Erinnerungen an eine Jugendzeit in Wollishofen

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Adrian Michael: «Ich bin in Wollishofen aufgewachsen. Bei meiner Rückkehr nach vielen Jahren habe ich alte Schauplätze besucht und viel Neues entdeckt. Mein Spaziergang ist auch eine Wanderung durch die damalige Musikgeschichte.» (2 Kommentare)

Um 10.15 Uhr verlasse ich den Bus bei der Landiwiese. Elegant schwingt sich die schlanke Brücke zum fast menschenleeren Saffainseli hinüber. Weil für die Landesausstellung von 1939 viel zu wenig Platz vorhanden war, entschied man sich kurzerhand dafür, das Seeufer mit Schutt aus dem Ausbau des Enge-Tunnels aufzuschütten. Die kleine Insel entstand 1958 im Rahmen der zweiten schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa).

Über einen Steg geht es der Schiffswerft entlang, wo die «Stadt Zürich» und die «Stadt Rapperswil» einträchtig nebeneinander liegen. An der Kibag und der Roten Fabrik vorbei gelange ich schon bald zum ersten Highlight meiner Wanderung: dem Cassiopeiasteg. Er ist benannt nach dem gleichnamigen Sternbild, das auch als «Himmels-W» bekannt ist. Filigran schwebt er seit 2015 über dem Wasser; eine gelungene, aber aufwändige und doch eher kostspielige Version des Seeuferwegs.

Der Cassiopeiasteg, ein filigraner Seeuferweg (Fotos: Adrian Michael)
Der Cassiopeiasteg, ein filigraner Seeuferweg (Fotos: Adrian Michael)

Der Weg führt an der Badi vorbei, in der wir als Buben mit Flossfänge, Tauchen und Glace unzählige Nachmittage verbrachten. Nach dem Bootshafen und dem Restaurant Seerose steige ich über die steile Widmerstrasse hinauf zu einem der ältesten Dorfteile Wollishofens.

Nach dem Ortsmuseum komme ich an der Kilchbergstrasse zu einem Bauerngut, wo früher die Familie Höhn wohnte. Dort holten wir als Kinder jeweils frisch gepressten Most. Ich sehe die alte Frau Höhn noch vor mir, wie sie den Most aus einer riesigen, bauchigen grünen Glasflasche abfüllte und dann mit einer Metallklemme den orangen Gummischlauch verschloss. Frau Höhn war vermutlich die Urgrossmutter der einstmaligen Musicstar-Teilnehmerin Börni Höhn.

Hinter der braunen Tür stand grad links die grosse Flasche mit dem frischen Most
Hinter der braunen Tür stand grad links die grosse Flasche mit dem frischen Most

Schon bald erhebt sich linkerhand das mächtige Sekundarschulhaus Hans Asper, wo ich in die Sek ging. Der 1912 erbaute spätklassizistische Schulpalast nach alter Väter Sitte ist dem Zürcher Maler gewidmet, der vor allem durch ein Portrait des Reformators Ulrich Zwingli bekannt geworden ist. Hier begann ich, jeweils am Dienstagabend die Hitparade zu hören mit Hits wie diesem hier.

Im alten Schulhaus Wollishofen besuchte ich die Unterstufe. Bei Frau Felix waren wir 45 Kinder in der Klasse. Ging auch, irgendwie. Die Hitparade gab es damals noch nicht, aber im Radio war in jener Zeit dieser Song oft zu hören.

Nahe der alten Kirche steht der Fröschli- oder Märchenbrunnen des Pariser Bildhauers Max Blondat. Der geschäftstüchtige Künstler verkaufte das Modell weiter, weshalb man in Düsseldorf, Dijon, Odessa und Denver auf dieselbe Brunnenskulptur trifft. Der Name Märchenbrunnen stammt aus Düsseldorf. Man vermutete dort, dass dem Kunstwerk ein Märchen zu Grunde liegt: Drei Prinzen im Froschstadium warten auf drei Prinzessinnen, die sie mit einem Kuss ins höfische Leben katapultieren.

