«Hereinlegen geht bei Kindern nicht»

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21. Februar 2022 – Auch Vierjährige erfassen schon intuitiv, wenn etwas mit ihnen gar nicht stimmt. Ohne dass man ihr Vertrauen gewinnt, geht im Spital überhaupt nichts. Der Zolliker Kinderarzt und «Impfpapst» Christoph Berger über den Umgang mit kleinen Patienten. 

Hand eines Kindes im Spital
Kleines Kind im Spital (Foto: iStock)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH 

Herr Berger, Sie sind Kinderarzt, was angesichts Ihrer Omnipräsenz als Präsident der Eidgenös­sischen Impfkommission fast vergessen geht. Welche Patienten sind angenehmer: Kinder oder Erwachsene? 

Für mich definitiv Kinder. Auf ein Kind muss ich vorsichtig zugehen, ich muss zuerst sein Vertrauen gewinnen, sonst öffnet es sich mir nicht und lässt mich gar nicht an sich heran. Im Grunde wäre es wünschenswert, dass wir auch den Kontakt mit den Erwachsenen auf eine so behutsame Art herstellen würden. Aber Erwachsene können darüber hinwegsehen, wenn das nicht geschieht. Bei einem Kind würden Sie auf Granit beissen. Wenn kein Vertrauen da ist, würde es anfangen zu weinen, sich abwenden oder weglaufen. 

Wie gewinnen Sie das Vertrauen eines Kindes, dem Sie zum ersten Mal gegenübersitzen?

Bei kleineren Kindern läuft viel über die Eltern, die ja in aller Regel dabei sind. Die Knaben und Mädchen spüren, wenn ihre Mutter oder ihr Vater keine Angst hat und sich mir als Arzt öffnet. Dann kann sich auch das Kind öffnen. Wichtig ist auch, dass ich das Kind einbeziehe. Ich begrüsse es zunächst einmal und spreche es auch direkt an, um ihm Schritt für Schritt mein Vorgehen zu erklären. Keineswegs in Babysprache, sondern auf eine altersgerechte Art. 

Das Reden mit einem Kind ist eins, aber dann müssen Sie es ja auch noch untersuchen. Nicht alle Kinder lassen sich gern von einem fremden Menschen anfassen. 

Ich kann ein Kind nur untersuchen, wenn es das zulässt. Viel finde ich schon heraus, indem ich es beobachte und wahrnehme, in welcher Verfassung es ist. Auf dem Weg können wir bereits Kontakt aufnehmen. Vielversprechend ist sicher auch, wenn ich via Eltern oder dank meinen warmen Händen oder einem freundlichen Augenkontakt, den es mit einem Lächeln beantwortet, sein «Einverständnis» gewinne. Erzwingen lässt sich gar nichts. Wir müssen jedes Kind mit seinen Eigenheiten erfassen und respektieren. Das führt zum Ziel. 

Vielleicht sollte man einen Lolli dabei haben oder einen bunten Kasper oder einen Zaubertrick vorführen. 

Das ist sehr individuell. Einen Lolli braucht es nicht, eine Ablenkung aber schon, dank der man die Aufmerksamkeit des Kindes zu etwas Unverfänglichem hinführen kann. Ob das ein Bleistift, ein Lämpchen oder ein Klapperfrosch ist, spielt keine Rolle. Auch ein Erwachsener, der im Spitalbett liegt, schätzt es, wenn der Arzt ihm erst einmal mit zwei, drei Sätzen erklärt, was er vorhat, bevor er ihm auf den Bauch drückt. Bei einem Kind geht es nicht ohne. 

Erfordert die Kindermedizin mehr Zeit? 

Definitiv. Dazu gibt es Situationen, die sich unserer Kontrolle entziehen. Studenten sagen mir oft, dass es schwierig sei, Kinder zu untersuchen, weil sie schnell zu weinen beginnen. Das kann passieren. Tatsächlich. Dann muss man aufmerksam beobachten, der Mutter zuhören, einen guten Moment erwischen und sich geschickt anstellen. So ergibt sich meistens ein Weg. 

