?
Wenn ich mich in der Gemeinde umschaue, dann sehe ich, dass Leute aus jeder Alterskategorie ein Smartphone in der Hand halten. Es gibt kaum mehr Menschen, die mit digitalen Prozessen nicht klar kommen. Wenn es Ausnahmen geben sollte, helfe ich gerne persönlich. Ausserdem gibt es auch künftig jederzeit die Möglichkeit, ins Gemeindehaus zu kommen, wo einem mit Sicherheit geholfen wird.
Welche Rolle spielen Sie als Experte in diesem Digitalisierungs-Prozess?
Ich übe mein Amt als eine Art Verwaltungsrat aus und hüte mich davor, operativ tätig zu werden – ich führe mit Squirro als Mitbegründer und CEO schon eine Firma mit mehr als 50 Mitarbeitenden. Bei der Gemeinde helfe ich dem Informatik-Verantwortlichen Vito Schiavo und Nyle Werner, dem Digitalisierungs-Verantwortlichen und ihrem Team mit meinem Wissen, die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Als Aufsichts- und Kontrollorgan muss ich dafür sorgen, dass die Kernprozesse in den nächsten drei Jahren wie geplant umgesetzt werden.
Was wird die Digitalisierung der Verwaltung pro Jahr voraussichtlich kosten?
Das wissen wir noch nicht, denn wir sind mitten im Budgetierungsprozess. Die Kosten hängen stark davon ab, welche Projekte wir umsetzen. Das Tool für die elektronischen Baugesuche gibt es schon; wir können es vom Kanton zu einem viel tieferen Preis beziehen, als wenn wir es selber bauen würden. Auch bei gemeindespezifischen Aufgaben wie etwa dem Bestattungswesen schauen wir immer zuerst, was es auf dem Markt schon gibt.
Wo steht Zollikon bezüglich Digitalisierung im internationalen Vergleich?
Ich habe den Kollegen von der Gemeinde das Beispiel von Estland gezeigt, da sind allen die Augen aus dem Kopf gefallen.
Warum?
Weil die Esten praktisch alles digital machen können – also Gebären können die Frauen natürlich nicht digital. Aber sie können praktisch alles, was zwischen Geburt und Tod liegt, digital auf dem Smartphone erledigen: sämtliche Interaktionen mit der Verwaltung, den Austausch mit andern Bürgerinnen und Bürgern, Steuern einreichen, digital heiraten, sich scheiden lassen, Kindergeburten bekannt geben, Pässe beantragen oder verlängern, Firmen gründen und aufheben, einfach alles.
Ist das das Fernziel für Zollikon?
Es geht nicht um Digitalisierung um der Digitalisierung willen. Darum habe ich mich im Gemeinderat zuerst immer ein wenig gegen das Thema gewehrt, weil es so aussehen könnte, als ob da einer der Gemeinde sein Steckenpferd aufoktroyieren würde. Das kann nicht das Ziel sein.
Sondern?
Dass man einen Teil der Leistungen der Verwaltung für die Bevölkerung gescheiter, einfacher und niederschwelliger bereitstellt. Die Gemeindeversammlung werden wir sicher nicht digitalisieren, weil wir uns dort treffen und uns danach am Apéro miteinander austauschen und möglichweise auch ein wenig streiten möchten. Digitalisierung darf nicht zur Religion werden.
Sie bezeichnen sich als «Mehrfachunternehmer» und wurden vom Wirtschafts-Magazin «Bilanz» in die «Hall of Fame of the Top 100 Digital Shapers» (digitale Gestalter) der Schweiz aufgenommen. Was zeichnet Sie aus?
Das müssen Sie andere fragen.
Ich frage lieber Sie.
Ich rede nicht gerne über mich selber, aber ich will es versuchen. Es freut einen natürlich, wenn man von der «Bilanz» auf diese Weise gewürdigt wird. Das hat aber auch damit zu tun, dass in der Schweiz das Feld der Digitalunternehmer sehr klein ist.
Kommen Sie! Nicht so bescheiden!
Ich bin in einem kleinen Bauerndorf aufgewachsen und hatte die Chance, in St. Gallen zu studieren. An der Uni haben wir die Firma Namics als Startup gegründet und die ersten Websites gebaut, zum Beispiel jene der UBS. Wir expandierten nach Deutschland und arbeiteten unter anderem für den Grossverlag Gruner + Jahr, der den «Stern» herausgibt. Zuletzt hatte unsere Firma rund 700 Mitarbeitende. Das nächste Projekt war die Digitalisierung des Telefonbuchs – das Suchverzeichnis local.ch – mit dem wir Google im Kerngeschäft der Kleinanzeigen schlugen. Bei Squirro setzen wir künstliche Intelligenz ein, um alle Arten von Firmendaten zu bündeln, intelligent zu vernetzen und der Belegschaft jederzeit zugänglich zu machen. Es gibt ausser uns kein anderes Team in der Deutschschweiz, das mehrfach Firmen dieser Grösse gegründet und aufgebaut hat. Deshalb die Aufnahme in die «Hall of Fame».
In der Gemeinde sind Sie nicht IT-Verantwortlicher, sondern Bauvorstand. Was steht ganz oben auf der To do-Liste Ihrer Abteilung?
Sicherlich die Implementierung der E-Baugesuche.
Welche Vorteile soll das bringen?
