Lehrreiche und genussvolle 23 Kilometer
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Adrian Michael: «Angesichts des Postkartenwetters habe ich mich gefragt, ob ich schon einmal eine Winterwanderung gemacht habe – eine richtige, nicht nur einen Spaziergang. Nein, habe ich nicht. Zeit also, das nachzuholen.» (3 Kommentare)
VON ADRIAN MICHAEL
Nach Vrin sollte es gehen, und dann über Vella und Cumbel hinunter Richtung Ilanz. Vrin liegt fast zuhinterst in der Val Lumnezia, einem Seitental der Surselva. Also steige ich dort eines Morgens um 9.20 Uhr aus dem Postauto, ich bin der einzige Passagier. Kalt ist es, minus 5 Grad, weiss die Wetter-App.

Das Dorf liegt noch tief im Schatten, aber oben blaut verheissungsvoll der Himmel. Kein Mensch ist unterwegs, beim Volg starren Fasnachtsmasken aus dem Schaufenster. Die Pension Piz Terri ist geschlossen. Neben alten Holzhäusern fallen Gebäude auf, die traditionelle Elemente mit modernen verbinden: Sie stammen vom Vriner Bauernsohn und Architekten Gion A. Caminada, der hier mehrere Gebäude gebaut oder umgebaut hat. Ausserhalb des Dorfes bietet sich mir erstmals ein Blick hinunter ins Tal.
Anfänglich führt der Wanderweg leicht aufwärts der Kantonsstrasse entlang, da aber praktisch kein Verkehr herrscht, passt das schon. Aufgeregt bellt aus einem Gehege vor einem Stall ein grosser weisser Hund. Im Stall klingeln Glocken, dem Geruch nach zu urteilen gehören sie Schafen. Der Hund könnte ein Herdenschutzhund sein, momentan in seinem Winterquartier.
Und dann beginnt der Wanderweg, ein Schild warnt vor Rutschgefahr. Ich sehe mich schon durch knietiefen Schnee stapfen, aber zu meiner Freude ist der Weg sorgsam präpariert. Und da jetzt die Sonne hinter dem gezackten Horizont auftaucht und ihre Strahlen schon von der ersten Minute an wärmen, freue ich mich sehr auf die Wanderung.

Aber schon nach wenigen hundert Metern kam das Pistenfahrzeug nicht mehr weiter. Der Weg führt nun als Trampelpfad leicht aufwärts, der zum Glück dank dem harten Schnee gut begehbar ist. Blöd nur, dass der Bildschirm meines Handys nicht auf den Druck der behandschuhten Finger reagiert, was immer wieder zu kalten Händen führt.
Mal aufwärts, mal abwärts, ab und zu über einen schmalen Steg, schlängelt sich der Wanderweg schmal dem steilen Hang entlang durch den Winterwald, parallel zur weiter unten verlaufenden Kantonsstrasse. Spuren von Rehen verraten, dass der Pfad auch von ihnen gerne begangen wird.
Zwei Installationen verlocken zu Versuchen: Einem grossen Holzxylophon kann man mit einem Holzhammer Töne entlocken und an einem liegenden Baumstamm liesse sich die Fähigkeit des Holzes überprüfen, Töne zu leiten. Das Experiment kann aber momentan nicht durchgeführt werden – zu viel Schnee.

Sobald ich aus dem Schatten bin, wärmt die Sonne deutlich, fast meine ich, hinter dem Horizont das fein flatternde blaue Band des Frühlings zu ahnen. Nun ja, ist vielleicht noch etwas gar früh, aber Handschuhe und Mütze und Schal können jetzt in den Rucksack.
Nun senkt sich der Weg wieder hinunter zur Kantonsstrasse zum Weiler Nussaus. Hier bemerke ich an einer Scheune eine Art Freilicht-Heimatmuseum: An zwei Aussenwänden sind zahlreiche alte Geräte aus Handwerk und Haushalt ausgestellt, Infotafeln informieren über Namen und Gebrauch. Ich erfahre, dass noch um 1960 jede Familie ihren bestimmten Waschtag hatte. Früh am Morgen wurde angefeuert, die Wäsche wurde in die Kübel mit gewärmtem Wasser gelegt und am Waschbrett mit Seife und Asche geschrubbt. Interessant.