Wovor haben Kinder am meisten Angst? 

Kinder haben Angst, wenn sie nicht wissen, was mit ihnen passiert. Sie fürchten auch, dass man sie im Spital von den Menschen trennt, die sie gernhaben. Also meistens von ihrer Mutter oder ihrem Vater. Grosse Angst haben sie natürlich auch davor, dass ihnen etwas Schmerzen bereiten könnte. Darum ist es so wichtig, dass ich als Arzt einen Plan habe, den ich ihnen beziehungsweise ihren Eltern verständlich vermittle. 

Einen Plan? 

Porträt Berger
Christoph Berger

Nehmen wir als Beispiel das Impfen. Viele Kinder haben Angst davor, dass der Stich mit der Nadel ihnen wahnsinnig weh tut. Dann bin ich gut beraten, wenn ich zunächst ihrer Mama erkläre, warum die Starrkrampf-Impfung nützlich ist. Wenn sie dann einverstanden ist, sollte sie ihrem Kind erklären, dass wir jetzt etwas machen, dank dem es gesund bleibt. Auf keinen Fall sollte sie blöde Sprüche machen wie: «Lass dich jetzt impfen! Das tut gar nicht weh.» Das ist gelogen, was die allermeisten Kinder realisieren. Wichtig ist, dass sie den Entscheid mitträgt, ruhig ist, das Kind auf den Schoss nimmt oder ihm seinen Teddybär gibt und es bestärkt. Dann wird auch das Kind ruhig, das ich im entscheidenden Moment vielleicht noch frage, wo es jetzt gerne wäre oder was ihm in den Sommerferien am meisten Spass gemacht habe. So – und zum Schluss kommt das Wichtigste, das Lob: «Das hast du jetzt sehr gut ­gemacht.» Das ist unerlässlich.

Sie haben im Kinderspital auch mit schwerkranken und sterbenden Kindern zu tun. Ab welchem Alter hat ein Kind ein Bewusstsein dafür, dass es so schlimm dran ist? 

Das setzt früh ein, wahrscheinlich schon vor dem Kindergarten. Kinder merken, wenn etwas bei ihnen nicht stimmt. Ein Kind, das einen Herzfehler hat oder eine Leukämie, realisiert schnell, wenn die Eltern in Sorge sind oder Angst haben und ihm mit ganz besonders grosser Zuwendung begegnen. Häufig vergleicht es sich auch mit einem Geschwister und fragt sich, warum es ständig ins Spital muss, der Bruder aber mit seinen Kollegen Fussball spielen darf. Schon kleine Kinder spüren, dass etwas bei ihnen gar nicht gut ist. 

Ab wann erfasst das Kind, dass es vielleicht sogar sterben wird? 

Das weiss ich nicht so genau, ich denke, mit zehn sicher, aber vielleicht auch schon früher. Ich staune immer wieder darüber, was schon sehr kleine Kinder intuitiv wahrnehmen. Sie können vor allem auch nonverbale Signale ihrer Umgebung wie bedrückte Stimmungen oder das Weinen ihrer Mutter sehr genau wahrnehmen und in ihrem Sinne interpretieren. Bei einem zehnjährigen Kind müssen auch wir Ärzte spätestens damit beginnen, es nicht nur mit einzubeziehen, sondern seinen Willen wirklich zu respektieren. 

Auch wenn sich dieser Wille gegen die Wünsche seiner Eltern richtet? 

Unter besonderen Umständen auch dann. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Ein Elfjähriger, der Leukämie hat und nach zwei Behandlungszyklen mit einer Chemotherapie erneut einen Rückfall erleidet, ist so erschöpft, dass er sagt: «Ich will das nicht mehr.» Die Eltern aber sagen: «Wir wollen es nochmal probieren.» Dann steht die unglaublich schwierige Frage im Raum, ob wir nochmals behandeln oder nicht. 

