Hass, Krieg, Terror: wie geht man damit um?

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1. Dezember 2023 – Darf man in diesen Zeiten Advent und Weihnachten feiern? Die Augen vor den schlimmen Bildern aus aller Welt verschliessen? Warum schaut Gott dem furchtbaren Treiben nur zu? Wir fragten den katholischen Pfarrer Pascal Marquard und seinen reformierten Kollegen Simon Gebs. (3 Kommentare)

1. Dezember 2023 – Darf man in diesen Zeiten Advent und Weihnachten feiern? Die Augen vor den schlimmen Bildern aus aller Welt verschliessen? Warum schaut Gott dem furchtbaren Treiben nur zu? Wir fragten den katholischen Pfarrer Pascal Marquard und seinen reformierten Kollegen Simon Gebs.

Ein frommer Wunsch: No more war (Fotos: Pixabay)
Ein frommer Wunsch: No more war (Fotos: Pixabay)

INTERVIEW: RENE STAUBLI

Terroranschläge, Krieg in der Ukraine und im Gazastreifen, Schreckensbilder und Flüchtlingsströme ohne Ende, Antisemitismus, Rechtsextremismus, Hass und Ausgrenzung auf den Social Media – wie kommen Sie persönlich damit zurecht?

Pascal Marquard

Pascal Marquard: Indem ich meine Rituale bewahre. Dazu gehört frühmorgens ein Besuch in der Kirche, wo ich meine Stille habe, wo ich in den Tag hineinwachsen kann, das gibt mir ein Fundament und hilft mir, die Themen, die tagsüber meinen Weg kreuzen, einzuordnen und mich nicht zu fest treiben zu lassen.

Simon Gebs: Ich frage mich intensiver als sonst, was mir gut tut. Mir hilft, jeden Morgen eine Kerze anzuzünden und Tagebuch zu führen, im alten und neuen Testament einige Abschnitte zu lesen, dazu nährt mich mein Schatztruckli mit biblischen Sätzen – das ist mein tägliches, spirituelles Brot. Ebenso wichtig: Ich muss raus aus der Vereinzelung und versuchen, mit anderen Menschen «Lagerfeuer» zu machen, an denen sich alle aufwärmen können wie letzthin bei unserem Kirchenfest auf dem Zollikerberg, wo wir zusammen jodelten. Das hilft.

Was merken Sie vom aktuellen Zustand der Welt in Ihrem kirchlichen Umfeld?

Simon Gebs

Gebs: Im letzten «Reden über Gott und die Welt», eine monatliche Gesprächsrunde im Wohn- und Pflegezentrum Blumenrain, kamen sofort die politischen Konflikte zur Sprache, die Brutalitäten, das Monströse, aber auch die eigene Hilflosigkeit angesichts der Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine. Von Psychologinnen und Psychologen höre ich, dass Menschen mit knappen Ressourcen ihren Alltag bald nicht mehr stemmen können. Depressive können nicht mehr arbeiten und steigen aus, weil die Gesamtbelastung zu gross geworden ist. Im Gottesdienst herrscht eine etwas «tuuche» Stimmung. Die Frage, woher man die Kraft nehmen soll, um mit der Realität fertig zu werden, bewegt die Menschen.

Marquard: Von dem, was ich im Alltag in Zollikon und Zumikon erlebe, bin ich oft stärker betroffen als durch das, was ich aus den Medien erfahre. Wenn ich eine alleinerziehende Mutter vor mir habe und sehe, wie sie kämpfen muss, obwohl sie eine günstige Wohnung hat, aber nicht weiss, wie sie ihre Rechnungen bezahlen und Weihnachten feiern soll, dann geht mir so etwas viel näher. Aber natürlich realisiere ich auch, wie betroffen viele Menschen von den Medienberichten aus den Krisenherden sind. Ihre Ängste versuche ich im Gottesdienst, in der Predigt oder in den Fürbitten aufzugreifen. Ich merke dann, dass die Aufmerksamkeit anders ist, dass die Resonanz bei den Zuhörern viel intensiver ist als bei anderen Themen.

