Eine gelungene, unterhaltsame Inszenierung
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7. Januar 2023 – Am Freitag hatte die «Opera buffa» von Gioacchino Rossini Premiere im Gemeindesaal. Das zahlreiche Publikum war höchst angetan. Es verdankte die lebendige, einfallsreiche Inszenierung der Zürcher Kammeroper mit grossem Applaus. (1 Kommentar)
7. Januar 2023 – Am Freitag hatte die «Opera buffa» von Gioacchino Rossini Premiere im Gemeindesaal. Das zahlreiche Publikum war höchst angetan. Es verdankte die lebendige, einfallsreiche Inszenierung der Zürcher Kammeroper mit grossem Applaus.
VON ADRIAN MICHAEL
Überraschung beim Betreten des Gemeindesaales: Die elf Sitzreihen sind auf Podesten ansteigend aufgebaut, wodurch auch die weiter hinten Platzierten gute Sicht auf die Bühne erhalten. Ein grosser Aufwand, aber lohnenswert.
Das neunköpfige Orchester aus Streichern und Bläsern hat seine Plätze rechts vor der offenen Bühne bereits eingenommen. Dort sind mehrere geschickt angeordnete Schauplätze zu erkennen: Ein Salon, Ernestinas Zimmer mit Bibliothek und links ein Sitzplatz im Garten. Ein weiterer Gartensitzplatz ist vor der Bühne aufgebaut, wodurch die Spielfläche beträchtlich erweitert wird. Zypressen vor einem blauem Himmel deuten die Landschaft an, in der sich das Geschehen abspielt.
Pünktlich um 19 Uhr erlischt das Licht, der musikalische Leiter Caspar Dechmann tritt vor das Orchester, die Ouvertüre beginnt. Da es zu «L’equivoco stravagante» keine Ouvertüre gibt – entweder ist sie verloren gegangen oder Rossini hat keine komponiert –, wird meist die Ouvertüre zu «Il cambiale di matrimonio» gespielt, Rossinis erster Oper.
Ein Sprecher statt Untertiteln
Der kammermusikalische Klang wirkt zu Beginn etwas ungewohnt, aber ich gewöhne mich schnell daran. Während der Ouvertüre treten, eine nach der anderen, die handelnden Personen auf. Sie machen neugierig: Wer ist wer, wer macht was, wer singt wie?
Dies beantwortet sogleich der elegante Doktor Lauber (Frank Metzner), ein deutscher Germanist und Goethe-Forscher, der sich ferienhalber in Gamberottos Landgut aufhält. Er führt das Publikum als Sprecher mit seinen Erklärungen und Kommentaren durch die italienisch gesungene Geschichte, die sonst nicht einfach nachzuvollziehen wäre – Untertitel wie im Opernhaus gibt es natürlich nicht.
Seine Rolle wurde für diese Produktion hinzugefügt, dafür werden die Rezitative weggelassen, die sonst oft die Handlung vorantreiben. Diese wird übrigens auf einem abgegebenen Blatt zusätzlich zur Besetzung ausführlich geschildert.
Zwei Männer buhlen um Ernestina
Der neureiche Bauer Gamberotto hat für seine Tochter Ernestina den reichen, aber einfältigen Buralicchio als Ehemann ausgewählt. Die literarisch interessierte Ernestina – sie drückt sich mit Hilfe eines Wörterbuches äusserst gewählt aus – wird jedoch vom armen Ermanno verehrt; der ist verzweifelt und droht, sich umzubringen.
Damit er seiner Angebeteten nahe sein kann, erscheint er mit Hilfe von Gamberottos Dienerpaar Rosalina und Frontino als Ernestinas Hauslehrer für Philosophie. Ernestina wäre eigentlich nicht abgeneigt, Buralicchio zu heiraten, aber ist ihr der hübsche Hauslehrer im Moment wichtiger, und so verspricht sie dem vorgesehenen Bräutigam ihre «Materie» und dem armen Ermanno ihren «Geist».
Ernestina – ein Kastrat?
Um Buralicchio abzuschrecken, wird nun mittels eines gefälschten Briefes das Gerücht verbreitet, Ernestina sei in Wirklichkeit ein Kastrat namens Ernesto. Er habe sich kastrieren lassen und als Mädchen verkleidet, um so dem Militärdienst zu entgehen. Buralicchio wendet sich daraufhin tatsächlich von der scheinbar verkleideten Ernestina ab und lässt sie/ihn festnehmen und ins Gefängnis stecken.
Als Soldat verkleidet, befreit Ermanno das unschuldige Opfer, Ernestina entkommt in einer Soldatenuniform. Nach manchen Verwechslungen, Täuschungen und anderen Verwicklungen klärt sich die Situation aber zur Zufriedenheit (fast) aller Beteiligten. Ernestina und Ermanno können heiraten. Alle freuen sich und feiern, nur Buralicchio bleibt alleine zurück.