Wie entscheiden Sie? 

Als Erstes müssen wir mit den Eltern sehr ernsthaft besprechen, ob sie den Willen ihres Sohnes wahrnehmen und wie sie ihn einschätzen. Wenn es sich bei der Äusserung des Buben um die Bilanz eines schwerkranken Kindes handelt, das einfach nicht mehr mag, und dessen Chancen auf Heilung minim sind, kann es sein, dass wir entscheiden, die Behandlung einzustellen. 

Und dann suchen die Eltern mit ihrem Sohn ein anderes Spital auf? 

Vielleicht. Das kann passieren. 

Wie ehrlich sollte man mit Kindern in solch lebensbedrohlichen Situationen reden?

Ganz ehrlich. Hereinlegen geht bei Kindern nicht. Wir müssen echt, offen und ehrlich sein, was alles andere als einfach ist. Aber in solchen Momenten zeigt sich ärztliche Tätigkeit im tiefsten Kern, in dessen Zentrum ausschliesslich die Interessen un­serer Patienten stehen müssen. 

Das sollte doch selbstverständlich sein. 

Ja. Es gibt aber auch noch die Sicht der Eltern oder dann Interessen wie die medizinische Weiterentwicklung und Forschung, die alle zurückstehen müssen. Das gilt auch für ein laufendes Forschungsprojekt, für das ich möglicherweise Erkenntnisse gewinnen würde, die künftigen Patienten zugutekämen. Sie sehen, es ist nicht ganz einfach, von all diesen Interessen zu abstrahieren. Aber ich muss. Die Sicht anderer Personen, Spitalinteressen, Forschungsinteressen müssen in solchen Momenten zurückstehen. 

Wie lassen sich schwerkranke Kinder am besten trösten? 

Von den Personen, die ihnen die liebsten sind. Wertvoll sind auch Gegenstände wie ein Stofftier, das ihnen viel bedeutet. Aussenstehenden gelingt es oft nicht so gut, weil sie einem Kind gar nicht so nahekommen, wie es für das Spenden von Trost nötig wäre. Von Vorteil ist es, wenn Kinder, die regelmässig ins Spital müssen, das Personal mit der Zeit kennen. Wenn ein kleines Mädchen sagt: «Ich kenne diese Frau», haben wir schon etwas gewonnen. 

Kürzlich habe ich einer Mutter und ihrem kleinen Mädchen im Tram zugehört, wie sie völlig entspannt über Beerdigungen und die Toten, die man dort verabschiedet, geredet haben. Ich war ziemlich irritiert angesichts dieser Direktheit und habe mich gefragt, ob man mit Fünfjährigen schon so offen über Sterben und Tod reden darf. 

Alle Leute fragen das. Am besten, man orientiert sich an den Kindern, die ja schon ganz früh Fragen stellen, wenn beispielsweise der Grossvater stirbt oder ihre Freundin an eine Beerdigung muss. 

Wissen denn Kinder überhaupt, was es heisst, zu sterben? 

Das wissen wir Erwachsene ja auch nicht so genau. Aber ich glaube schon, dass Kinder ziemlich früh realisieren, dass das Leben irgendwann zu Ende ist. Sei es, weil ein Angehöriger stirbt oder weil ihr Hund unter das Auto kommt. Tiere bilden sowieso einen guten Anlass, um das Thema aufzugreifen. Vielleicht hat man einen Bauernhof besucht und miterlebt, wie sich die Katze eine Maus schnappt. Daraus können sich hochphilosophische Fragen ergeben, die die Kleinen stellen, und man landet bei megaspannenden Gesprächen.

Die Corona-Impfung von Kindern führte ebenfalls zu Diskussionen, inwiefern sich die Eltern über den Willen ihrer Kinder hinwegsetzen dürfen, die sich um keinen Preis piksen lassen wollen. Wozu raten Sie? 

Dass kleine Kinder zunächst einmal Nein sagen, ist üblich. Damit muss man rechnen. Dann muss man sein Vorgehen in einer für das Kind verständlichen Art erklären und probieren, das Thema nicht auf die Injektion zu begrenzen, sondern den Grund, das Warum betonen. Diese Abwägung verstehen schon kleine Kinder gut. Sie sind auch empfänglich, wenn sie merken, dass die Impfung ihren Eltern ganz wichtig ist und trotz allem Widerstand wichtig bleibt. Letztlich werden sich Eltern, die ihren Nachwuchs unbedingt impfen lassen wollen, vielleicht auch aus medizinisch nachvollziehbaren Gründen durchsetzen und ihr Kind entsprechend führen. 

Der Terminus von der «elterlichen Gewalt» wurde ja nicht umsonst geprägt. 

Das ist wirklich ein eindrücklicher Begriff. Aber es ist tatsächlich so: Kinder können am Schluss nicht allein entscheiden. Es ist eine Form von Gewalt, die da besteht, aber sie muss ja nicht unbedingt als Bedrohung daherkommen, sondern viel eher als Schutz. 

Bei den 12- bis 15-Jährigen dürfte es nochmals anders aussehen. 

Das ist so. Wir hatten einen Fall, der das anschaulich zeigt. Ein gut informierter 14-Jähriger kam zu uns und wollte die Covid-Impfung. Er brauche sie, um mit seinen Kollegen wieder Verschiedenes unternehmen zu können. Die Motivation kann in dem Alter anders aussehen als bei Erwachsenen. Mit seinem freiwilligen selbständigen Erscheinen im Spital hatte er den Willensbeweis angetreten, dass er wusste und ernsthaft wollte, was er da verlangte. 

Befürchteten Sie nicht, dass die Eltern das Spital verklagen könnten, wenn Sie ihn ohne ihr Einverständnis impfen? 

Der Vater sprach von Klage für den Fall, dass wir die Übung nicht abbrechen. Doch wie in der Impfempfehlung des BAG vorgegeben, ist in dieser Situation der Wille des Kindes oder Jugendlichen zu respektieren. Natürlich haben wir das Gespräch mit dem Vater gesucht und uns nochmals juristisch rückversichert und mit dem Kantonsärztlichen Dienst abgesprochen. Doch der 14-Jährige machte Druck, er brauche die Impfung jetzt, sonst sei er nicht rechtzeitig geschützt. Letztlich haben die Gespräche zum Einlenken des Vaters geführt. So ging die Geschichte gut aus. 

Sie haben selber eine Tochter und einen Sohn. Inwiefern «begleitet» Sie Ihre Vaterschaft bei Ihrer täglichen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen? 

Natürlich ist das eine Lebenserfahrung, die mir immer wieder präsent ist. Nur schon indem ich die Kindergartenjahre oder die Schulzeit meiner Kinder in Gedanken vergleiche mit dem, was mir Patienten im Spital erzählen. Was ich schwierig finde, ist, wenn mich ein Vater oder eine Mutter fragt, ob ich die bevorstehende Operation oder Therapie auch bei meinen eigenen Kindern durchführen würde. Das kann ich beim besten Willen nicht sagen, weil ich im Spital professionelle Entscheide fälle und keine privaten wie zu Hause.    

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Christoph Berger studierte in Zürich Medizin, wurde Pädiater und spezialisierte sich auf Infektionskrankheiten. Er baute die Abteilung für Spitalhygiene am Kinderspital Zürich mit auf und vertiefte sich in die Vakzinologie. In der Folge wurde er 2012 Mitglied der Eidgenössischen Impfkommission, 2015 deren Präsident.

Dieses Interview ist am 20. Februar 2022 im Magazin der «NZZ am Sonntag» erschienen.

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