Ein Film mit Gänsehautmomenten

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18. Oktober 2023 – Am vergangenen Sonntag wurde der Film «Beyond Tradition – Kraft der Naturstimmen» erstmals in Zürich gezeigt. Drehbuch und Regie stammen von der Zollikerin Rahel von Gunten und der Zürcher Musikethnologin Lea Hagmann. (2 Kommentare)

18. Oktober 2023 – Am vergangenen Sonntag wurde der Film «Beyond Tradition – Kraft der Naturstimmen» erstmals in Zürich gezeigt. Drehbuch und Regie stammen von der Zollikerin Rahel von Gunten und der Zürcher Musikethnologin Lea Hagmann.

Das Filmteam: Thomas Rickenmann, Rahel von Gunten, Meinrad Koch, Lea Hagmann (Foto: zvg)

VON ADRIAN MICHAEL

Aufmerksam auf den Film wurde ich durch die Sozialen Medien, wo Rahel von Gunten einen aktuellen Beitrag des Schweizer Fernsehens verlinkt hatte. Da ich Rahel von früher kannte und das Thema mich ansprach, wollte ich mir die bevorstehende Premiere nicht entgehen lassen.

Der Kinosaal 2 im Movie ist gut gefüllt, als die Musikethnologin und Journalistin Lea Hagmann vor die Leinwand tritt, das Publikum begrüsst und erzählt, wie der Film entstanden ist. Während der Arbeit an ihrer Dissertation beschäftigte sie sich auch mit Fragen zu Volksmusik-Traditionen und kam auf die Idee, dieses Thema am Beispiel des Appenzellischen Naturjodels in einem Film darzustellen.

Auf der Suche nach einem Filmemacher, der sich mit Schweizer Traditionen beschäftigt, stiess sie auf Thomas Rickenmann. Sie fragte ihn, ob er ein Filmprojekt über Traditionen in der Musik realisieren würde – er sagte zu. 2019 kam Rahel von Gunten dazu, die Lea Hagmann vom Gymnasium her kannte und mit der sie schon damals gerne zusammengearbeitet hatte. 

Eine Reise nach Norden

Schon bald wurde klar, dass sich Hagmann nicht auf den Appenzeller Naturjodel beschränken wollte. Der  georgische Jodel Krimanchuli kam dazu und der Joik der skandinavischen Samen.

Um mehr über diese traditionellen Gesänge zu erfahren, unternahm sie 2018 mit Rahel eine Reise in den Norden. In der Norwegerin Marja Mortensson fanden sie eine junge Sängerin, die bereit war, im Filmprojekt mitzuarbeiten. Das Resultat dieser länderübergreifenden Zusammenarbeit wurde «Beyond Tradition». Hauptfigur des Films ist der junge Jodler Meinrad Koch aus dem appenzellischen Gonten.

Nach der Einführung, geht es los. Das Licht wird gelöscht, und passend dazu erscheint auf der Leinwand ein überwältigender nächtlicher Sternenhimmel über den stotzigen Bergen Appenzells. Kurz darauf dämmert der Morgen, der Tag bricht an. In breitem Appenzeller Dialekt erzählt der Jodler und Lebensmitteltechniker Meinrad Koch von seinem Kanton.

Wir schauen jungen und älteren Appenzellern zu, wie sie sich auf den Alpaufzug vorbereiten, das «Öberefahre», für viele Einheimische der schönste Tag im Jahr. Sorgfältig ziehen sie ihre Festtagstracht an: Eine rote Weste, darunter das weisse Kurzarmhemd mit Kragen, die gelbe, von beschlagenen Hosenträgern gehaltene Lederhose und weisse Socken. Den Hemdkragen schmückt ein roter Knopf mit Silberbrosche. Nicht fehlen dürfen der schwarze Hut und das Löffeli im Ohr. Immer wieder fängt die Kamera Details wie ein schlafendes Kind ein oder eine Hand, die ein Gläschen Schnaps einschenkt.

Dass klare Regeln bestehen, wie die Tracht zu tragen ist, bekamen die Sänger des «Hitzigen Appenzeller Chors», darunter auch Hauptdarsteller Meinrad Koch, einmal deutlich zu spüren: Während eines Fernsehinterviews trug einer von ihnen den obersten Knopf seines Hemds offen. Dafür wurden er und seine Kollegen in einem vierseitigen Brief der Trachtenvereinigung Appenzell Innerrhoden gerügt.

Darf man Traditionen variieren?