Suchen die Menschen Trost?

Marquard: Ich weiss nicht, ob Trost das richtige Wort ist. Sie suchen vielmehr Halt und fragen sich: Woran und an wem kann ich mich orientieren, um mit den schlimmen Nachrichten besser fertig zu werden?

Gebs: In schweren Zeiten wie diesen ahnen viele, dass das Menschsein als Soloprogramm nicht mehr ausreicht. Sie merken, dass man sich nicht alles selber geben kann, und dass man auch nicht alles selber bewältigen können muss. Sie gestehen sich ein, dass sie auf die Gemeinschaft angewiesen sind, dass es ihnen gut tut, mit anderen Menschen zusammen zu sein und sich mit ihnen auszutauschen. Eine Möglichkeit dazu bietet der Gottesdienst.

Was raten Sie Menschen, die mit den schlimmen Bildern in der Tagesschau und den Social Media kaum mehr klarkommen?

Marquard: Wenn ich diese Frage gestellt bekomme, was tatsächlich vorkommt, rate ich zu einer Selbstbefragung: Wie viele mediale Informationen brauche ich? Wie viel Tagesschau, wie viele Nachrichten, wie viele Zeitungsartikel, wie viel Radio ertrage ich? Den Konsum von Informationen kann man steuern und auch begrenzen. Das empfehle ich durchaus. Ich kenne Menschen, die komplett auf Zeitungen, Nachrichten und die Tagesschau verzichten. Das ist ein sehr radikaler Schnitt, der nicht meine Sache wäre, aber ich respektiere es, wenn jemand diesen Entscheid für sich fällt. Zentral finde ich, dass man sich fragt, was einem Halt und Boden gibt.

Gebs: Unser neurologisches Alarmsystem ist dermassen scharf eingestellt, dass jede negative Nachricht fünfmal länger haften bleibt. Dessen muss man sich bewusst sein – wenn wir also dauernd Nachrichten konsumieren,  befinden wir uns ständig im Alarmmodus, was für Körper und Seele ungesund ist. wir helfen damit niemandem und bleiben auch selber nicht stabil. Wir müssen auch darauf achten, dass es uns selber gut geht. Viele Menschen verfügen über Ressourcen, die ihnen guttun. Die sollte man gerade jetzt gezielt nutzen: Spaziergänge machen, Sport treiben, Malen, ins Yoga gehen, zuhause lesen, weg vom Visuellen, weg vom Smartphone. Wir sollten das, was uns guttut, ganz bewusst in unseren Alltag einbauen, um uns ein Stück Normalität zu bewahren.

Darf man die Augen verschliessen vor dem, was ist, oder macht man sich damit schuldig?

Marquard: Mit dieser Frage habe ich mich gerade kürzlich in einer Predigt befasst. Mich dünkt, es gebe zwei Seiten. Der Mensch muss für seine eigene Gesundheit schauen dürfen; der Selbstschutz ist ganz wichtig. Ich muss mir selber nicht alles zumuten, ich muss auch nicht für alle alles geben. Sich abzugrenzen, halte ich für legitim. Andererseits gehört auch die Anteilnahme zu unserem christlichen Verständnis. Ich kann also meine Augen nicht grundsätzlich vor dem Leid verschliessen. Es gilt, einen Mittelweg zu finden.

Gebs: Ehrlicherweise müssen wir uns zugestehen, dass wir gar nicht mehr über die Runden kommen, ohne zu verdrängen. Die Globalisierung und die schnelle Verbreitung von Leid und Unrecht, Tragödien und Dramen über das Internet haben die Wucht eines permanenten Tsunamis. Es wäre eine totale Überforderung, dauernd und universal empathisch zu sein. Dafür ist weder unser Herz noch unser Hirn gemacht. Das tönt jetzt ein wenig kühl, aber das ist die Realität. Mir hilft bei aller Verletzlichkeit die Frage: Bin ich in der Verantwortung? Habe ich diese Zustände mitverursacht? Gleichzeitig möchte ich mir einen Auftrag geben: Wo kann ich helfen? Wo kann ich im Rahmen meiner Möglichkeiten handeln: gehe ich an eine Demo, oder schreibe ich einer Person in einem WhatsApp, dass ich an sie denke, oder spende ich jetzt einer Hilfsorganisation einen Betrag? Es gibt viele Möglichkeiten.