Der Märchenbrunnen mit den drei Prinzen im Froschstadium
Der Märchenbrunnen mit den drei Prinzen im Froschstadium

Bei der roten Franziskuskirche mit dem markanten Rundturm überquere ich die Albisstrasse und folge kurz der Tannenrauchstrasse, wo mein Primarlehrer wohnte, Herr Weber. Nach 100 Metern geht’s steil den Hoger hinauf zum ehemaligen Dorfteil «Auf dem Rain», eine ruhige, beschauliche Wohngegend. Aus dem 18. Jahrhundert ist vom damaligen Rebgebiet mit einem Weinbauernhaus, Scheune, Waschhaus und Brennhaus nur noch ein Holzhaus mit angebauter Remise erhalten, ein bauliches Kleinod.  

Altes Holzhaus mit angebauter Remise
Ein Kleinod: Holzhaus aus dem 18. Jahrhundert mit angebauter Remise

Mit Wehmut erinnere ich mich an das alte Oberdorf mit seiner verwinkelten Häusergruppe. Jetzt stehen dort gesichtslose 0815-Blöcke, kalte Zweckarchitektur wie manchenorts. Das einzige alte Wohnhaus, das überlebt hat, wirkt wie ein Fremdkörper, das fernöstliche Restaurant darin passt dazu.

Über den Eggweg gelange ich auf einen der zahlreichen langgezogenen Moränenhügel, die Wollishofen prägen. Angesichts des weiten Blicks auf den See und das Seefeld gegenüber kann ich wieder freier atmen, vorher hat es mir angesichts der angerichteten Zerstörung und des baulichen Elends grad ein bisschen die Luft verschlagen. Zuvorderst auf dem Hügel steht dominant die reformierte Kirche. Da sie für die sonntäglichen Gottesdienste viel zu gross geworden ist, wird sie für das Projekt «KunstKlangKirche» genutzt; Konzerte, Ausstellungen oder Workshops finden hier statt. 

Die Kirche «Auf der Egg»
Die markante Kirche «Auf der Egg»

An einem der Wege, die vom Park zur Kirche führen, stehen immer noch die Bänkli, wo jeweils Teenagerpärchen nach dem Konfirmationsunterricht in der Dunkelheit über das eben Gehörte intensiv diskutierten. Oder so.

Nach der Egg komme ich beim Kindergarten vorbei, der direkt unterhalb des Hauses lag, in dem wir wohnten. Unsere Kindergärtnerin war die beliebte Frau Specker. Ich habe sie vor einiger Zeit besucht, sie war damals 102 Jahre alt und erfreute sich dem Alter entsprechend recht guter Gesundheit. Im Altersheim unweit ihres Kindergartens erkundige ich mich nach ihr. Mir wird berichtet, dass es ihr immer noch recht gut geht. Sie wird heuer 105 Jahre alt. Als ich zu ihr in den Kindergarten ging, liess im Radio der fesche Bobby Vee die Herzen hüpfen.

Ewige Reue

Nun folgt der für mich wichtigste Punkt dieser Wanderung: Der Ort, wo das Haus stand, in dem mein Bruder und ich aufgewachsen sind. Erbaut 1896, thronte es auf einem Hügel, umgeben von mächtigen Bäumen; an die weisse Pracht der blühenden Birnbäume im Frühling kann ich mich noch gut erinnern. Wir wohnten zuoberst. Grossartig war der Blick von der Terrasse über den See hinüber nach Zollikon, und vom Dach aus sah man von Höngg bis nach Küsnacht.

Zu meinem grossen Bedauern haben wir bei unserem Auszug 1975 nicht daran gedacht, Wohnung und Aussicht fotografisch festzuhalten, das wird mich ewig reuen. Immerhin bin ich im Zürcher Bauarchiv fündig geworden, die haben das Gebäude fotografisch dokumentiert. Zum Grundstück gehörte noch ein zweites Haus, etwas kleiner, sowie eine grosse Scheune, in der sich früher eine Pferdehandlung befand. Um 1980 wurde alles abgerissen. Das Tagblatt berichtete darüber: «Ein Stück Alt-Wollishofen verschwindet».

