Eine Träne für Violetta
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25. Dezember 2023 – Mein Mann und ich lieben die Oper. Wir hören fast nur Opernmusik, gehen viel ins Zürcher Opernhaus und besuchen auch auf Reisen immer wieder Städte mit einer attraktiven Oper. Wie entstand diese Liebe? Das ist eine Geschichte mit einer langen Anlaufzeit.
VON BARBARA LUKESCH
Mit meinem Grossvater Martin Lukesch fing es an. Er war zeit seines Lebens Statist an der Semperoper in Dresden und verbrachte jede freie Minute an dem Ort, der ihn faszinierte wie kein anderer. Bald einmal schleppte er auch seinen Sohn Heinz, meinen Vater, mit in das geschichtsträchtige Gebäude und weckte in ihm die ebenso grosse Leidenschaft.
Als meine Eltern Ende der 50er-Jahre aus der ehemaligen DDR «abhauten», wie das damals hiess, blieb meinem Vater die Freude an der Oper erhalten. Verdi, Puccini, Donizetti, Weber und Wagner begleiteten ihn in sein neues Domizil im norddeutschen Hamburg. Die Klänge von «Aida», «La Traviata», «Lucretia Borgia», «Der Freischütz» und «Parsifal» füllten unsere Wohnung vor allem an den Wochenenden bis unter die Decke. Mein Vater beherrschte zahllose Arien und sang gerne mit, es sei denn, er sass auf seinem Sessel und dirigierte das Orchester.
Als Kind machte mich die Oper eher schwermütig. Als mein Vater mir dann auch noch die unendlich traurige Geschichte von der an Tuberkulose sterbenden Mimi aus «La Bohème» erzählte, löste ich mich in Tränen auf und war untröstlich. Fortan durfte er diese Platte nicht mehr auflegen.
Was ich allerdings mochte, waren meine sporadischen Besuche in der Hamburger Staatsoper. Meine Eltern hatten ein Abonnement, und wenn meine Mutter Migräne hatte, durfte ich meinen Vater begleiten, vorzugsweise in Ballettaufführungen wie «Schwanensee» oder «Dornröschen».
Der Clou war, dass der Vater meiner Primarschulfreundin Sabine Gediga im Orchester war und wir jeweils vor Aufführungsbeginn an den Graben gingen, um Herrn Gediga zuzuwinken. Mindestens so toll war, dass wir vor der Heimfahrt noch ins «Café Laronge» gingen – so hiess das gemäss meiner Erinnerung – und etwas kleines Süsses zu uns nahmen.
Richtig warm geworden bin ich in jenen Jahren trotzdem nicht mit der Oper. Wenn jemand sagte, Opern beständen aus «Gekreische», und es sei unglaubwürdig, wenn Sterbende noch eine halbe Stunde lauthals ihr Elend beklagten, nickte ich. Diese Einstellung bewahrte ich mir viele Jahre.
Die Träne im Hallenstadion
2007 passierte dann folgendes. Mein Vater hatte Geburtstag, und wir schenkten ihm Karten für die «La Traviata»-Aufführung im Zürcher Hallenstadion, zu der wir ihn und meine Mutter begleiteten. Meine Vorfreude hielt sich in Grenzen; dazu waren die Sitzplätze auf der steilen Rampe auch noch reichlich unbequem. Doch zu meiner grossen Überraschung gefiel mir die Musik, einzelne Arien kannte ich wohl noch aus Kindertagen, die dramatische Geschichte von Violetta rührte mich.
Als ich mich gegen Schluss des Stückes über die Abschrankung nach vorne beugte, lief mir eine Träne über die Wange und landete auf dem kahlen Kopf eines Zuschauers, der direkt unter mir sass. Der Mann fuhr sich mit der Hand über die Glatze, blickte nach oben und schenkte mir ein bezauberndes Lächeln.
Ich genoss diesen Abend. Als wir gemeinsam mit meinen Eltern im Auto in die Zürcher Innenstadt fuhren, stimmte mein Vater – wie gehabt – die eingängigsten Arien an, und anders als früher war ich nicht genervt, sondern beeindruckt, wie schön er singen konnte. Ich wusste, dass er Dutzende von Opern-CDs hatte und bat ihn, mir bei Gelegenheit eine Auswahl mitzubringen. Bei unserer nächsten Begegnung brachte er «La Traviata» mit, «Rigoletto und «Aida». Treffsicher hatte er sich für Verdi entschieden – ich sass in der Falle.
Ins Fussballstadion und in die Oper
Von nun an begann die Oper mein Leben in starkem Masse zu beeinflussen und zu bereichern. Wenn mein Mann und ich eine Reise in eine grosse Stadt wie Barcelona oder Paris unternahmen, reservierten wir von nun an nicht nur Tickets für ein Fussballspiel, sondern auch für eine Opernaufführung. Schnell einmal wurden wir auch Stammgäste im Zürcher Opernhaus, wo wir uns Jahr für Jahr das Saisonbuch kommen liessen und uns acht bis zehn Aufführungen aussuchten. Nach dem Tod meines Vaters erbte ich seine CD-Sammlung, die ich nach und nach mit einigen Dutzend Aufnahmen ergänzte.
Ja, und in dieser Zeit entdeckten wir dann auch noch Jonas Kaufmann, den deutschen Tenor mit einer unvergleichlichen Stimme und dem Aussehen eines mediterranen Popstars. Zürich hatte Glück, war Kaufmann dem Opernhaus doch in der Anfangszeit seiner grossen Karriere eng verbunden. So sahen wir ihn beispielsweise in «La Bohème» und waren überwältigt. Als mein Vater starb, spielten wir im Andachtsraum die Arie «Che gelida manina» aus «La Bohème» mit Kaufmann ab. Hühnerhaut! Mein Vater wäre begeistert gewesen.
Nach und nach leisteten wir uns dann auch den Besuch der einen oder anderen Aufführung mit Kaufmann im Ausland: «Tosca» in München oder «Cavalleria Rusticana» und «Il Pagliaccio» in Salzburg. Grossartig! Nur leider war der Run auf seine Auftritte inzwischen so gross, dass man kaum noch Karten bekam. Seither bescheiden wir uns mit CDs und geniessen vorzugsweise an den Wochenenden seine Verdi- und Puccini-Ariensammlungen.
Heute sage ich: ich habe ein Leben vor und ein Leben nach der Entdeckung der Oper. Die Oper versüsst meinem Mann und mir das Leben auf eine nie erwartete Weise und schenkt uns immer wieder Stunden und Momente höchsten Glücks.
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