Lärchen und Tannen – es riecht nach Herbst
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Adrian Michael: «Das Bergell kenne ich. Eigentlich. Mit dem Auto habe ich es mehrere Male in beiden Richtungen durchquert, habe dort aber nie mehr als ein paar Meter zu Fuss zurückgelegt. Das wollte ich an einem prächtigen Oktobertag nachholen.»
Als Einstimmung auf meine Wanderung hätte ich mir nichts Besseres wünschen können als die Fahrt mit der Rhätischen Bahn nach St. Moritz. Zuerst durch die verschwenderisch herbstliche Farbenpracht des Albulatales und des Val Bever, dann den Seen entlang nach Maloja. Das goldene Feuerwerk der Lärchen, dunkelgrüne Tannen vor dem tiefblauen Himmel, die weiss überzuckerten Gipfel – ein Farbenrausch.
Sicher schwingt sich das Postauto steil hinunter durch die engen Serpentinen des Malojapasses. Unten, am Rand einer kaum einen Kilometer langen schmalen Ebene, steige ich an der Haltestelle Casaccia-Cavril aus: Es geht los.
Ein schmaler Weg führt parallel zur Strasse geradeaus durch lichten Tannenwald, sehr angenehm zu gehen. Nach gut zehn Minuten die erste Überraschung: Ich biege um eine Ecke und stehe vor der imposanten Kirchenruine San Gaudenzio. Mit 26 Metern Länge gehört sie zu den grössten spätgotischen Bauten Graubündens. Erstmals erwähnt wird sie 831 als Besitz des Klosters Pfäfers. Abschrankungen und eine Baracke zeugen davon, dass Restaurationsarbeiten im Gang sind.
Von Gaudenzio aus ist in der Ferne bereits die nächste Ruine erkennbar: Oberhalb des Dorfes Casaccia am Rand einer Ebene ragt der einsame Mauerzahn der ehemaligen Burg «Turraccia» (schlechter Turm) aus der Zeit um 1200 hoch. Sie dürfte dem Bischof von Chur gehört haben und Sitz eines Vogtes gewesen sein. Ein kleiner Skilift daneben lässt auf einen bescheidenen Skibetrieb schliessen.
Das Dorf umgehe ich und durchquere nun auf der «Via Panoramica Val Bregaglia» die Ebene. Und siehe da: Mitten auf der Wiese liegt doch tatsächlich ein einsames Zwanzigernötli. Ich werde es später in einem Hofladen für Gomfi und Honig ausgeben, so bleibt das Geld im Tal.
Der nun etwas breitere Weg führt mich geradeaus talauswärts. Links rauscht die Orlegna, die hier in den Hauptfluss Maira mündet. Eine Ruine (schon wieder) auf einer kleinen Anhöhe erregt meine Aufmerksamkeit: Hier muss einmal ein besonderes Gebäude gestanden haben. Die starken Eckpfeiler und Verputzreste weisen darauf hin, dass es mehr als nur ein Stall gewesen sein muss. Vielleicht eine Art Kontrollposten?
Nach dem türkisblau schimmernden Stausee Löbbia senkt sich das Gelände wieder. Ich folge einem schmalen Weg, über Granitplatten und Wurzelwerk, vorbei an Hütten, Wiesen, durch Lärchen- und Tannenwälder, sehr schön zu gehen. Es riecht nach Herbst.
Links rauscht jetzt nicht mehr nur der Bach, sondern auch der Lärm der Strasse. Im Tal erkennt man den Weiler Pranzaira mit der Talstation der Seilbahn, die zum Albignasee hochführt. Weit oben ist am Horizont die mächtige Staumauer zu erkennen.
Der Weg führt nun durch einen Wald der steilen Bergflanke entlang zur Siedlung Roticcio, einer Fraktion der Gemeinde Vicosoprano.
Hier verlasse ich die Via Panoramica und steige auf einem abschüssigen, von Steinmäuerchen und Gestrüpp gesäumten Weg zum Talboden hinunter. Nach dem Weiler Pungel überquere ich nach einem fast ausgestorbenen Campingplatz die Maira und wende mich auf der Via Bregaglia dem Dorf Vicosoprano zu, das ich nach insgesamt etwa zwei Stunden erreiche.
Hier weckt ein neugierig aus einer Scheune lugender grüner Döschwo nostalgische Erinnerungen, habe ich doch vor Jahrzehnen auch einmal einen besessen, einen roten mit stolzen 29 PS!
In Vicosoprano zeugen imposante Gebäude von einer spannenden Vergangenheit. Ein Beispiel ist der aus dem 13. Jahrhundert stammende Senvelenturm, der einzige noch vollständig erhaltene mittelalterliche Rundturm im Kanton Graubünden. Um den Turm herum wurde später das Rathaus gebaut, in dem heute ein Museum eingerichtet ist. Neben dem Eingang an der Hauptstrasse erinnern ein Prangerblock und ein Halseisen an frühere Rechtsprechung.
Auf der anderen Flussseite entdecke ich am Rand einer Waldlichtung die mächtigen Steinsäulen eines Galgens – stumme Zeugen einer traurigen Vergangenheit, wie es auf einer Infotafel heisst. Zwischen 1650 und 1670 wurden im Tal 45 Personen hingerichtet, weil sie sich mit Zauberei befasst haben sollen. Die Asche der Hingerichteten wurde von der San Cassiano Brücke in Vicosoprano in die Maira geworfen. Die letzte Hinrichtung erfolgte am 1. Oktober 1795, als zwei Brüder von Bormio im Alter von 20 und 23 Jahren enthauptet wurden, weil sie zwei Pferde gestohlen hatten.
Der Weg führt mich durch einen lockeren Lärchenwald zum Weiler Borgonovo, vor dessen letztem Haus ein dicht mit reifen Früchten behangener Quittenbaum wächst.
Ich wechsle die Talseite und folge dem Wanderweg entlang der Maira nach Stampa, dem Herkunftsort der Künstlerfamilie Giacometti, über deren Wirken das Centro Giacometti informiert.
Im Ortsteil Palü ist ein in der Schweiz einmaliges seltsames Objekt zu betrachten: das Wannengrab von Stampa. Wer wann die knapp zwei Meter lange Wanne mit grosser Präzision in den Granit geschlagen hat, ist nicht bekannt. Scherbenfunde in der Umgebung lassen auf eine Entstehungszeit von 100 bis 400 n. Chr. schliessen.
Von Stampa aus führt mich eine schmale Strasse vorbei an friedlich weidenden Kühen hoch zum schmucken Weiler Cultura. Vorher lohnt sich aber ein Blick zurück: Die Doppelbogenbrücke über die Maira scheint ein Bestandteil der Landschaft zu sein. Im Weiler steht der Palazzo Castelmur, ein imposantes Denkmal der Bündner Rückwanderer-Kultur aus der Zeit um 1850.
In weiten Kehren senkt sich der Weg wieder ins Tal. Ich überquere die Maira und gelange durch einen kurzen Tunnel nach Promontogno.. Links oben erheben sich neben der Kirche Nossa Donna die Ruinen des Castello Castelmur. Am Fuss des Hügels sind einzelne Häuser sorgsam renoviert worden, es riecht immer mal wieder nach Kuhstall. Mehrere aufwändig geschmückte Brunnen machen auf das alljährlich im Oktober stattfindende Kastanienfest aufmerksam, die «Festa della castagna».
Über die mit Bsetzisteinen gepflasterte alte Dorfstrasse gelange ich über eine schmale Hängebrücke nach Bondo, das 2017 durch einen Bergsturz traurige Bekanntheit erlangt hat. Als Folge davon sind immer noch gewaltige Verbauungen im Bachbett im Gang, mit denen künftige Katastrophen verhindert werden sollen. Eine zufällige Begegnung mit einem Bekannten und seiner Familie wird zu einem netten Abschluss der Wanderung – nach rund viereinhalb Stunden, 17 Kilometern und 26’000 Schritten.
Anreise: Mit der Bahn nach St. Moritz, dann mit dem Bus nach Casaccia-Cavril. Von Bondo mit dem Bus zurück nach St. Moritz.
Anforderung: 17,1 km, 176 m aufwärts / 928 m abwärts, 4 h 19 Min.
Route: PDF von SchweizMobil
Adrian Michael (geb. 1955) ist einer der Zolliker Dorfchronisten und ehemaliger Primarlehrer. «Im Idealfall» macht er jede Woche einen Ausflug, «der oft zu einer Wanderung wird». Er schaut auf der Karte nach, wo er noch nie gewesen ist, sei es nah oder fern, und bricht dann auf.