Domleschg: Wo Burgen sich erhoben
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Adrian Michael: «Das Domleschg ist die burgenreichste Gegend der Schweiz: Auf einer Strecke von ungefähr 10 Kilometern wurden dort einst 17 Burgen oder Schlösser errichtet. Das Tal kenne ich, war aber dort noch nie zu Fuss unterwegs. Los gehts!»
Eine elegante Komposition der Rhätischen Bahn bringt mich fast lautlos nach Rothenbrunnen, wo ich am nördlichsten Punkt des Tales meine Wanderung beginne. Ein Blick zurück zeigt mir gleich die erste der zahlreichen Ruinen, denen ich noch begegnen sollte: In schwindelerregender Höhe steht ein hoher Mauerzahn der ehemaligen Anlage Hoch Juvalt aus dem 12. Jahrhundert. Vor vielen Jahren war ich mal oben, heute begnüge ich mich mit der Ansicht vom Tal aus.
Von der Rheinbrücke aus geniesse ich den Blick talaufwärts. Nachdem ich die Autobahn überquert habe, steht linkerhand oberhalb des Dorfes schon die zweite Burg, Innerjuvalt. Sie wurde wieder instand gestellt und kann für Anlässe gemietet werden.
Ich streife die Gewerbezone des Dorfes. Sie ist, wie halt Gewerbezone so sind: mittelschön. Um Höhe zu gewinnen, verschmähe ich den Wanderweg und folge zuerst der Autostrasse, zum Glück ist sie wenig befahren.
Bald bietet sich mir ein beeindruckender Anblick und entschädigt mich für den Hartbelag: Links thront in der Höhe, am äussersten Rand eines senkrecht gegen die Ebene des Hinterrheins abfallenden Plateaus, dunkel die Silhouette des Schlosses Ortenstein. Rechts im Hintergrund steht als Gegenpunkt dazu mächtig die weisse Pyramide des Piz Beverin. Der Berg sollte mich während der ganzen Wanderung begleiten, so wie mich auf meiner Appenzeller Wanderung der Hohe Kasten begleitet hat. Das Schloss ist in Privatbesitz und wird bewohnt.
Wenig später erregt an einer Scheunenwand ein mageres Bäumchen meine Aufmerksamkeit. Eine Plakette informiert mich, dass der Baum im April 2014 einem Valentin Abt von seinem Götti und seiner Gotte zur ersten Kommunion geschenkt wurde. Es sei eine Aromanektarine, weiss eine Etikette. Auch wenn dieser Baum zwischen Scheunenwand und Strasse ein eher kümmerliches Dasein fristet, hat er immerhin schon neun Jahre überlebt. Mögen ihm noch zahlreiche weitere beschieden sein!
Abstecher zur Kapelle Sogn Luregn
Nun folgt ein kleiner, aber lohnender Abstecher: Ich biege rechts ab zur Kapelle Sogn Luregn oder San Lorenzo. Von der A13 aus ist sie vom Tal aus gut zu erkennen, steht sie doch, ähnlich wie Schloss Ortenstein, prominent oberhalb einer senkrecht abfallenden Felswand. Ein Feldweg führt leicht ansteigend hin, vorbei an zahlreichen violett blühenden Leberblümchen und einer schönen Mauer aus Natursteinen, die, so werde ich informiert, in einer Projektwoche von Lehrlingen eines lokalen Unternehmens erstellt worden ist.
Die Kapelle ist eingerüstet, was den Anblick etwas trübt. Ein Bauer berichtet, dass das Holzschindeldach erneuert werden müsse. Leider ist sie abgeschlossen, aber ein Tischaltar und diverse Fundstücke sollen aus dem 6. oder 7. Jahrhundert stammen. Beachtlich. Der kleine Bau scheint also eine interessante Vergangenheit zu haben, steht er doch auf einem ausgedehnten Friedhof, in dem einzelne Gräber zum Teil muldenförmig aus dem Fels geschlagen worden waren.
Nun wende ich mich wieder der Gegenwart zu gehe auf Paspels zu. Am Dorfrand empfangen mich gleich zwei dominante Bauten: Die Ruine der Burg Alt Süns und das Schloss Paspels. Einst war es ein Hotel, heute wird es privat bewohnt. Im Dorf selbst präsentieren sich alte und neuere Bauten in einem mehrheitlich doch recht gelungenen Mix. Am Am oberen Dorfrand steht das neue Sekundarschulhaus, ein Bau des Bündner Architekten Valerio Olgiati. In Architekturkreisen wird der Bau in den höchsten Tönen gelobt. Nun ja.