Man hört oft den Vorwurf, das Bauamt habe Gesuche verschleppt. Bei der elektronischen Abwicklung wird jeder Schritt mit einem Zeitstempel versehen. Man kann also feststellen, wer was wann gemacht hat, und wer wofür wieviel Zeit gebraucht hat. Gegenseitige Schuldzuweisungen sind nicht mehr ohne weiteres möglich. In der Bauabteilung bekommen wir eine bessere Kontrolle über die internen Abläufe, was die Effizienz und Transparenz verbessert. Das E-Baugesuch wird letztlich allen Seiten helfen. Wir wollen ja alle dasselbe: innert nützlicher Frist gescheite Bauprojekte bewilligen, die sich gut in unsere Gemeinde einfügen.
In welchem Zustand haben Sie die Bauabteilung vorgefunden?
Die interne Verunsicherung und der externe Druck waren gross. Ich habe eine Abteilung angetroffen, die sich mit grosser Passion für die Gemeinde einsetzt und in all den Jahren eine «Wollerauisierung» Zollikons vermieden hat. Es gibt bei uns keine Betonwüsten wie in der Schwyzer Gemeinde auf der andern Seeseite. Meine Vorgänger haben es zusammen mit der Bauabteilung geschafft, dem Ortsbild einigermassen Sorge zu tragen.
Was zeichnet Ihre Bauabteilung im Idealfall aus?
Wir verstehen uns nicht als Verhinderungs-, sondern als Möglichmach-Abteilung.
Hat der «Wilde Kaiser» inzwischen sein Baugesuch für das Popup-Restaurant auf der Roswies eingereicht?
Noch nicht, aber wir werden Christian Krahnstöver nächste Woche zu einer ersten Sichtung und Beurteilung seines Projekts treffen.
Die grösste Gefahr für das Restaurant «Wilder Kaiser» sind Einsprachen der AnwohnerInnen, unter ihnen der bekannte PR-Berater Klaus Stöhlker. Sind Sie im Zollikerberg als Diplomat unterwegs?
Selbstverständlich, wir reden mit allen, mit Anwohnern und mit dem Quartierverein.
Was ist Ihre Botschaft?
Wir können im Perimeter Roswies, Rosengarten, Chramschopf noch einmal einen Anlauf nehmen für ein Quartierzentrum, oder wir können die Roswies als «Central Park East» erhalten, als grüne Lunge des Zollikerbergs. Das sind die beiden Extremvarianten. Wir haben die Chance, mit dem Provisorium des «Wilden Kaisers» und dem Provisorium des Blumenladens Verdissimo ein zeitlich begrenztes Experiment zu wagen und zu schauen, was es bringt. Vielleicht kommen wir dann zum Schluss, dass uns der Lärm zu sehr stört, oder dass neues Leben dem Quartier gut tut. Es ist doch viel besser, über ein reales Experiment zu diskutieren als über eines, das nur auf dem Papier existiert.
Wie war das Echo darauf an der kürzlichen Versammlung des Quartiervereins Zollikerberg?
Es war sehr positiv. Die meisten – inklusive Herr Stöhlker – fanden: doch, lasst uns das Experiment wagen.
Im Gemeinderat hat die FDP mit vier Sitzen die absolute Mehrheit. Ist das für einen Macher wie Sie nicht frustrierend?
Man muss halt einen extra Weg gehen, um Mehrheiten zu bauen (lacht).
Woher haben Sie diese Fähigkeit?
Ich habe früher einmal die grösste europäische Studentenorganisation präsidiert, die AEGEE, die in 161 Städten in ganz Europa aktiv ist. Wir haben in den 1990er-Jahren prägend am Studenten-Austauschprogramm Erasmus mitgewirkt. Da kamen zwei Mal im Jahr 300 Delegierte aus 40 Ländern zusammen, um Entscheide zu fällen. Dort habe ich gelernt, Mehrheiten zu finden.
Sie sind im Mai 2022 gewählt worden, am 6. Juli hat sich der Gemeinderat konstituiert. Welches Fazit ziehen Sie nach 9 Monaten gemeinsamer Arbeit?
Dass wir einen guten Gemeinderat haben. Die Vorperiode kenne ich nur aus der Erzählung. Im Vergleich sind wir weniger Einzelkämpfer und mehr ein echtes Team. Wir haben die Chance, einen guten Teil unserer Legislaturziele umzusetzen – nebst der Verpflichtung, dem Zolliker Gewerbe und der Schule Sorge zu tragen.
Legislaturziele des Gemeinderats 2022–2026
Legislaturziele auf dem Prüfstand (1/4): Zahlbarer Wohnraum – ein frommer Wunsch
Legislaturziele auf dem Prüfstand (2/4): Der Berg, der Verkehr und der Kanton
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Tolles Interview! Solch engagierte Gemeinderäte braucht das Land. Ich wünsche Dorian Selz und dem gesamten Gemeinderat Zollikons eine erfolgreiche Amtszeit.
Lieber Herr Selz, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit so großer Freude und Interesse ein Interview mit einem Zolliker Gemeinderat gelesen habe. Ihre prägnanten, aber differenzierenden Aussagen sowie die erfrischend mutige Art, die Dinge beim Namen zu nennen sowie die klaren Botschaften zum überlegten Handeln und Anpacken der Probleme ohne parteipolitisches Taktieren überzeugen mich sehr. Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg, verbunden mit der Hoffnung, dass möglichst viele es Ihnen gleichtun. Freundliche Grüße, Riccardo Wahlenmayer