Mir fällt auf, dass bei praktisch allen Ställen, in denen Tiere gehalten werden, auch die Aussenbereiche mit hohen Gittern eingezäunt sind: Der Wolf! Die Schafmama, die mich mit ihren Lämmern aus ihrem Stall hinaus neugierig beäugt, ist hier vor ihm sicher.

Ich überquere die Kantonsstrasse und folge dem schneebedeckten Wanderweg dem Hang entlang Richtung Lumbrein. Kurz vor dem Dorf trifft der Weg auf die Strasse, die von den noch tief im Schatten liegenden Weilern im Talgrund hochführt.
Ab und zu lohnt sich auch ein Blick zurück: Der auffallende, abgeflachte Hügel rechts neben dem Dorf ist der bronzezeitliche Siedlungsplatz Crestaulta, einer der ältesten im inneren Alpenraum. Hier liessen sich in Urzeiten während 500 bis 600 Jahren Menschen nieder.

Am Ortsbild von Lumbrein fällt aus der Ferne rechts unterhalb der Kirche ein fremdartiges grosses Gebäude auf: Der Wohnturm Chisti wurde um 1315 erbaut und war vermutlich der Stammsitz der Bündner Adelsfamilie von Lumerins. Heute ist er in Privatbesitz. Alte Häuser prägen das Ortsbild, die meisten mit gemauertem Erdgeschoss und hölzernen Überbauten. Auch die Neubauten haben sich diesem traditionellen Stil angepasst.

Jetzt geht es wieder aufwärts, zuerst über einen etwas mühsam zu begehenden Trampelpfad, dann hoch durch den Wald und über schneebedeckte Hänge. Wo der Schnee weggeschmolzen ist, steigt mir der kräftige Geruch von Waldboden und Tannennadeln in die Nase.
Dann ist der Wald zu Ende – und grandios öffnet sich der Blick über das ganze Tal. Rechts stehen die Gipfel der Signia-Gruppe, im Hintergrund die Berge mit dem Ringelspitz in der Mitte, der höchste Gipfel des Kantons St. Gallen. Rechts davon hinten der Calanda, links die Abhänge des Piz Mundaun.

Der jetzt wieder perfekt gepfadete Weg senkt sich langsam Richtung Vignogn. Nach ziemlich genau drei Stunden erreiche ich mein Etappenziel: Davos Munts, ein kleiner Badesee oberhalb des Dorfes Vattiz. Im Sommer kann man hier schwimmen, für die Kinder gibt es einen seichten Teil, wo sie wunderbar planschen können. Jetzt wird vom Betreten der Eisdecke abgeraten. Im Restaurant mit seinen zahlreichen Sitzplätzen im Freien gönne ich mir einen Bagel mit Lachs und ein Zweierli aus der Bündner Herrschaft.

Nach der Stärkung gehts hinunter nach Vattiz und dann auf einem Höhenweg weiter nach Vella. Am linken Wegrand stehen in unregelmässigen Abständen kurze steinerne Stelen. Auf kleinen Tafeln werden Ereignisse aus der Geschichte des Ortes und der Talschaft erwähnt – die Abstände zwischen den Stelen symbolisieren die Zeit, die zwischen den Ereignissen vergangen ist.
Das jüngste betrifft den Bau des ersten Skilifts im Jahr 1963, das älteste die Besiedlung des Tales um 300 vor Christus. Weiter erwähnt werden etwa der Beginn der Christianisierung im 6. und 7. Jahrhundert, eine Pestepidemie von 1507 sowie der Einmarsch der Franzosen im Jahr 1799. Eine gelungene Art, den Menschen im wahrsten Sinn des Wortes en passant die Geschichte der Umgebung etwas näher zu bringen.
Vella scheint sich als Alternative zu den grossen Bündner Skigebieten herumgesprochen zu haben, vor allem für Familien mit Kindern ist das eine sehr valable Alternative.
Im Dorf zweige ich nach rechts ab, ich lasse mir den Besuch der Kirche von Pleif nicht entgehen. Erwähnt wird sie erstmals einem karolingischen Urbar von ca. 840. Sie ist geschlossen. Der Schlüssel könnte auf der Gemeinde abgeholt werden, aber das ist mir jetzt zu umständlich.