Ein «Tenore die grazia»
Als erster Solist hat der junge François Pardailhé als Ermanno seinen Auftritt. Er schmachtet vor dem Eingang zur Villa die angebetete Ernestina an, vergleichbar mit der ersten Arie Lindoros «Ecco, ridente in cielo» in «Il barbiere di Siviglia». Pardailhé gestaltet seine Rolle als Verehrer Ernestinas mit kräftigem und sicherem Timbre, ohne jedoch den für seine Rolle notwendigen Schmelz in der Stimme vermissen zu lassen, ein typischer «Tenore di grazia» mit angenehmer Höhe und gut passend für diese Rolle.
In der folgenden lebhaften Szene mit dem Hausherrn Gamberotto und dem sicher auftretenden Chor – er besteht aus den sechs Köchen des Hauses – blitzt mit den sich wiederholenden schnellen und rhythmischen Motiven in den Flöten erstmals «typischer Rossini» auf, auch in kleiner Besetzung ein Hörvergnügen.
Cheyne Davidson als prahlerischer Hausherr Gamberotto ist seine Erfahrung als langjähriges Mitglied des Opernhauses Zürich anzuhören, er singt seine Rolle etwas zurückhaltend, aber mit sicherer Substanz. Auch Erich Bieri als Ermannos etwas tumber Gegenspieler Buralicchio gestaltet seine Buffo-Rolle mit kräftigem Bariton und ist mit seinem violetten Jackett auch optisch ein Volltreffer.
Die anspruchsvolle und facettenreiche Rolle der Ernestina singt Julia Schiwowa. Sie meistert ihre grosse Partie ohne erkennbare Mühe, auch die Spitzentöne gelingen ihr, ohne schrill zu werden – ein Glücksfall für die ganze Produktion.
Die Mezzosopranistin Judith Lüpold singt mit warmem und vollem Mezzosopran die Rolle der Hausangestellten Rosalia, ihr Verbündeter Frontino ist Jürg Peter. Auch er ein sicherer Wert, ebenso die Hausangestellte Désirée (Denise Johansen), die mit ihrem Geschimpfe immer wieder für Heiterkeit sorgt. Köstlich ihre hingebungsvolle Tanzeinlage im swingenden Ensemble.
Für Heiterkeit sorgt auch die Regie von Paul Suter, die mit allerlei Spässchen das Publikum immer wieder zum Schmunzeln bringt. Der Zürcher Kammeroper ist es gelungen, sämtliche Rollen gut zu besetzen, niemand fällt ab.
Beeindruckende Gefängnis-Szene
Beeindruckend ist optisch die Szene, in der Ernestina im Gefängnis ist. Die Lichtgestaltung von Markus Brunn, die auf dem blauem Hintergrund Gitterstäbe projiziert, lässt das Licht in den Raum fallen. Von der schwarz gekleideten Ernestina ist nur das Gesicht beleuchtet – eine gelungene Illusion.
Dazwischen erscheint immer wieder Doktor Lauber. Seine Ankündigungen und Berichte würzt er gerne mit Goethe-Zitaten oder Kommentaren wie «Buralicchio vermutet, Ermanno habe gegenüber Ernestina eine Grenze überschritten, die zu überschreiten er für sich in Anspruch genommen hatte» – oder «…er wird ihr seine endlose Liebe versichern. Was für ein Unsinn.»
Wie ein gut geöltes Uhrwerk
Obwohl es sich bei «L’equivoco stravagante» um ein Frühwerk Rossinis handelt, taucht in der Musik bereits – vor allem in den Ensemblesätzen wie zum Beispiel bei der Verhaftung Ernestinas – immer wieder der typische Rossini auf, der die grossen Tutti-Szenen, etwa in «La Cenerentola» vorausahnen lässt: rasendes Silbenfeuerwerk, spritzig vom Orchester begleitet, ein luftiges Meisterwerk an höchster Präzision von allen Beteiligten, das wie ein gut geöltes Uhrwerk abläuft.
Wer allerdings auf eines der für Rossini typischen Crescendi hofft, wie sie in seinen späteren Opern immer mal wieder aufblühen, wird enttäuscht, das erste erscheint erst ein Jahr später, 1812 in der Ouvertüre zu «La pietra del Paragone». Das Orchester begleitete das Geschehen auf der Bühne kongenial und sicher, ohne sich je in der Vordergrund zu spielen.
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Rossini, ein Star des Belcanto
Gioacchino Rossini (1792–1868) war einer der bekanntesten italienischen Opernkomponisten des Belcanto. Bis 1829 komponierte er in knapp zwei Jahrzehnten 39 Opern, die halb Europa in einen wahren Rossini-Rausch versetzten. Die meisten entstanden unter enormem Zeitdruck und in unglaublich kurzer Zeit. Seine bekanntesten Werke «Il barbiere di Siviglia», «L’italiana in Algeri» und «La Cenerentola» gehören weltweit zum Standardrepertoire der Opernhäuser.