Dann gibt es wieder etwas für das Gemüt: Nach ein paar Minuten komme ich zum lauschigen Canovasee. Er gehört zum nahe gelegenen Gut Canova und ist in Besitz der Familie von Planta. Der unscheinbar wirkende See hat schon einiges erlebt: 2004 wurde hier nach einer Geschichte von Ian McEwan der Kurzfilm «First Love, Last Rites» gedreht, 1998 diente er als Kulisse für eine Aufführung des Stücks «Katharina Knie» von Carl Zuckmayer. Früher wurde im See Hanf gewässert, um die Fasern aus der Pflanze lösen zu können. Hergestellt wurden vor allem Schnüre und Seile.
Vom Gut Canova aus bietet sich eine freie Sicht auf den inneren Teil des Turms der ehemaligen Burg Neu Süns, einer der wenigen mittelalterlichen Rundtürme in der Schweiz. Erkennbar sind auf der linken Seite zwei Aborterker und neben einem Kamin die Balkenlöcher, die die Einteilung der Stockwerke erkennen lassen. Speziell ist das flache Satteldach, das in den Turm eingehängt war, um es vor Brandpfeilen zu schützen. Die Burg wurde wie andere auch in der Mitte des 15. Jahrhunderts während der Schamserfehde zerstört, als sich die Talbewohner erfolgreich gegen die Herrschaft der Grafen von Werdenberg erhoben.
Nun führt der Weg leicht abwärts durch einen grossen Obstgarten, ein Besuch zur Blütezeit der zahlreichen Bäume müsste sich lohnen! Dann kommt auch schon das nächste Schloss in Sicht, das Schloss Rietberg oberhalb des Dorfes Pratval. Es entging der Zerstörung, ist gut erhalten und in Privatbesitz.
Eine gar schröckliche Tat
Auch hier spielten sich dramatische Szenen ab: In den Bündner Wirren wurde am 25. Februar 1621 der Anführer der Katholiken Pompejus Planta von Jörg Jenatsch und seinen Gesinnungsgenossen ermordet. Vor manchen Jahren hatte ich Gelegenheit, den Tatort zu besichtigen. Eine freundliche Bewohnerin zeigte mir den Kamin, an dem die schröckliche Tat geschah, sogar das Mordwerkzeug lag da, die echte Axt, das muss man sich mal vorstellen!
So gar nicht zur gewalttätigen Geschichte des Tales passt die liebliche Landschaft, durch die mein Weg nun führt, Naturschutzflächen und Agrarland wechseln sich ab. Ein Flugzeug brummt, ein Specht hämmert, und ringsum der Kranz der weissen Schneeberge, die sich blendend vom blauen Himmel abheben.
Über Feldwege und Strässchen nähere ich mich Fürstenau. Still ist es und schön. Rechts bin ich immer begleitet vom Piz Beverin und dem oberen Teil des Domleschg. Oberhalb von Thusis blinken schon die Dächer der Burganlage von Hohen Rätien, meinem heutigen Ziel.
Zu Gast bei Andreas Caminada
Fürstenau beansprucht für sich das Prädikat «Kleinste Stadt der Schweiz», dessen rühmt sich auch allerdings auch das Städtchen Werdenberg. Ziemlich unbestritten hingegen ist ein zweites Prädikat aus Fürstenau: Im Schloss Schauenstein betreibt der Spitzenkoch Andreas Caminada seinen höchstdekorierten Gourmettempel. Da mir für ein Mittagessen (unter anderem) die vier Stunden fehlen, die man so ungefähr dafür einrechnen sollte, schaue ich mal in der benachbarten «Casa Caminada» nach, wie es da zugeht.
Und siehe da: Auf einem kleinen Plätzchen ist mit Blick auf das benachbarte bischöfliche Schloss ein Tisch frei und eine kleine Karte bietet lokale Köstlichkeiten zu vernünftigen Preisen. Da mir zudem ein grosszügiges Spesenbudget zur Verfügung steht 😜, gönne ich mir ein Hirschcarpaccio für 32 Franken. Es ist liebevoll angerichtet und butterzart – ein Gedicht! Dazu zum Abrunden etwas Rotwein aus der Bündner Herrschaft, den Deziliter zu 14 Franken. Das rustikal wirkende Besteck werde im Engadin in Guarda von einer Schmiede extra für Caminada hergestellt, verrät mir die junge Dame, die mich bedient. Dass der Chef himself noch vorbeigeht und freundlich grüsst, sorgt am Nachbartisch für eine kurze Aufregung.
