«Ich möchte weitergeben, wofür ich brenne»

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31. Dezember 2023 – Jürgen Ern hält seit Jahren am Opernhaus Zürich und in Bayreuth Dutzende von Werkeinführungen. Er verdient damit fast nichts, investiert aber gleichwohl sehr viel Zeit und Energie in diese Tätigkeit. Was treibt den 63-jährigen Deutschen an, diese Anstrengung immer wieder auf sich zu nehmen?

Szenenbild aus La Rondine (Foto: Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich)
Szenenbild aus La Rondine (Foto: Monika Rittershaus, Opernhaus Zürich)

INTERVIEW:  BARBARA LUKESCH

Herr Ern, was ist die Oper für Sie?

Für mich ist die Oper Lebenselixier, weil sie Genuss, manchmal auch etwas regelrecht Rauschhaftes, mit einer intellektuellen Bereicherung verbindet.

Wann ist die Oper in Ihr Leben getreten?

Schon früh. Ich war 15, als meine Mutter und ihr zweiter Mann für die Oper in Düsseldorf ein Abonnement buchten und mich mitnahmen. Die Grossmutter war auch dabei. Ich fand es schön, rauszukommen – wir wohnten damals in Solingen – und ich war von den Aufführungen jedesmal angetan: Rossinis «Graf Ory», Mozarts «Don Giovanni». Gefiel mir alles. Aber dann kam «Elektra» und die war für mich der Hammer, ja, ein eigentliches Schlüsselerlebnis.

Ausgerechnet «Elektra»? Diese anspruchsvolle deutsche Oper von Richard Strauss?

Ja, sie ist schwer, und ich habe damals vieles mit Sicherheit noch nicht verarbeiten können. Aber ich wusste auf der Stelle: Da musst du nochmals rein.

Und? Wie oft sind Sie nochmals rein?

Knapp 80mal bisher. Ich kann die Oper weitgehend auswendig. Wenn man mich darum bitten würde, schreibe ich Ihnen das Ding in zwei Stunden runter.

Wie hat sich Ihre Beziehung zur Oper im Laufe der Jahre entwickelt?

Ich bin deutlich breiter geworden in meinen Vorlieben. Wenn man für Richard Strauss schwärmt, ist Wagner nicht weit. Angefangen habe ich mit dem «Fliegenden Holländer», dann kam der «Ring». Das waren meine Stützpunkte, und ich höre diese Sachen auch heute noch gern. Dann ging es mehr ins italienische Fach: Verdi, Puccini, Donizetti. Natürlich kam auch Mozart. Mittlerweile bin ich im Barock gelandet, auch die eine oder andere Renaissance-Oper gefällt mir inzwischen. Ja, sogar mit der Moderne habe ich mich angefreundet: Alban Bergs «Wozzeck» und «Lulu» begeistern mich.

Jürgen Ern (Foto: J. Rolfes, H. Jürgen-Volker)
Jürgen Ern, der Mann für die Werkeinführungen (Foto: J. Rolfes, H. Jürgen-Volker)

Welche Opernaufnahmen würden Sie auf die berühmte einsame Insel mitnehmen?

Schwierige Frage. Lassen Sie mich drei nennen: «Parsifal» von Wagner, natürlich «Elektra» und Mozarts «Hochzeit des Figaro».

Sie haben also keinen Lieblingskomponisten? Erstaunlich, immerhin verbringen Sie den ganzen Sommer seit vielen Jahren in Bayreuth und halten dort mehr als 30 Einführungsreferate zu den verschiedenen Wagner-Opern. Eineinhalbstündige Vorträge, bestehend aus Informationen, aber auch vielen Musikbeispielen, die Sie morgens zwischen 10.30 und 12 Uhr bei zunehmend steigenden Temperaturen von bis zu 30 Grad halten. Ihr Honorar? Nicht der Rede wert. Wenn das keine Liebe ist…

(lacht) Es passiert mir tatsächlich immer wieder, dass mich die Leute dort als «Wagnerianer» bezeichnen…

Wagnerianer?