Unterhalb der Kirche führt der Wanderweg, nunmehr ein schmaler Pfad im Schnee, durch den Wald talwärts Richtung Cumbel. Dort hat sich der alte Dorfteil gut erhalten, eng stehen die alten Häuser nebeneinander. Im oberen Dorfteil hingegen sind zahlreiche neue Häuser entstanden, immerhin architektonisch mit viel Holz so gebaut, dass man nicht gleich entsetzt zusammenzuckt wie anderenorts.
Bald gelange ich auf die Hauptstrasse, der ich nun folgen muss. Auch hier herrscht zum Glück wenig Verkehr, die abendliche Rückreise hat noch nicht eingesetzt. Zudem ist gleich neben der Strasse oft ein schmaler Streifen naturbelassener Boden, auf dem man gut gehen kann.
Im Weiler Valgronda steht auf einem Parkplatz als Referenz an die im Lugnez gefundenen vorgeschichtlichen Zeichensteine die Skulptur «La Pedra» der mexikanischen Künstlerin Paloma Torres.

Dann aber verschwindet die Sonne hinter dem Berg, es wird deutlich frischer, kühler weht der Wind: Zeit, die Mütze wieder anzuziehen. Bald erreiche ich eines der auffallendsten Baudenkmäler des ganzen Tales, die «Porclas» oder das «Frauentor», das auch im Wappen vom Cumbel und der neuen Gemeinde Lumnezia abgebildet ist. Das Tor, durch das einst die Strasse von Ilanz in das Lugnez führte, ist der Rest einer Sperrmauer, die den Zugang zur linken Talseite verwehrte. Vermutet wird eine Entstehungszeit am Ende des 13. Jahrhunderts.
Die Bezeichnung «Frauentor» rührt von einer Sage her, wonach sich die Lugnezer Frauen 1352 während einer Fehde zwischen Ulrich von Belmont und den Grafen von Werdenberg heldenhaft am Kampf beteiligt haben sollen. Auf einer kleinen Informationstafel wird gelobt: «Das Tor ist ein Monument für unsere Heldinnen und ein Symbol für clevere und furchtlose Frauen.»

Als letzte historische Sehenswürdigkeit erblicke ich wenig später den mächtigen Turm der einstigen Burg Castelberg. Schriftliche Unterlagen über ihre Geschichte gibt es nicht. Sie dürfte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sein.

Nun ist das Ziel schon fast in Sichtweite. Und da gerade ein Postauto kommt, lasse ich mich von diesem zurück nach Sogn Martin oberhalb Ilanz bringen, wo mein Auto auf mich wartet.

Abgesehen von den letzten etwas eintönigen paar Kilometern auf der Kantonsstrasse war es eine schöne, abwechslungsreiche Wanderung, immer wieder mit prachtvollem Blick über Berg und Tal. Und wie schrieben die Kinder jeweils am Schluss ihrer Aufsätze? Richtig: «Müde, aber zufrieden kehrte ich nach Hause zurück».
Anforderungen: 23 km, 595 Meter aufwärts, 1242 Meter abwärts, 6 1/2 Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil

Adrian Michael hat 37 Jahre lang an der Zolliker Primarschule unterrichtet. Seit 2017 ist er pensioniert. Nebst der Zolliker Lokalgeschichte gehört auch das Wandern zu seinen Steckenpferden.
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Danke Adi für die wundervollen Fotos und den Wanderbeschrieb. Liebeä Gruess us em Landwassertal, Anna
Mit grossem Interesse lese ich immer Adrian Michaels Wandervorschläge, und diese Winterwanderung hat mir besonders gut gefallen! Vielen Dank für die ausführlichen Beschreibungen, diese Wanderung werde ich bestimmt einmal machen, vielleicht aber eher im Sommer. Herzliche Grüsse, Barbara Almasi
Vielen Dank Barbara! Hier noch ein kleiner Tipp: Mach die Wanderung wenn möglich unter der Woche, an den Wochenenden ist das Restaurant am See immer sehr gut besetzt! Lieber Gruss, Adrian