«Gott erleidet an Karfreitag Schiffbruch»
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15. April 2022 – In der reformierten Kirche Zollikon fand am Karfreitag ein berührender Gottesdienst statt. Mit einer Predigt, die zum Nachdenken anregte, und musikalischen Darbietungen des Chors, des Streichquartetts und der Vokal-SolistInnen, die unter die Haut gingen. (3 Kommentare)
15. April 2022 – In der reformierten Kirche Zollikon fand am Karfreitag ein berührender Gottesdienst statt. Mit einer Predigt, die zum Nachdenken anregte, und musikalischen Darbietungen des Chors, des Streichquartetts und der Vokal-SolistInnen, die unter die Haut gingen.
VON PFARRER SIMON GEBS
«Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?», klagt Jesus am Kreuz. Wenig später stirbt er mit einem lauten Schrei. Heute ist Karfreitag. Im Zentrum des Erinnerns steht eine unglaublich brutale Hinrichtung eines grossen Menschenfreundes. Aber was hat dieser Tod mit uns zu tun? Wozu um Himmels Willen Karfreitag? Genügt es nicht, dass Jesus gelebt hat und wesentliche Werte gelehrt hat? Und wo war Gott an Karfreitag? Hatte er ein freies Wochenende? Und wenn Gott irgendwas mit diesem Jesus von Nazareth zu tun hatte – schliesslich sprechen wir von ihm ja als Sohn Gottes: Warum hat Gott nicht eingegriffen?
Liebe Mitdenkende, sie merken, Fragen über Fragen, ich ringe auch nach einem Vierteljahrhundert Pfarramt mit Karfreitag: Gott schickt seinen Sohn, der stirbt für unsere Sünden und versöhnt uns durch dieses Opfer mit sich selbst. Das ist eine Sprache, die mich echt nicht mehr erreicht. Sie ist mir zu glatt, zu dogmatisch. Vielmehr beschäftigt mich ein zunächst ungeheuerlicher Gedanke: Gott und Scheitern müssen wir zusammendenken. Wie komme ich dazu?
Es ist ja christliche Grundüberzeugung, dass in diesem Menschen Jesus von Nazareth das innerste Wesen von Gott zum Ausdruck kommt, in dem, wie er gelebt und was er gelehrt hat. Halten wir an diesem Geheimnis fest, dann müssen wir an Karfreitag konsequent bleiben und Gott am Kreuz mitleiden und mitsterben sehen. Daher der Gedanke, dass Gott auf Golgatha kolossal mitgescheitert ist. Der ganze Plan, in und mit diesem Jesus ein Reich Gottes aufzubauen, wo 7x70x vergeben wird, einer die andere Backe auch noch hinhält, wo Geben als seliger erfahren wird als Nehmen, ist offensichtlich für den Schredder.
Und wenn ich von «scheitern» spreche, dann ist nicht einfach ein «Flop» gemeint wie ein misslungener Versuch beim Hochsprung. Der lässt sich korrigieren. Das deutsche Verb «scheitern» kommt von «Scheit» und bezieht sich auf die Erfahrung des Schiffsbruchs, wo ein Schiff an Felsen zerschellt und in seine Einzelteile zerlegt wird. Da gibt’s nichts mehr zu retten. Gott erleidet an Karfreitag also Schiffbruch.
Scheitern ist uns vertraut
Viele von uns kennen Schiffbrüche aus eigener Erfahrung. Eine Partnerschaft geht in die Brüche, obwohl man der festen Überzeugung war, dass einem das nie passieren wird. Wir landen in einem Burnout, obwohl wir nach aussen stets die Starken markierten. Eine Krebsdiagnose oder ein plötzlicher Tod erschüttert die Grundfesten unseres Lebens. Scheitern tut weh. Erst recht in unserer Zeit, in der Freiheit und Selbstoptimierung hoch im Kurs stehen. Wenn’s dann faustdick kommt, ist verständlicherweise Krise. Grundsätzlich haben wir doch Anspruch auf Glück und Verschont sein … Nur, Leben ohne Scheitern, ohne schmerzhafte Zäsuren und Rückschläge ist kaum zu haben.
Die meisten unter uns kennen solche schmerzhaften Seiten des Lebens. Gerade darum finde ich es notwendig, Gott und die Erfahrung, dass man zuweilen ganz unten durch muss, zusammenzudenken. Wenn Gott mit und in diesem Jesus diese schmerzhafte Erfahrung des Todes gemacht hat, dann ist er mir in meinen Erfahrungen näher. Da, wo ich mich frage: Gott wo bist du?
Wenn wir Gott ständig und exklusiv mit Allmacht und Souveränität verbinden, was sollen wir mit ihm anfangen, wenn das Leben weh tut? Ist Gott uns nicht näher, wenn er mitweint, wenn Eltern ihr tödlich verunfalltes Kind verabschieden müssen, wenn er mitleidet, wo Grosseltern, Mütter und Kinder im Keller verzweifelt Schutz vor Bomben suchen? Ein Gott, der auf Golgatha unten durch musste, der Ohnmacht am eigenen Leib erfahren hat, macht mir Mut, das, was in meinem Leben weh tut, echt schief gelaufen ist, nicht zu verdrängen.
Wenn Gott auch gescheitert ist, darf das, was in meinem Leben nicht aufgeht, Platz haben. Dann dürfen wir damit rechnen, dass er grad in diesen Erfahrungen nah ist. Ich glaube, Karfreitag hat so das Potenzial, uns menschlicher zu machen, geduldiger, verständnisvoller mit uns selbst und auch mit unseren Mitmenschen.
Gott ist dort, wo das Leben weh tut
Karfreitag bringt also eine Seite des Lebens zur Sprache, die wir gerne verdrängen. Die Erfahrung persönlicher Rückschläge und auch die Realität, dass Menschen unter die Räder geraten. Das erleben wir hautnah in der Zeit, in der wir drinstecken. Zwei Jahre Pandemie haben Substanz gekostet, nun der unsägliche russische Angriffskrieg in der Ukraine. Unglaublich, was Menschen einander antun können. Da stehen wir ebenso vor der Frage: wo ist Gott? Oben im Himmel an den Schalthebeln des Schicksals?
Nein, Karfreitag legt es uns nahe, Gott ganz unten zu sehen. Gott nicht auf der Seite der Gewinner zu verorten, sondern dort, wo Menschen gebeutelt und durchgeschüttelt werden. Ja, Karfreitag ermutigt uns, an einen Gott zu glauben, der Angst kennengelernt hat, dort dabei ist und bleibt, wo das Leben weh tut.
Und das hat Auswirkungen. Wir müssten dann doch sensibler werden gegenüber Menschen, die privat einen Schiffbruch erleiden. Und wir müssten feinere Sensoren entwickeln, die Alarm schlagen, wenn Kirchen und Machthaber Gott und Triumph, Gott und Macht, Gott und Krieg für sich beanspruchen. Die Botschaft von Karfreitag hat darum nicht nur einen tröstenden Aspekt für uns einzelne. Nein, Karfreitag hat auch ein kritisches Potenzial gegenüber Perversionen von Macht. Wer Gott nicht triumphal «ganz oben» denkt, sondern «ganz unten», der wird nicht mehr rücksichtslos gewinnen müssen, um glücklich zu sein. Wer Gott ganz unten denkt, den zieht es vielmehr zu den Weinenden und Verzweifelten.
Karfreitag, so unmenschlich es auf Golgatha zu und her gegangen ist, hat also letztlich ganz viel mit Mitmenschlichkeit zu tun. Wie wäre es also, wenn wir mit Gott an diesem Punkt innerlich ein Bündnis eingehen würden? Ein Bündnis von Empfindsamen, die ein Sensorium entwickeln für die traurigen und verlorenen Seiten von Menschen. Ein Bündnis von Glaubenden auch, die nicht recht haben müssen, sondern schlicht bereit sind, an diesem Geheimnis der Liebe dranzubleiben. Ein Bündnis von Unverbesserlichen, die wider alles Sichtbare auf das hoffen, was Ostern uns versprechen wird. Nämlich: Der Tod in all seinen Facetten hat nicht das letzte Wort. Alles ist möglich. Amen.»
Hier geht es zum «Nachgefragt» – kritische Fragen zur Predigt von Simon Gebs
Und hier zur Aufzeichnung der TV-Übertragung
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Ich komme etwas spät. Mit den Ausführungen von Pfr. Gebs habe ich sehr grosse Mühe und kann es nicht verstehen, wie er die Allmacht Gottes anzweifelt, sogar verneint. Wie geht das mit dem Glaubensbekenntnis zusammen, welches in jedem Gottesdienst von ALLEN gesprochen wird? In den Tagen nach Karfreitag suchte ich immer wieder in der Presse nach diesbezüglichen Artikeln. Fand aber nichts, bis jetzt…. hier.
Das war ein perfekter Karfreitags Gottesdienst, herausfordernd zum Mit- und Weiterdenken. Dazu die wunderschöne Musik. Auch der Austausch mit Hr. Bischofberger hoch interessant. Pfarrer Simon Gebs hatte ich in guter Erinnerung vom «Wort zum Sonntag», er hat es verstanden, das Karfreitags-Thema ins Zentrum zu stellen – und die Osterbotschaft war nur ein Zukunfts-Lichtblick. Vielen Dank für die Bereicherung des Tages.
Danke, Simon (und René)!