«Lest doch nicht immer …»

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29. Dezember 2021 – «Lest doch nicht immer, ihr macht euch noch die Augen kaputt», habe seine Mutter immer wieder zu ihm und seinem Bruder gesagt. Genützt habe es nichts, aber den Satz habe er nie vergessen, erzählt Adrian Michael:

Porträt Adrian Michael
Adrian Michael (Foto: bl)

«Immer wieder kam meine Mutter mit dieser Warnung und immer wieder biss sie auf Granit. Mein Bruder Markus und ich hielten unbeirrbar daran fest, bei schlechtem Wetter und jeden Abend zu lesen.

Wir sind in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen und hatten daheim nicht einmal einen Fernseher. Es gab also keine verregneten Mittwochnachmittage vor dem Bildschirm, wir waren regelrecht gezwungen, uns auf andere Art zu beschäftigen und zu unterhalten – was lag also näher, als in die Welt der Bücher abzutauchen?

Auch wenn wir materiell schmal durchmussten, wurde bei uns nie bei den Büchern gespart. Wir lasen uns durch Berge von Kinderbuchklassikern wie ‹Fridolin, die abenteuerliche Geschichte eines Dackels›, ‹Blitz, der schwarze Hengst›, ‹Die kleine Hexe› und ‹Der kleine Wassermann›, Dutzende von Enid Blyton-Krimis, alle Karl May-Bände und Coopers ‹Lederstrumpf›. Darüber hinaus waren die Regale in unserer Wohnung gefüllt mit Agatha Christie-Krimis, Grimms Märchen, ‹Märchen aus Tausend und einer Nacht› oder den Nibelungensagen. Wir verschmähten aber auch einen Schmöker wie den Piratenroman ‹Unter Korsaren› nicht.

Dass unser Vater Deutscher war und mit uns immer Hochdeutsch sprach, führte bei uns Buben zu einer grossen Vertrautheit mit der Schriftsprache und begünstigte sicher unsere Lust am Lesen. Meine Mutter las selber auch sehr viel – und befürchtete trotzdem, dass wir uns beim übermässigen Lesen die Augen ruinieren könnten.

Widersprüchlich? Sie war es jedenfalls, die mich als Zweitklässler erstmals mit in die Dorfbibliothek in Wollishofen nahm, wo wir damals wohnten. Das war ein Schlüsselerlebnis für mich. Ich fühlte mich wie im Schlaraffenland und fragte meine Mutter ungläubig, ob ich all diese Bücher tatsächlich lesen dürfe.

Bücher haben meinen Lebensweg gepflastert. Als Primarlehrer war es mir immer extrem wichtig, meinen Schülerinnen und Schülern einen sorgfältigen Umgang mit der Sprache zu vermitteln. Vor rund zwanzig Jahren habe ich selber eine Trilogie geschrieben: ‹Das Geheimnis von Santo Stefano›, ‹Zauberringe› und ‹Die Eiskatze›, drei Erzählungen für Kinder und Jugendliche, in denen sich Realität und Fiktion vermischen, irgendetwas zwischen Abenteuergeschichte und Fantasy, kurz: Bücher, die ich als Kind selber gern gelesen hätte.

Später hat mich dann auch mein früh gewecktes Interesse an Sagen wieder eingeholt, und ich habe die Sammlung ‹Sagenhaftes Zollikon› publiziert. Der Kreis hatte sich geschlossen.»

Adrian Michael (geb. 1955) ist Zolliker Dorfchronist und ehemaliger Primarschullehrer

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