Rossini hat die Schweiz auch ihre drei bekanntesten Töne zu verdanken, die bei uns buchstäblich jedes Kind kennt: Das Tonfolge des «Tü-ta-to» des Postautos stammt aus der Ouvertüre zu Rossinis grossen Oper «Guillaume Tell», hier ist es ab 5:58 zu hören.
Aus derselben Ouverture stammt ein weiteres äusserst populäres Motiv Rossinis, zu hören ist es ab 8:52. Rossini wird auch ab und zu auch als «Vater des Crescendo» bezeichnet, die musikalischen Elemente erscheinen in manchen seiner Opern. Hier einige Beispiele.
Nach 1829 komponierte Rossini nur noch wenig, vorwiegend Instrumentalstücke. Gerne widmete er sich der Kochkunst, was unter anderem zum heute noch bekannten «Tournedos Rossini» führte.
Als die Zensur einschritt
«L’equivoco stravagante» (Das extravagante Missverständnis) ist eine sogenannte Opera buffa, eine komische Oper in zwei Akten. Andere deutsche Titel sind «Die verrückte Verwechslung», «Das bizarre Missverständnis», «Mit List zum Ziele» oder «Die verkehrte Braut». Die Uraufführung erfolgte am 26. Oktober 1811 im Teatro del Corso in Bologna. «L’equivoco stravagante» ist die dritte Oper des erst 19-jährigen Rossini und nach «Il cambiale di matrimonio» die zweite, die aufgeführt wurde.
Die Aufführung wurde vom Publikum positiv aufgenommen. Wie das damals aber aus verschiedenen Gründen oft vorkam, war die Zensurbehörde damit nicht einverstanden: Sie fand das Stück anstössig. Sie kritisierte zweideutige Situationen, anzügliche Textpassagen (die durchaus vorkommen), eine Veralberung der Wohlhabenden und des Militärs sowie Verspottung von Kastraten. Trotz einiger Änderungen im Text wurde die Aufführung der Oper bereits nach drei Vorstellungen in Bologna verboten.
Nach einer Überarbeitung wurde die Oper 1825 in Triest noch einmal auf die Bühne gebracht, dann geriet sie wie viele andere Opern in Vergessenheit. Erst im September 1965 wurde sie nach einer erneuten Bearbeitung in Siena wieder aufgeführt. Seitdem steht «L’equivoco stravagante» gelegentlich wieder auf den Spielplänen.
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Die Zürcher Kammeroper
Die Geschichte des Vereins geht auf das Jahr 2004 zurück, als die damalige «Pocket Opera Company Zürich» erstmals eine abendfüllende Produktion im Konzertsaal des Zürcher Kammerorchesters im Tiefenbrunnen spielte. Mit kurzen Unterbrüchen fanden bis Anfang 2019 jährliche Aufführungen statt, die bei Publikum und Presse gut ankamen.
Ab 2013 wurden die Produktionen als «Opera Box» ins Programm des Zürcher Kammerorchesters ZKO integriert. Passend zum Jahresübergang wurden Werke der komischen Oper oder Operetten aufgeführt, die an renommierten Häusern nicht gespielt werden und dadurch die Neugier bei Presse und Publikum wecken sollten. Gesungen wird jeweils in der Originalsprache mit deutschen Zwischentexten oder Dialogen.
Der «Verein Zürcher Kammeroper» wurde am 18. April 2020 gegründet. Patronatsmitglieder waren prominente Sänger und Sängerinnen wie José van Dam, Gwyneth Jones, Malin Hartelius sowie die Alt-Stadträtin Kathrin Martelli.
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Vielen Dank für diese ausführliche Rezension, es ist ein Genuss, sie zu lesen! Das Libretto hat mit der Rolle des vermeintlichen Kastraten einen aktuellen Bezug zur heutigen LGBTQ-Diskussion, in der ich schon lange eine Aufarbeitung des Kindsmissbrauchs vermisse, den Eltern jahrhundertelang mit der Kastration ihrer männlichen Kinder betrieben.
Es würde zu weit führen, die Geschichte der Kastraten hier zu erzählen. Die Kastration wurde eigentlich Ende des 18. Jahrhunderts verboten, aber bis weit ins 19. Jahrhundert immer wieder durchgeführt. Offenbar entging auch Rossini diesem Schicksal nur dank der energischen Einsprache seiner Mutter.
Wenn es heute selbstverständlich scheint, dass junge Leute ihr Geschlecht wechseln dürfen, sollte man vielleicht diesen Missbrauch thematisieren und auch die tragischen Schicksale, die sich damals aus dieser Kastraten-Begeisterung ergaben.
Rossini wurde zu seiner Zeit wie ein Popstar gefeiert. Diese frühe Oper wurde aber wegen der anzüglichen Texte nach der Uraufführung verboten – die Frage bleibt offen, warum man sie heute wieder aufführen darf, obwohl jedes Kinderbuch politisch korrekt umgeschrieben werden muss?