Zugegeben, es fällt mir etwas schwer, aufzubrechen und meinen Weg fortzusetzen! Zum Glück geht es geradeaus, durch einen lichten Föhrenwald dem Rhein entlang flussaufwärts. Ich überquere die von der Schynschlucht her kommende Albula – und schon bald steht das nächste Schloss vor mir: Baldenstein. Auch dieses ist in Privatbesitz und bewohnt.
Nachdem ich die kleine Kirche San Cassian umrundet habe, nehme ich die zweitletzte Etappe in Angriff: den Aufstieg nach Hohen Rätien oder Hoch Realt. Eine Waldstrasse führt an der Burg Ehrenfels vorbei, heute ist sie eine Jugendherberge. Eines meiner ersten Klassenlager habe ich 1979 hier verbracht, lang ists her!
Dann werden auf einem frei stehenden Felskopf die Bauten der einstigen Kirchenburg sichtbar, vom Weg getrennt durch einen tiefen Geländesattel. Über die Baugeschichte der Anlage ist wenig bekannt. Das ringsum durch 250 Meter hohe Felswände hervorragend geschützte Plateau könnte schon in der Bronzezeit besiedelt gewesen sein. Die ältesten noch heute erkennbaren Gebäudespuren dürften, wie Münzfunde belegen, aus der späten Römerzeit stammen. Wissenschaftliches Aufsehen erregte die Freilegung eines angebauten Taufraumes, in dem ein grosses gemauertes Taufbecken zum Vorschein kam, das schon im 4./5. Jahrhundert zur Taufe der frühen Christen diente.
Der schaurige Ritter Kuno
Ins Reich der Sage gehört hingegen die schaurige Geschichte des bösen Ritters Kuno. Dieser war der letzte Burgherr von Hoch Rialt, lebte hier mit ein paar Bediensteten und war gefürchtet und gehasst. Als er eines Tages im Tal ein Mädchen raubte und es auf seine Burg schleppte, rotteten sich die Bauern zusammen und stürmten sie. Im Burghof erwartete sie Ritter Kuno auf seinem Pferd, das verängstigte Mädchen hielt er vor sich im Sattel. Es gelang den Bauern, die Entführte zu befreien. Aber bevor sie den Ritter überwältigen konnten, gab dieser seinem Pferd die Sporen und setzte mit einem gewaltigen Sprung über die Felsplatte hinaus in den Abgrund der Via Mala.
Die «Absprungstelle» kann man besichtigen, was die Kinder jeweils doch sehr beeindruckte. Der Maler Ernst Stückelberger hat 1883 das dramatische Geschehen in einem Gemälde festgehalten. Auf die Frage eines Kindes, warum der Ritter in diesem «Gstürm» denn noch Zeit gefunden habe, dem Pferd die Augen zu verbinden, wusste ich grad keine abschliessende Antwort…
Ein Markt, ganz anders als in Zollikon
Nun folgte der letzte Abschnitt meiner Wanderung: Der Abstieg, 250 Meter über einen Waldweg hinunter nach Thusis. Dort war die Hauptstrasse gesperrt, es war grosser Markt. Aufgefallen sind mir die zahlreichen Stände mit Jagdwaffen, Fellen aller möglichen Tiere, Fuchsschwänzen und Geweihen. In Zollikon eher schwer vorstellbar, aber interessant zu sehen.
Am Bahnhof wartete schon das schnittige Züglein der RhB, das mich nach Chur brachte. Der Dosto fuhr pünktlich und kam auch pannenfrei in Zürich an. Und wie die Kinder amigs in den Aufsätzen schrieben: «Müde aber zufrieden kehrte ich nach Hause zurück.»
PS: Wie schon bei der Schilderung der Wanderung im Appenzell findet sich auch in diesem Text ein kleines Zitat aus einem literarischen Werk. Wer findet es?
Anforderung: 18 km, 696 m aufwärts, 620 m abwärts, 5 1/2 Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil