«Es wird ein langer, steiniger Weg»
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25. November 2022 – Am Sonntag wird über die Aufhebung der «Initiative Widmer» abgestimmt. Jürg Widmer spricht über die fünfjährige Leidenszeit und die Gründe für das Scheitern des Projekts, über seine Erwartungen an die Gemeinde in Sachen genossenschaftlicher Wohnungsbau – und über die Gründe für seinen Austritt aus der SVP Zollikon. (6 Kommentare)
25. November 2022 – Am Sonntag wird über die Aufhebung der «Initiative Widmer» abgestimmt. Jürg Widmer spricht über die fünfjährige Leidenszeit und die Gründe für das Scheitern des Projekts, über seine Erwartungen an die Gemeinde in Sachen genossenschaftlicher Wohnungsbau – und über die Gründe für seinen Austritt aus der SVP Zollikon.
INTERVIEW: RENE STAUBLI
Jürg Widmer, am Abend des 22. März 2017 nahmen 805 Personen an der Gemeindeversammlung teil, die über die Zukunft des Beugi-Areals entscheiden sollte. Der Gemeindesaal war bis auf den letzten Platz besetzt, und es gab eine Übertragung in die Turnhalle Oescher für jene, die keinen Einlass gefunden hatten. Was ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?
Die langen, teilweise erbitterten und nicht immer sachlichen Wortmeldungen. Der Gemeinderat wollte das Beugi-Areal im Baurecht an die Stadtzürcher Baugenossenschaft Zurlinden abgeben und den Grossverteiler Coop unterirdisch einquartieren. Wir haben den Grossverteiler abgelehnt, weil er kein Leben ins Dorf gebracht hätte, sondern nur mehr Verkehr. Wir wollten preisgünstige Wohnungen bauen. Schliesslich stimmte die Mehrheit der Anwesenden für unser Projekt.
Das war aber noch nicht das Ende der Veranstaltung.
Nationalrat Beat Walti von der FDP stand auf und ging nach vorne zum Rednerpult. Er verlangte eine Urnenabstimmung und erhielt das nötige Drittel der Stimmen.
Weite Teile des Publikums waren empört. Waltis Aktion war zwar gesetzeskonform, aber es wurde klar, dass die Gemeindeversammlung nur eine Alibi-Übung ist, wenn es um wirklich wichtige Geschäfte geht.
Mein Sohn und seine Kollegen sagten, das sei die letzte Gemeindeversammlung gewesen, die sie besucht hätten. «Was sollen wir uns bis nachts um halb zwölf Diskussionen anhören, abstimmen, und am Schluss kommt einer und hebt das Ergebnis einfach auf?», fragten sie. Das hat viele Junge, aber auch Ältere von der Politik und von der direkten Demokratie enttäuscht.
Die Urnenabstimmung, die mehr als ein Jahr später im Juni 2018 stattfand, endete mit einer Überraschung. Die «Initiative Widmer» wurde mit 2363 Ja zu 1876 Nein angenommen. Wie haben es die Genossenschaften geschafft, sich gegen das Zolliker Polit-Establishment durchzusetzen?
Wir haben Flyer gemacht, eine Website eingerichtet, sind auf den Dorfplatz gegangen, haben Plakataktionen durchgeführt und alle unsere Mitglieder angeschrieben. Ich glaube, dass der Umgang mit der Stimmbevölkerung an der Gemeindeversammlung viele Leute verdrossen hat. Auch solche, die sonst nicht an die Urne gehen, haben zu mir gesagt: «Das wollen wir uns nicht bieten lassen.»
Wie war die Stimmung bei den Genossenschaften nach dem Sieg?
Wir hatten natürlich Freude, aber wir waren schon nach der Gemeindeversammlung überzeugt von unserer Sache. Hätte ich damals allerdings gewusst, was noch alles passieren würde, hätte ich unseren Vorstoss lieber «Initiative Beugi» als «Initiative Widmer» genannt, aber einer musste den Namen geben, weil das Gesetz es bei einer Einzelinitiative so verlangt.
Es folgte eine vierjährige, für die Bevölkerung völlig intransparente Planungsphase, die im letzten Februar mit einem Knall endete: Die Projektierung wurde abgebrochen, weil die Initiative «nicht umsetzbar» sei. In den «ZollikerNews» haben Sie damals gesagt: «Wir sind sehr enttäuscht, dass es offensichtlich nicht möglich ist, unsere Pläne im Dorfzentrum zu verwirklichen.» Woran ist die Initiative Ihrer Meinung nach gescheitert?
Sie ist an jenem Tag gescheitert, an dem der Kanton von der Gemeinde eine Bedarfsanalyse einforderte. Er wollte wissen, warum das Beugi-Areal nicht länger als Zone für öffentliche Bauten benötigt werde. Wir hatten die Gemeinde schon ganz am Anfang der Projektphase aufgefordert, eine saubere Aufstellung zu ihrem längerfristigen Liegenschaften-Bedarf zu machen…
… was sie aber nicht tat…
… worauf der Kanton der Gemeinde vorhielt: Ihr habt beim Oescher ein Provisorium aufgestellt und es ein Jahr später aufstocken müssen. Ihr habt Provisorien beim Sekundarschulhaus Buechholz. Ihr seid mit dem Mittagstisch ins ehemalige Altersheim Beugi gezogen, auch das eine vorübergehende Lösung. Und im Zollikerberg habt Ihr auch noch Provisorien. Wenn man so dasteht, bekommt man vom Kanton natürlich keine Bewilligung, aus einer Zone für öffentliche Bauten eine Wohn- oder gemischte Wohn- und Gewerbezone zu machen. Ich verstehe den Entscheid des Kantons voll und ganz, finde es aber einfach schade, dass die Gemeinde so lange gewartet hat, bevor sie bei der Kantonalen Baudirektion eine Stellungnahme eingeholt hat.
In den Abstimmungsunterlagen sagt die Gemeinde, die Basis für die Umzonung sei weggefallen, weil sich die Verhältnisse in den letzten zehn Jahren erheblich verändert hätten: Die Bevölkerung habe um 8,6% zugenommen, die Zahl der PrimarschülerInnen gar um 24,2%. Deshalb müsse der Ortskern für zusätzlichen Schulraum, Grün- und Freiflächen sowie Massnahmen gegen die Hitzebelastung reserviert bleiben. Sind diese Argumente aus Ihrer Sicht stichhaltig?
Das Argument mit dem Schulraum ist sicher berechtigt. Bei der Aussage, dass sich die Verhältnisse «in den letzten zehn Jahren» erheblich verändert hätten, muss man sich schon fragen, warum man diese Entwicklung nicht schon vor vier oder fünf Jahren erkannt hat. Wir haben das von Beginn an moniert und gesagt: «Macht doch einmal eine Bedarfsanalyse, braucht Ihr nicht mehr Schulraum?»
Wir haben ein grosses, weitgehend unbebautes Schulareal zwischen Gemeindehaus und Gemeindesaal, auf dem durchaus zusätzlicher Schulraum entstehen könnte.
Wenn ich mir Gemeinden wie Wetzikon ansehe, wo die Umgebung der Schulhäuser zubetoniert ist, bin ich froh um die Weitläufigkeit unserer Anlage. Ich würde auf dem Oescher-Areal nicht zusätzlichen Schulraum bauen, vielleicht mit Ausnahme eines Betreuungshauses, wie es früher einmal geplant war, aber aus Kostengründen abgelehnt wurde.
Der zweite Knackpunkt betrifft die Mehrwertabgabe. In den Abstimmungs-Unterlagen schreibt die Gemeinde, dass bei einer Abwälzung der fälligen 4,7 Millionen Franken auf die Baugenossenschaften die Schaffung von Wohnungen im mittleren Preissegment nicht mehr möglich gewesen wäre.
Die Überwälzung der Mehrwertabgabe hätte unser Projekt natürlich verteuert, das ist schon richtig.
Die Gemeinde verschweigt allerdings einen wichtigen Punkt: Laut Auskunft der kantonalen Baudirektion hätte sie die Mehrwertabgabe auch selber bezahlen und die Genossenschaften entlasten können.
Die Rechnungsprüfungskommission und die meisten Parteien waren immer gegen unsere Initiative. Wenn wir mit der Forderung gekommen wären, die Bevölkerung müsse nebst einem vergünstigten Baurechtszins auch noch eine Mehrwertabgabe von fast fünf Millionen Franken finanzieren, hätten wir an der Gemeindeversammlung keine Chance gehabt, davon bin ich überzeugt.