An der Kalchbühlstrasse 79, wo wir wohnten, …
An der Kalchbühlstrasse 79, wo wir wohnten …
… steht heute ein gesichtsloser Neubau
… steht heute ein gesichtsloser Neubau

Doch zurück in die Gegenwart. Mittlerweile ist es 12 Uhr geworden. An der Widmerstrasse, wo früher die Bäckerei Aeschlimann war, gibt’s jetzt die Pizzeria «Il Grappolo», wo ich einkehren will, doch das Ristorante ist chiuso. Grund ist keiner angegeben, auch die Webseite hält sich bedeckt. Jä nu, dann halt weiter über das «Murerhügeli» zum «Chäserhügeli», wo wir im Winter schlittelten.

Blick zum «Chäserhügeli»
Blick zum «Chäserhügeli»

Beim Tennisplatz verdiente ich als Ballbueb mein erstes Taschengeld. Es gab pro Spiel jeweils etwa 50 Rappen, wenn es gut ging, einen Franken.  

Tennisplatz «Seeblick»
Tennisplatz «Seeblick»

Auch wenn sich die Kette der sanften, langgezogenen Moränenhügel noch weiter südwärts zieht: Ich verlasse sie und gehe hoch zur Werkbundsiedlung Neubühl. Der Schweizerische Werkbund stand für moderne, schnörkellose und funktionelle Architektur ein. 1930–1932 realisierte ein Architektenkollektiv die Mustersiedlung. Sie ist das wichtigste Zeugnis des Neuen Bauens in Zürich und findet über die Landesgrenzen hinaus Beachtung. Auch ich war hin und wieder im Neubühl anzutreffen, wohnten doch mehrere Kollegen dort, darunter der spätere Schauspieler und Regisseur Yves Räber.

Werkbundsiedlung Neubühl
Werkbundsiedlung Neubühl

Im Schulhaus Neubühl besuchte ich bei Herrn Weber die vierte bis sechste Klasse. Diese Zeit verbinde ich mit guten Erinnerungen. Ihm habe ich es sicher auch ein Stück weit zu verdanken, dass ich Lehrer geworden bin. Er hat uns 35 Kindern mit seiner ruhigen Art «guet glueget».

Die grosse Spielwiese gibt’s immer noch. Beim Pausenplatz ist die öde Asphaltfläche einem Kiesplatz gewichen, ein grosses Spinnennetz aus Seilen bietet viele Klettermöglichkeiten. Auch die Treppe, auf der wir im April 1967 die Klassenfoto gemacht haben, ist noch da. Aus jenem Jahr stammt der ultimative Schmusesong.

Treppe beim Schulhaus Neubühl
Treppe beim Schulhaus Neubühl
6. Klasse Hans Weber, 1967 (unterhalb des Lehrers der Schreibende)
6. Klasse Hans Weber, 1967 (unterhalb des Lehrers der Schreibende)

Weiter geht’s zum Erligatterweg, der von der Alterssiedlung leicht abwärts führt und vor dem Seewasserwerk einen Bogen nach rechts beschreibt. In dieser Kurve gab’s eine Mutprobe zu bestehen: Wer getraut sich, auf dem Velo die Kurve freihändig zu fahren? Wer ein gutes Gspüri für Gleichgewicht und Gewichtsverlagerung hatte, schaffte das tatsächlich.

Diese Kurve galt es mit dem Velo freihändig zu befahren
Diese Kurve galt es mit dem Velo freihändig zu befahren

Inzwischen meldet sich mein Magen immer deutlicher. Das Lebensmittelgeschäft von Herrn Wyrsch bei der Kreuzung Widmerstrasse – Albisstrasse gibt’s schon lange nicht mehr. Also gehe ich in die altvertraute Migros gegenüber, wo wir ab und zu von unserem Taschengeld «Sport-Fresh»-Zältli oder eine Tube Kondensmilch kauften, gesüsste natürlich. Fein war die, direkt aus der Tube in den Mund!

Danach führt mich die Paradiesstrasse hinauf zum Wald. Als dort 1961 die Autobahn gebaut wurde, war das Entsetzen in der Bevölkerung über die wuchtige Schneise gross, der Wald und Schrebergärten zum Opfer fielen. Der Stadtrat, der das zu verantworten hatte, wurde dann auch abgewählt. Die Bausünde wurde erst 2004 beseitigt und die Schneise überdeckt.

Oben im Wald stehen links und rechts des Weges vergammelte und mit viel Farbe verzierte ehemalige Bunker. Sie wurden um 1940 zugunsten des Reduits in den Alpen aufgegeben.  

Kunst am Bau: ehemaliger Bunker
Kunst am Bau: ehemaliger Bunker

Nach einem kurzen Abstecher durch den Wald geht es an gemeinschaftlich gehaltenen Hühnern und Schrebergärten am früheren Waisenhaus und der ehemaligen «Kantonalen Gehörlosenschule» vorbei, dem heutigen «Zentrum für Gehör und Sprache». Aus dem Waisenhaus ist eine Kinderbetreuungsstätte geworden.

Auf dem Friedhof Manegg, einem gross angelegten Park mit weiten Wiesen und mächtigen alten Bäumen, entdecke ich die ersten Schneeglöckchen und lasse mir auf einem Bänkli bei frühlingshaften Temperaturen meinen etwas dürftigen Zmittag aus der Migros schmecken.

Friedhof Manegg mit den ersten Schneeglöggli
Friedhof Manegg mit den ersten Schneeglöggli

Auf dem «Scheibenrain» begleitet mich anschliessend das unablässige Rauschen der Autobahn. Der Name verweist auf den alten Schiessstand auf der Allmend gegenüber dem Friedhof. Der steile Abhang hinunter zur Autobahn war der Zielhang, an dem die Schützenscheiben aufgestellt waren.

Weiter gehts zum Restaurant Muggenbühl, wo wir uns aus Primar- und Sekundarschule jährlich zur Klassenzusammenkunft treffen. Zahlreiche Familien sind mit zahlreichen Kindern unterwegs, auch Kinderwagen stossende Männer und joggende Frauen oder umgekehrt. Der Spielplatz wird rege genutzt.  

Das Restaurant Muggenbühl
Das Restaurant Muggenbühl

Nach diesem Abstecher durch die Natur erreiche ich in der Senke bei der Mutschellenstrasse wieder die Zivilisation. Steil führt dort eine Treppe hinauf zur Scheideggstrasse. Die Gegend hier ist mir kaum bekannt, ruhige Wohnlage, moderne Bauten wechseln sich ab mit Häusern aus der Zeit der ersten Überbauung.

Beim Grethenweg erhasche ich erstmals wieder einen Blick auf den Zürichsee. Nachdem ich den alten Dorfkern beim Haumesser durchquert habe, ist es nicht mehr weit bis zum Bahnhof Wollishofen, wo ich meine Stadtwanderung beende. Schön wars, Vertrautem wieder zu begegnen und Neues zu entdecken. 

Anreise: Mit dem Bus 161 vom Bürkliplatz zur Landiwiese.

Anforderung: 10.5 km, 193 m auf- und abwärts, 2 3/4 Stunden.

Route: PDF von SchweizMobil

Adrian Michael

Adrian Michael hat 37 Jahre lang an der Zolliker Primarschule unterrichtet. Seit 2017 ist er pensioniert. Nebst der Zolliker Lokalgeschichte gehört auch das Wandern zu seinen Steckenpferden.

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Danke Adrian Michael für den gelungenen Bericht über Wollishofen, der mich alte Wollishoferin sehr gefreut und in nostalgische Stimmung versetzt hat: 1948 Kindergartenzeit bei Frau Specker.
An der Widmerstrasse auf den Migros Wagen gewartet, der das erste Eiscreme (Vanille, Schoko, Erdbeeren) verkaufte. Most im heutigen Ortsmuseum geholt u dort auch Apfel geklaut. Bisquitbruch bei Aeschlimann gekauft. im Schwimmunterricht im See (Anwesenheitspflicht bis 15 °) geschlottert.
1967 Heirat in der rosaroten Kirche…dann leider für Jahre vom Kreis 2 weggezogen – nach Thailand, Afrika, Sri Lanka und 1980 im Säuliamt gelandet. Meine Spielkameradin Elisabeth Schmid (8.11.43-24.4.24) hat sich sehr für die Gründung und Führung des Dorfmuseums engagiert. Ein Besuch lohnt sich!

Lieber Adrian. Besten Dank für diesen tollen Wandervorschlag über Dein Zürcher Heimatquartier Wollishofen! Vor allem sind die Fotos sehr schön! Herzliche Grüsse aus Wollishofen, Sebastian Brändli, wollipedia.ch

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