Damit sind wohl jene gemeint, die vorwiegend in Wagner-Opern gehen. Zu Menschen mit einer solchen Einseitigkeit gehöre ich aber definitiv nicht. Wer, wie ich, bisher knapp 3000 Opernaufführungen gesehen hat, kann nicht nur Wagner hören. Nach meiner Rückkehr aus Bayreuth freue ich mich jeweils total auf andere Musik, beispielsweise die «Rondine» von Puccini, die das Opernhaus Zürich dieses Jahr erstmals ins Programm genommen hat.

Bei einem Opernkenner solchen Ausmasses drängt sich die Frage auf: Welche Sängerin ist die Beste?

Das kann ich nicht sagen. Ich liebe alle Sängerinnen, die eine starke Stimme haben mit einem unverwechselbaren Timbre, aber dazu auch über eine enorme Intensität im Schauspielerischen verfügen. Bleiben wir bei der «Rondine»! Die albanische Sopranistin Ermonela Jaho fand ich grossartig. Auch die deutsche Sängerin Evelyn Herlitzius gefällt mir sehr. Sie hat zwar keine schöne Stimme im klassischen Sinne, weil sie in der Höhe immer ein bisschen wabert. Dafür durchdringt sie ihre Rollen mit einer enormen Intensität. Atemberaubend. Oder nehmen Sie Waltraud Meier als Isolde oder Kundry, zum Schluss auch noch als Klytämnestra. Wunderbar.

Anna Netrebko?

Ja, klar. Tolle Stimme. Ich habe sie mal persönlich kennengelernt und war überrascht, wie bescheiden sie ist. Nichts von einer Diva!

Edita Gruberova soll eher divenhafte Züge gehabt haben.

Ja? Sie war doch sehr zurückhaltend, hat Fernsehauftritte gemieden und nie den Glamour gesucht. Ihre ganze Konzentration galt ihrer Kunst. Ihre Technik war aber auch beeindruckend. Wie sie mit den Tönen spielen konnte, stehen lassen, wieder zurücknehmen. Wenn ich Aufnahmen von Donizetti-Opern mit ihr höre, muss ich schon sagen: Sie hat Massstäbe gesetzt.

Und bei den Männern?

Pavarotti war stimmlich einzigartig. Ein trompetenhafter, heller Tenor, der seine Stimme nie vergewaltigt, nie gebrüllt hat. Sie ist immer frei geflossen. Über eine wunderbar warme Baritonstimme verfügt der rumänische Sänger George Petean, der in Zürich den «Macbeth» singt. Auch seine Darstellung des Marquis Posa in Verdis «Don Carlos» an der Staatsoper Berlin war umwerfend. Ich habe selten etwas so traumhaft Schönes erlebt. Auch Piero Cappuccilli war einzigartig. Bei den Bässen fallen mir Christof Fischesser oder Georg Zeppenfeld ein. Sehr stark, die höre ich gern. Bei den Tenören im deutschen Fach ein René Kollo.

Sie sind ja nicht nur in Bayreuth tätig, sondern präsentieren auch dem Publikum im Opernhaus Zürich an rund 40 Abenden eine Werkeinführung. Wie sieht denn Ihr beruflicher Werdegang aus?

Ich bin Jurist und habe mit meinem Bruder einen eigenen Versandhandel betrieben. Da habe ich viel gearbeitet, was allerdings auch mit viel psychischem und körperlichem Stress verbunden war. Mit gut 40 war mir klar, dass ich mein Leben ändern musste. Meine finanzielle Unabhängigkeit erlaubte es mir, mein altes Hobby zum Lebensinhalt zu machen. Ich zog von Solingen nach Zürich und habe hier einen Lehrgang in Kulturmanagement absolviert, der ganz meinen Neigungen und Fähigkeiten entsprach: er verband kulturelle Fragen mit juristischen und betriebswirtschaftlichen. Da war ich am richtigen Ort.

Warum haben Sie nicht von Anfang an Musikwissenschaft studiert oder das Konservatorium besucht? Sie haben ja schon als junger Mann gewusst, wie sehr die Oper Sie fasziniert.

(Seufzt) Mein familiäres Umfeld erwartete von mir, dass ich Jura oder Betriebswirtschaft studierte. Kunst galt bei uns daheim als brotlos. Unter diesen Umständen ganz auf die Karte Musik zu setzen, hätte ich mich nicht getraut. Heute bewundere ich Menschen, die schon früh den Mut haben, ihre künstlerische Leidenschaft zum Beruf zu machen.

Sie hatten Glück und konnten ab 2009 in Zürich und ab 2015 in Bayreuth mit Ihren Werkeinführungen doch noch in das Feld vordringen, was Ihnen so viel bedeutet.

Die Zürcher Anfrage kam wie gerufen, sie schloss sich fast nahtlos an meine Kulturmanagement-Ausbildung an. Nach einem Probelauf, an dem ich zeigen musste, dass ich frei reden kann, übernahm ich als erste Oper Donizettis «Lucia di Lammermoor». In Bayreuth, das ich seit dem Ablegen des Abiturs jedes Jahr als Zuschauer besucht hatte, war es ein Vortrag zu «Tristan und Isolde» vor dem Richard-Wagner-Verband, der mir die Werkeinführungen ermöglichte. Inzwischen habe ich dort ein über die Jahre gewachsenes Netzwerk.

Wie bereiten Sie Ihre Einführungen vor?

Weil ich ein sehr langsamer Arbeiter bin, brauche ich wahrscheinlich viel zu viel Zeit dafür. Ich nutze alles, von der Literatur, die ich bei mir zuhause habe, über das Internet bis hin zu alten Programmheften, die ich aufbewahrt habe. Was mir in die Quere kommt, wird gelesen, und ich versuche einen roten Faden zu finden. Habe ich den, scheide ich von meinem Material vier Fünftel aus, ein Fünftel bringe ich in meinen Referaten unter.

Wie setzen Sie die inhaltlichen Schwerpunkte Ihrer Einführungen?

Da stehen bei mir jeweils zwei Fragen im Zentrum. Nummer Eins: was hat den Komponisten umgetrieben, als er das Werk komponiert hat? Was brannte ihm auf der Seele?  Das muss nichts Tiefgründiges sein. Es kann auch die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, gewesen sein, die ihn eine Auftragsarbeit hat annehmen lassen.

Und Frage Nummer Zwei?

Ich möchte herausfinden, was uns das Werk heute noch bringt, welche Aussage wir in die heutige Zeit übertragen können. Diesbezüglich bin ich sehr strikt: Ich bin der Überzeugung, dass man nur Werke auf die Bühne bringen sollte, die auch für uns und jüngere Leute eine Aussagekraft haben.

Der deutsche Hirnforscher Lutz Jäncke sagte mir mal in einem Interview, dass sich der Operngenuss enorm steigern lasse dank profundem Vorwissen. 

Das sehe ich genauso. Man sagt ja auch: Man sieht nur, was man weiss. Übertragen auf die Musik könnte man ergänzen: Man hört nur, was man weiss. Das ist vielleicht etwas überzogen, denn sensible Menschen erleben eine Oper auch ohne Einführung als Genuss. Trotzdem weiss ich aus eigener Erfahrung als Zuschauer, dass eine vorausgehende Sensibilisierung meine Aufmerksamkeit steigert. Ich weiss dann, worauf ich achten muss und kann beispielsweise Schlüsselstellen besser nachempfinden.

Es vergrössert ja auch den Genuss, wenn man eine Oper schon vor dem Opernbesuch kennt und der Wiedererkennungseffekt eintritt.

Das ist bei mir genauso. Der deutsche Sänger Dietrich Fischer-Dieskau hat mal gesagt, dass Kunstverständnis zu einem grossen Teil auf Repetition und Vergleichen beruhe. Etwas wiederzuhören und dann noch Vergleiche anstellen zu können, macht einfach Spass.

Spass machen Ihnen offensichtlich auch Ihre Werkeinführungen. Wenn man Ihre Auftritte im Opernhaus Zürich erlebt, ist Ihre Begeisterung spürbar.

Ich liebe diese Aufgabe. Wenn Herr Spahn (der Chefdramaturg, B.L.) anruft und fragt, ob ich für jemanden einspringen könne, der krank geworden sei, sage ich sofort zu. Da geht’s mir überhaupt nicht darum, im Mittelpunkt zu stehen oder Beifall zu bekommen. Ich liebe es einfach, auch anderen das, wofür ich brenne, weiterzugeben.

Ode an die Oper: Sechs überraschende Liebesgeschichten
Teil 1: Eine Träne für Violetta
Teil 2: «Die Oper ist das Fussballstadion der Schwulen»
Teil 3: Feuer und Flamme für Jonas Kaufmann

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