Das alles in allem zehnjährige Beugi-Planungsdebakel hat die SteuerzahlerInnen 1,8 Millionen Franken gekostet. Als Einwohner von Zollikon hat man ganz allgemein das Gefühl, dass jahrelang geplant wird und am Schluss doch nichts dabei herauskommt. Wie gross ist der politische Schaden?
Aus meiner Sicht ist der Schaden rückblickend nicht so gross. Schlimm wäre, wenn der Gemeinderat nach der Urnenabstimmung sagen würde: «Die ‹Initiative Widmer› ist gestorben. Wir haben das Beugi als Wohnheim an die ETH vermietet und dort einen Mittagstisch eingerichtet – eigentlich müssen wir im Moment gar nichts machen, läuft doch ganz gut.» Der Gemeinderat muss noch in dieser Legislatur aufzeigen, wie es im Dorfzentrum weitergehen könnte. Nach meinem Wissensstand hat man noch keine konkreten Vorstellungen davon.
Machen Sie sich ein Gewissen, weil Sie das ursprüngliche Projekt des Gemeinderats verhindert haben?
Im Gegenteil. Ich bin sogar stolz, dass wir den unsäglichen Plan mit dem Grossverteiler verhindern konnten und das Land im Zentrum von Zollikon weiterhin für eine öffentliche Nutzung zur Verfügung steht. Unterirdische Einkaufszentren sind nicht mehr zeitgemäss, man sieht das auch andernorts. Ich finde es auch gut, dass die Genossenschaft Zurlinden den Zuschlag nicht bekommen hat, die eigentlich ein Investor ist, der den eigenen Handwerkern Aufträge vermitteln will. Das Zolliker Gewerbe wäre im eigenen Dorf auf der Strecke geblieben.
In der Parole der EVP zur Abstimmung heisst es: «Von den Initianten, die für Ihr Projekt dazumal viel Herzblut, Geld und Fleiss investiert hatten, ist zur geplanten Aufhebung nicht das leiseste Wort zu vernehmen. Ob die wohl mundtot gemacht wurden?»
Wir wurden nicht mundtot gemacht, überhaupt nicht. Wir fanden einfach, es reiche, wenn die Gemeinde die Öffentlichkeit informiert.
Dann stimmt nicht, was man gerüchtehalber hört: die Gemeinde und die Präsidenten der Genossenschaften hätten am Schluss einen Deal abgeschlossen – die Genossenschaften verzichten auf lauten Protest und bekommen im Gegenzug eine Option auf das gemeindeeigene Grundstück Roswies im Zollikerberg, damit sie dort Wohnungen bauen können?
Nein, einen solchen Deal hat es nicht gegeben.
Nach dem Abbruch haben Sie gesagt, eines sei klar: «Wir Genossenschaften geben das Projekt Beugi nur auf, wenn wir von der Gemeinde adäquaten Ersatz für den Bau gemeinnütziger Wohnungen bekommen.» Wie steht es damit?
Konkret gibt es noch nichts. Es wurde eine Liste mit den gemeindeeigenen Liegenschaften erstellt, die sich für den Wohnungsbau eignen. Die Roswies steht oben auf dieser Liste, aber wir sind weit davon entfernt, dass dort gebaut wird, weil es wahnsinnig viele verschiedene Interessen gibt. Die einen träumen von einem Zentrum im Zollikerberg, einmal habe ich sogar etwas von einem geplanten Streichelzoo gehört, andere wollen die Wiese als grünen Fleck erhalten. Es wird ein langer, steiniger Weg sein, bis man dort Wohnbaupläne verwirklichen kann.
Wie steht es mit der Alternative an der Rütistrasse unterhalb der katholischen Kirche im Dorf?
Dieses Grundstück käme für uns ebenfalls in Frage. Wir haben weitere Parzellen angeschaut, die aber höchstens ein Wohnhaus hergeben. Das ist zu wenig für genossenschaftlichen Wohnungsbau. So oder so ist klar, dass wir auf eine Baurechtsvergabe der Gemeinde zu einem vergünstigten Zins angewiesen sind. Anders ist es in Zollikon gar nicht mehr möglich, Wohnungen mit Mieten unter den gängigen hohen Marktpreisen anzubieten.
Wie viele Wohnungen müssten es denn sein, damit sich die Genossenschaften zufriedengeben?
Das haben wir im Detail noch nicht diskutiert. Schön wären sicher 30 Wohnungen.
Was schwebt den Genossenschaften denn vor: Einfach nur preisgünstige Wohnungen hinstellen oder ein innovatives Quartier der Zukunft auf der Basis eines Ideenwettbewerbs entwerfen?