Wenn man sich die Krisenherde auf dieser Welt anschaut, könnte man zum Schluss kommen, Religion sei des Teufels – sie spielt fast überall eine zentrale Rolle.

Gebs: Wie alles im Leben hat auch die Religion das Potenzial zum Destruktiven und Monströsen. Die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine haben definitiv auch eine religiöse Komponente, aber die Ursache ist nicht religiös. Treiber der Konflikte sind vielmehr politische Interessen. Wenn sich Machthaber fragen, wie sie Menschen emotionalisieren und für ihre Ziele einspannen können, drängt sich die Religion sehr schnell auf. Man sieht das daran, wie in der russischen Kirche mobilisiert wird für den Angriffskrieg gegen die Ukraine, man hat es beim «Islamischen Staat» gesehen, und man sieht es oft auch bei der Mobilisierung der Religion bei verschiedenen Interessensgruppen in Israel. Machthaber können bei der Mobilisierung auf die eigene Ethnie, Nation oder auf die Religion setzen – das sind die drei wichtigsten Treiber. Die Aussage, dass die Religion des Teufels sei, dünkt mich ein wenig undifferenziert, man muss genauer hinschauen.

Marquard: Die Religion wird immer wieder zum Sündenbock gemacht. Man hat einfach gerne eine einfache Antwort auf eine viel komplexere Realität. Meiner Meinung nach hat die Religion in erster Linie etwas Verbindendes. Sie verbindet nicht nur die Mitglieder des eigenen Glaubens, sondern bietet auch Andockmöglichkeiten an andere Religionen. Im Nahen Osten sind hauptsächlich die Religionen der Juden, des Islams und der Christen vertreten. Bei allen ist das Liebesgebot zentral. Natürlich kann man die Religionen instrumentalisieren, und es gibt auch kontroverse Aussagen in den Schlüsselreligionen. Aber die Religionen pauschal als Verursacherinnen solcher Konflikte zu bezeichnen, das greift definitiv zu kurz.

Gebs: Diese Differenzierung dünkt mich extrem wichtig. Man könnte genügend Suren aus dem Koran, Passagen aus der Thora oder aus dem Neuen Testament zitieren, mit denen man Gewaltanwendung legitimieren kann. Es ist wie beim Menschen, einem hoch ambivalenten Wesen, bei dem sich immer die Frage stellt, welchen Wolf man gerade füttert – den guten oder den bösen? Jede menschliche Manifestation und da gehört die Religion dazu, hat das Potenzial zum Negativen, ich will es nicht verharmlosen, aber es muss nicht notwendigerweise so sein. Im Umkehrschluss, wenn man die Religionen aus unserem Leben herausdestillieren könnte: wäre die Welt dann friedlicher? Ich glaube nicht.

Einmal mehr schaut Gott nur zu – in der Ukraine, in Berg Karabach, in Israel, im Gazastreifen – sind Sie zufrieden mit seiner Leistung?

Marquard: Gott hat dem Menschen in erster Linie die Fähigkeit verliehen, Gut von Böse und Richtig von Falsch zu unterscheiden, und er traut dem Menschen zu, dass er das auch macht. Wenn man jemandem etwas zutraut, dann muss man ihm auch das Übungsfeld überlassen. Wenn sich dann der Mensch für das Böse oder Falsche entscheidet, heisst das nicht, dass Gott daran schuld ist. Das ist dasselbe wie bei Eltern und ihren Kindern. Man kann einem Kind nur dann Entfaltung ermöglichen, wenn man ihm zuerst die Mittel in die Hand gibt und anschliessend die Freiheit, etwas selber zu gestalten.