Es sind solche Themen, die den Film spannend machen: Sind Traditionen in Stein gemeisselt oder darf man sie auch einmal variieren? Wenn ja, wie weit darf man gehen?

Musikalisch kommt das Publikum erstmals auf seine Kosten, als beim Alpaufzug der traditionelle Innerrhoder Naturjodel ertönt, das Rugguseli. Dass nicht nur bei festlichen Anlässen gesungen wird, zeigt eine intime Szene, bei der Jung und Alt gemeinsam am Küchentisch singen. Dann ein Bruch: Der «Hitzige Männerchor Appenzell» kombiniert den traditionellen Naturjodel mit einem Rap – auch das dürfte nicht allen Traditionalisten gefallen.

Meinrad Koch kommentiert diese Szene mit dem Titel des Films: «Beyond Tradition» – jenseits der Tradition.

Ein Jodel, gewaltig wie ein Choral

Es folgt ein erster Gänsehautmoment:  Ein Naturjodel, so gewaltig wie ein Choral, ertönt vor der mächtigen Kulisse des Säntis. In diesem Augenblick scheinen Gesang und Berg gleich alt zu sein.

Rentiere werden zusammengetrieben (Foto: ExtraMileFilms)

Ein harter Schnitt zu nie gehörten Klängen in karger norwegischer Wildnis. Drohnenaufnahmen zeigen, wie Schneemobile nachts Hunderte von Rentieren zusammentreiben, begleitet vom fremdartigen Gesang des Joik, der einzigen traditionellen Musikform der Samen, gesungen von der jungen Marja Mortensson.

In einem Interview erzählt sie später von der Bedeutung, die der Joik für sie hat, wie eng diese Tradition, die Jahrzehnte lang unterdrückt wurde, mit dem Überleben in der Wildnis verbunden ist. Marja Mortensson ist eine derjenigen, die sich für deren Bewahrung einsetzt, indem sie Joiks singt, in denen Menschen, Tiere, auch Steine oder Bäume gepriesen werden. Da ertönt dann ein Joik, währenddem ein Bächlein vor sich hinplätschert. Die junge Sängerin ergänzt, dass sie diesen Joik extra für diesen Bach geschrieben hat. Ich denke, gut gemacht, das passt hervorragend.

Ein weiterer Schnitt, diesmal zu den Mehlwürmern von Meinrad Koch. Der ist nämlich nicht nur Jodler, sondern auch Lebensmitteltechnologe und forscht im Bereich der Herstellung von Lebensmitteln aus Insekten. Koch zeigt, wie er aus einem Haufen getrockneter Mehlwürmer zwei Burger herstellt und brät. Die Form muss passen, auch die Textur sollte stimmen, und nach einem letzten prüfenden Blick beisst er zu. Dann ein Nicken: Schmeckt!

Beeindruckende Drohnenaufnahmen

Das Thema Essen führt zurück zu den Samen im Norden Norwegens. In beeindruckenden Drohnenaufnahmen zeigt Kameramann Thomas Rickenmann, wie riesige Rentierherden, aufgeteilt nach ihren Besitzern, in einzelne Gehege getrieben werden. Wird ein Tier getötet, wird alles von ihm verwertet.

Ein älterer Bauer erzählt, dass ihm Herz und Zunge am besten schmecken. Auch das Blut wird in Form von Blutpfannkuchen weiterverwendet. Der Appenzeller Lebensmittelfachmann Meinrad Koch wagt sich im Film auch an diese Spezialität. Mit Honig oder Beeren? Mit Beeren. Nach dem ersten Bissen stellt er fest: Auch der Blutpfannkuchen aus dem hohen Norden schmeckt!

Die unbändige Freude der Jungen

Ein besonders eleganter Schnitt schliesst sich an: Eine sich in einem kreisrunden Gehege fortbewegende Rentierherde verwandelt sich in einen grossen Verkehrskreisel in der Industriestadt Rustavi in Georgien. Die Drohne fliegt über heruntergekommene Wohnblöcke, Jugendliche steigen in einen Bus. Sobald er fährt, ertönt anspruchsvoller mehrstimmiger Gesang in höchster Qualität, ohne stützende Instrumente, ohne Leitung. Gänsehaut pur! Was mich am meisten beeindruckt, ist die unbändige Freude, mit der diese jungen Menschen singen. Ihre Energie strömt geradezu von der Leinwand zu uns herunter. Grossartig.

