Ein Held, der niemanden kaltlässt
0 KOMMENTARE
Barbara Lukesch: «864 Seiten lang habe ich mit Demon Copperhead gebangt, gelitten, mich gefreut, wenn das Schicksal ihm auch einmal wohlgesinnt war, seine Enttäuschung, ja, Verzweiflung geteilt, wenn er erneut abgestürzt ist oder einen geliebten Menschen (…)
VON BARBARA LUKESCH
864 Seiten lang habe ich mit Demon Copperhead gebangt, gelitten, mich gefreut, wenn das Schicksal ihm auch einmal wohlgesinnt war, seine Enttäuschung, ja, Verzweiflung geteilt, wenn er erneut abgestürzt ist oder einen geliebten Menschen verloren hat, und immer wieder Hoffnung geschöpft, wenn er sich einmal mehr aufrappeln konnte. Der Bildungsroman der amerikanischen Schriftstellerin Barbara Kingsolver, der zwischen 1990 und 2010 angesiedelt ist, verlangt seinen Leserinnen und Lesern einiges ab.
Dass man das Buch, das mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, trotzdem mit Freude, ja, zunehmender Begeisterung immer wieder zur Hand nimmt und nicht daran denkt, die mitunter herzzerreissende Lektüre zu beenden, liegt vor allem an der Hauptperson Demon, den wir als kleinen Jungen kennenlernen und als knapp Dreissigjährigen wieder verabschieden müssen. Der rothaarige Wildfang, schlagfertig, witzig, begabt, liebenswürdig und ausgestattet mit einem wunderbar robusten Kern, der ihn auch noch die härtesten Schicksalsschläge überleben lässt, nimmt seine Leserschaft von der ersten Zeile an gefangen.
Seine Kindheit ist ein Martyrium. Da ist zunächst seine drogenabhängige Teenagermutter, die er zwar liebt, die aber keine Kapazität hat, sich um ihren kleinen Sohn zu kümmern. Im Gegenteil. Von früh an muss er sich ihrer annehmen und sie vor dem Schlimmsten bewahren. Sein Vater ist bereits tot, den kennt er gar nicht, und der Stiefvater quält den Knaben bis aufs Blut.
Nachdem auch seine Mutter gestorben ist, wird das Waisenkind von einer Pflegefamilie zur nächsten abgeschoben. Ausbeutung, Armut, Kälte und Hunger, körperliche und psychische Gewalt verfolgen den Knaben auf Schritt und Tritt; gleichzeitig aber begegnet er immer wieder einzelnen Menschen, auch Gleichaltrigen, die ihm Mut machen und ihn den Glauben an das Leben allen Widrigkeiten zum Trotz nicht verlieren lassen.
Dazu verfügt er über eine ganz besondere Ressource: Demon kann wunderbar zeichnen. In Stunden der Einsamkeit und Verlorenheit gelingt es ihm dank dieser Fähigkeit immer wieder durchzuhalten. Seine Kunstlehrerin erkennt sein Talent und fördert ihn, soweit sie kann. Immerhin.
Die Jahre, in denen er sich endgültig aus seinem Schlamassel zu befreien scheint, sind jene, in denen er als jugendlicher Footballstar richtiggehend gefeiert wird. Doch eine schwere Knieverletzung, die ihm ein gegnerischer Spieler mit einem brutalen Foul zufügt, lässt all seine Träume platzen. Demon gerät in die Fänge eines Arztes, der ihn mit dem hochpotenten Schmerzmittel Oxycontin abfüllt. Er wird genauso süchtig wie Hunderttausende seiner Landsleute und muss seine Sportkarriere beenden.
Seine grosse Liebe Dori ist noch schlimmer dran als er und konsumiert alles, was sie in die Finger bekommt. Der fürchterliche Absturz der beiden, aber auch vieler ihrer Kollegen und Freundinnen wird detailliert geschildert – Buchkapitel, die teilweise nur schwer erträglich sind.
Doch Barbara Kingsolver ist es ein besonderes Anliegen, ihrer Leserschaft die verheerenden Folgen der amerikanischen Oxycontin-Epidemie, die bisher rund eine Million Tote gefordert hat, auf drastische Art zu schildern. Eine Schmerzmittel-Epidemie, die einen skrupellosen Familienclan schwerreich gemacht und gleichzeitig das halbe Land mit dem unfassbaren Elend und Leid Schwerstabhängiger überzogen hat. So widmet die Autorin ihren Roman denn auch den «Überlebenden». Inzwischen hat sich die Justiz des Falls angenommen und die Familie Sackler zu Milliardenzahlungen verurteilt.
Demon – so viel sei verraten – versucht den Entzug. Mehr sei hier nicht gesagt. Nur das noch: «Demon Copperhead», der Roman, den Barbara Kingsolver gemäss eigener Aussagen als aktuelle Adaption von Charles Dickens «David Copperfield» konzipiert hat und mit einem Dickens-Zitat («Es ist vergeblich, sich an die Vergangenheit zu erinnern, wenn sie nicht einen gewissen Einfluss auf die Gegenwart ausübt») eröffnet, ist ein grossartiges Buch, das einen emotional mitnimmt und trotzdem nicht deprimiert zurücklässt.
Barbara Kingsolver, Demon Copperhead, dtv, 864 Seiten, ca. 35 Fr.