Solche Würfe sind heute kaum mehr möglich. Die Roswies ist eine der letzten grossen Landreserven der Gemeinde für den Wohnungsbau und allenfalls Gewerbebetriebe. Grössere Wohnbauprojekte, wie wir sie im Breitacherquartier haben oder an der Schützenstrasse, kann man in Zollikon nicht mehr realisieren. In der Roswies könnte man sicher etwas Schönes machen.
Welche Rolle werden Sie in diesem Prozess spielen?
Das haben wir noch nicht definiert. Ich werde nächstes Jahr 67 und setze mich nach wie vor für unsere Genossenschaften ein. Aber jetzt sollten dann langsam die Jungen das Ruder übernehmen.
Sie haben die SVP von 1999 bis 2010 im Gemeinderat vertreten. An den SVP-Anlässen in Zollikon sieht man Sie nie. Haben Sie sich aus der Politik zurückgezogen?
Ich habe unmittelbar nach der Beugi-Gemeindeversammlung den Austritt aus der SVP Zollikon gegeben, die mich hart attackiert hat.
Das war das Ende Ihres politischen Engagements?
Ich interessiere mich nach wie vor sehr für Politik, aber ich möchte nicht mehr aktiv politisieren und kann auch die Linie der SVP nicht immer unterstützen. Als Unabhängiger zu leben, finde ich einfacher.
Verraten Sie uns zum Schluss noch ihre Abstimmungsempfehlung zur Aufhebung der «Initiative Widmer»?
Ein klares Ja zur Aufhebung. Man kann gar nicht anders. Wenn man jetzt Nein sagt, erreicht man gar nichts mehr.
Jürg Widmer (Jg. 1956) ist Präsident der Neuen Baugenossenschaft Zollikon und Vizepräsident des Zolliker Gewerbevereins
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Nein, Sie verstehen mich nicht richtig, Herr Staubli! Ich sprach von durch einseitige Mobilisierung zu Stande gekommenen Entscheiden der Gemeindeversammlung, die durch eine Urnenabstimmung korrigiert, bzw. wie im Fall der Initiative Widmer legitimiert werden können. Genau dafür hat der Gesetzgeber dieses Instrument m.E. geschaffen! Damit wollte er die Gemeindeversammlungen stärken, weil sie so der möglichen Manipulation durch interessierte Kreise entzogen werden können!
Danke für die Erklärung, Herr Eschmann.
Eigenartiges Verständnis von Demokratie! Was ist daran demokratisch, wenn sich Interessengruppen in einer Gemeindeversammlung, an der gerade mal 10% der Stimmberechtigten teilnehmen (können), dank Lobbying durchsetzen? Wirklich demokratisch legitimiert war die Initiative Widmer erst nach der gewonnen Urnenabstimmung, an der ALLE Stimmberechtigten die Möglichkeit hatten, ihre Stimme abzugeben!
Verstehe ich Sie da richtig, Herr Eschmann: Sie sprechen der Gemeindeversammlung die demokratische Legitimierung ab? Konsequenterweise müssten Sie dann die Gemeindeversammlung abschaffen, oder nicht?
DANKE Jürg für Deinen stetigen grossen Einsatz für uns Zolliker, trotz vieler persönlicher Anfeindungen. Deine gewonnene Initiative ist nun leider bürokratisch gescheitert. Du hast immerhin verhindert, dass das Dorfzentrum und Beugi-Areal in fremde Hände «verkauft» wurde. Dafür mein Respekt.
Auf dem Oescher-Areal war damals kein Betreuungshaus geplant (dieses wurde ja gebaut, aber nachher umfunktioniert), sondern ein Gebäude für Kindergarten und Musikschule, analog zum Rüterwis D, das im Zollikerberg später doch noch verwirklicht wurde.
Sowohl dieses Projekt wie auch das Kindergarten-/Musikschulprojekt im Zollikerberg wurden an einer Gemeindeversammlung bachab geschickt. Damals hatten sich Leute zu Wort gemeldet, die nicht einmal eigene Kinder hatten und trotzdem von vergangenen Zeiten schwärmten, in denen es noch heimelige Quartierkindergärten gab und beim Läuten des Elfiglöggli alle Kinder nach Hause zum Zmittag durften. Das war die letzte Gemeindeversammlung, die ich besuchte.