Rahel von Gunten und Lea Hagmann mit Tamar Buadze beim Jugendchor Tutarchela (Foto: zvg)

Auf Deutsch erzählt die georgische Chorleiterin Tamar Buadze von der Bedeutung der Musik, ihrer Arbeit mit Jugendlichen, von denen viele aus schwierigen Verhältnissen stammen. In der Musikschule bietet sie den insgesamt 400 Kindern und Jugendlichen neben einer musikalischen Ausbildung auch ein stabiles soziales Gefüge.

Als Meinrad Koch gebeten wird, ein Rugguseli zu singen, folgt erneut eine Szene, die für Gänsehaut sorgt. Eine Weile hören ihm die Jugendlichen zu. Dann setzen sie ein, legen unter die ruhigen Naturtöne des Appenzellers einen mehrstimmigen Klangteppich. Wunderbar, wie sich musikalische Traditionen über Sprachen und Landesgrenzen hinweg verbinden können.

Die Gedanken sind frei – Jugendchor Tutarchela, Leitung Tamar Buadze:

Traditionell georgisch: «Nana naninanina»:

Zuletzt ein besonders raffinierter Schnitt: Nach einem weiteren Auftritt des georgischen Chors scheint sich seine Energie in die Blitze eines nächtlichen Gewitters in den Bergen zu übertragen – wir sind zurück im Appenzell. Der Film ist zu Ende.

Ein ausgezeichnetes Gemeinschaftsprojekt

Nun tritt auch Rahel von Gunten zu Lea Hagmann vor die Leinwand. Die vielen Fragen aus dem Publikum zeigen, dass der Film berührt und Gedankenanstösse vermittelt hat.

Rahel von Gunten und Lea Hagmann bei der Premiere im Kino Movie (Foto: Adrian Michael)

Auch wenn der Film immer wieder von einem Land ins andere wechselt, wirkt er nicht unruhig. Es hat alles seine Berechtigung, alles mutet stimmig an: die kurzen Sequenzen, die auf längere folgen und umgekehrt. Auch das einzelne Bild einer schlafenden Katze gehört dazu. Kameramann Thomas Rickenmann hat genau hingeschaut und mit fantastischen Bildern die Reise in die drei unterschiedlichen Kulturen festgehalten. Die Regie passt, die Schnitte sind wohl überlegt und gut platziert: ein gelungenes Gemeinschaftsprojekt, das Freude macht.

So wurde «Beyond Tradititon» denn auch im Juli 2023 von der «’International Council of Traditional Music», der grössten musikethnologischen Gesellschaft, ausgezeichnet.

Lea Hagmann (*1981, Zürich) studierte an der Universität Zürich Englische Sprach- und Literaturwissenschaften, Musikethnologie und Vergleichende Romanische Sprachwissenschaften. An der Universität Bern leitet sie den Studiengang «World Arts and Music». Hagmann arbeitet auch als Radiojournalistin in der Musikredaktion von Radio SRF 2 Kultur und ist eine der vier Herausgeberinnen des Schweizer Jahrbuchs für Musikwissenschaft.

Rahel von Gunten (*1983, Zürich) ist in Zollikon aufgewachsen. Heute lebt die ausgebildete Heilpädagogin im Toggenburg, entwickelt Drehbücher und führt Regie. Im Herbst 2020 kam ihr erster Kinodokumentarfilm «Im Berg dahuim» in Zusammenarbeit mit Thomas Rickenmann in schweizerische und deutsche Kinos. An der Hochschule der Künste in Bern schloss sie den Studiengang «Certificate of Advanced Studies» ab.

Thomas Rickenmann (*1978, Wattwil) ist ein Filmemacher aus dem Toggenburg. Seine Filme «Silvesterchlausen», «S’Bloch», «Alpzyt» und «z’Alp» haben einen starken Bezug zu den Traditionen des Appenzells. «Alpzyt» war 2016 der erfolgreichste Schweizer Kinodokumentarfilm.

Auszeichnung des «International Council of Traditional Music»

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Für alle, die Freude an der Musik haben oder/und in einem Chor singen ein absolutes Muss. Gehört in jede Musikschule. Grossartig, wie am Ende des Films gezeigt wird, dass Musik auf der ganzen Welt sich immer in einer Tradition zuhause findet.

Als Mutter von Rahel habe ich den grossen Aufwand, die intensive Arbeit über 5 Jahre mitverfolgt. Ein wunderschöner Film ist entstanden, traumhafte Bilder von Thomas R. Kompliment! Viele spannende Hintergründe. Interessante Fragen wurden von der Regie anschliessend zum Film beantwortet. Ich gratuliere dem Team ganz herzlich und wünsche nach dem erfolgreichen Start weiter viel Erfolg.

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