Allerdings greife ich als Vater ein, wenn mein Kind dauernd Schaufenster einschlägt…

Marquard:Ja, solange es noch unter der Obhut ist. Aber wenn es das Haus verlassen hat, werden sich die Eltern nicht mehr einmischen. Ein Gott, der den Menschen Reife zugesteht, kann nicht mehr eingreifen.

Gebs: Ich finde die Frage insofern berechtigt, als dass sie ja von einer Existenz Gottes ausgeht, zumindest bildhaft. Ich möchte vor der Beantwortung eine Gegenfrage stellen: Von was für einer Art Gott reden wir hier eigentlich?

… von einem Gott, der Sorge trägt, dass es auf der Welt möglichst anständig zu und hergeht…

Gebs: Wenn mit Sorge tragen gemeint ist, dass Gott verantwortlich ist und intervenieren sollte,dann entspricht dies nicht meinem Gottesbild, an diesen Gott glaube ich nicht.

Sondern?

Gebs: Wenn Gott allmächtig wäre, müsste er ja eingreifen können. Ich sehe einen Gott jenseits von jeder Souveränität oder Allmacht vor mir, der fast verzweifelt, der weint, der wütend und  ohnmächtig ist angesichts dessen, was die Menschen anrichten. Diese Ohnmacht kommt am Kreuz zum Ausdruck. Ich sehe einen Gott, der sich nicht abwendet, aber letztlich ausgeliefert ist. Wenn man mich fragt, wo Gott jetzt ist, dann sage ich: Er ist bei den Familien in Israel, die Angst um ihre verschleppten Angehörigen haben, und er ist bei den Zivilisten in Gaza und in der Ukraine, die nichts für den Krieg können und durch die Hölle gehen.

Dürfen wir bei dieser Weltlage noch Advent und Weihnachten feiern?

Marquard: Ob man in diesen Zeiten Advent und Weihnachten feiern kann, hängt auch vom Verständnis ab, das man davon hat. Wenn man Weihnachten nur noch als Austausch von Geschenken und materiellen Gütern anschaut, darf man die Frage durchaus mit Nein beantworten. Dann täte man besser daran, das Geld für gute Zwecke auszugeben. Ich verstehe Weihnachten als Fest der Liebe und der Beziehung. Wir müssen unsere Beziehungen auf ein neues Fundament stellen, das nicht materieller Natur ist, sondern auf unseren persönlichen, menschlichen Kontakten beruht. Genau dafür ist Weihnachten da. Es ist diese Form von Weihnachten, die uns in der Krise hilft.

Gebs: Ich brauche Advent und Weihnachten! Aber nicht im Sinne von «heile Welt» und «heile Familie». Die weihnachtliche Botschaft ist doch die, dass Jesus damals in eine Welt voller Chaos geboren wurde. Dass er in furchtbaren Zeiten, vergleichbar mit den heutigen, von Gott als Hoffnungsträger entsandt wurde mit der Botschaft: Ich lasse die Welt nicht im Stich. Weihnachten ist für mich ein Fest voller Hoffnung und Trotz, denn Hoffnung hat viel mit Trotz zu tun: Wir trotzen dem, was ist. Ich lasse mich nicht entmutigen von der Wirklichkeit, sondern glaube an die Möglichkeiten. Für diese Denkweise steht für mich ein Spruch, den man nach dem Krieg im Warschauer Ghetto fand, eingeritzt in eine Wand: «Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht erlebe. Und ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.»

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Herr Gebs hat mir – einmal mehr – mit klugen, einfühlsamen und sinnstiftenden Worten, die sich auch mal wohltuend von althergebrachten Dogmen abheben, vor Augen geführt, an was für Personen es generell in den Kirchen mangelt. Solange Herr Gebs weiterhin in Zollikon wirken kann, brauche ich mir jedenfalls über einen Kirchenaustritt keine Gedanken zu machen.

Wenn wir in der Adventszeit jeweils die Kerzen am Adventskranz anzünden, bitten wir Gott, allen Menschen beizustehen, denen es nicht so gut geht und jenen, die bedroht sind. Zudem beten wir täglich für den Frieden auf dieser Welt.

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