«Man kann nicht nicht aufklären»
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25. Oktober 2024 – Die Zolliker Schulsozialarbeiterin und Sexualpädagogin Heike Junge ist überzeugt, dass die Bedeutung von Sexualaufklärung in Zeiten von Youporn und Social Media nochmals deutlich gewachsen ist. Auch wenn das Thema Sex omnipräsent sei, fehle es bei den Jungen an Wissen. (1 Kommentar)
25. Oktober 2024 – Die Zolliker Schulsozialarbeiterin und Sexualpädagogin Heike Junge ist überzeugt, dass die Bedeutung von Sexualaufklärung in Zeiten von Youporn und Social Media nochmals deutlich gewachsen ist. Auch wenn das Thema Sex omnipräsent sei, fehle es bei den Jungen an Wissen.
INTERVIEW: BARBARA LUKESCH
Frau Junge, sind Kinder und Jugendliche heutzutage besser aufgeklärt als frühere Generationen?
Ich glaube schon. Es gibt viel mehr Medien und Materialien, Bilderbücher, Youtube-Filme oder Podcasts, die bei der Aufklärung wertvolle Arbeit leisten. Auch Instagram- und Tik Tok-Kanäle tragen dazu bei, dass junge Menschen gut informiert sind.
Angesichts so vieler, leicht zugänglicher Informationen dürften die Mädchen und Knaben heute entspannter mit Themen wie Selbstbefriedigung, Empfängnisverhütung oder Homosexualität umgehen.
Es ist tatsächlich sowohl in Elternhäusern, aber auch in weiten Teilen der Öffentlichkeit selbstverständlicher geworden, das Thema Sexualität auch mal in ganz alltäglichen Situationen anzusprechen. Einerseits. Andererseits gibt es bei diesem Thema nach wie vor sehr viel Scham, Unsicherheit auch, die zu Sprachlosigkeit führt. Ich habe den Eindruck, dass solche Haltungen innerhalb einer Familie von Generation zu Generation weitergegeben werden und dass es einen bewussten Entscheid braucht, um diese Entwicklung zu durchbrechen.
Immerhin sieht der Lehrplan 21 vor, dass alle Kinder und Jugendlichen ergänzend zum Elternhaus auch in der Schule Sexualaufklärung erhalten sollen.
Das bringt viel, ist allerdings abhängig vom jeweiligen Präventionskonzept einer Schule, aber auch dem Engagement der Lehrpersonen, die dafür sorgen müssen, dass die wichtigen Informationen die jungen Menschen erreichen. In der Stadt Zürich läuft das gut, weil die Fachstelle «Lust und Frust» kostenlose Aufklärungsarbeit für Schulen anbietet.
Und in Zollikon?
Wir haben ein Präventionskonzept, in welchem die Förderung der sexuellen Gesundheit fest verankert ist. Die Aufklärung ist zum einen Teil des Biologieunterrichts, darüber hinaus werden in der Präventionswoche «Feel okay» verschiedene Workshops wie «Umgang und Konsens in Beziehungen» oder das Thema sexuelle Vielfalt in den Jahrgängen angeboten.
Aufklärung im Kindesalter ist sinnvoll
Anlass zu Diskussionen bietet immer wieder die Frage, auf welcher Stufe die Sexualaufklärung beginnen sollte. Schon im Kindergarten?
Dazu muss man erst einmal definieren, was Sexualaufklärung genau ist. Sie beginnt in meinen Augen schon damit, dass wir einzelne Körperteile mit dem richtigen Namen benennen: zum Beispiel Penis und Vulva. Damit sollten wir im Kleinkindalter anfangen, also mit Zwei- oder Dreijährigen, sobald sie sprechen können. Kinder merken doch sofort, wenn die Erwachsenen ihnen zwar die Wörter für Nase, Mund, Arm und Bein beibringen, bei den Genitalien aber verlegen von «da unten» sprechen. Damit übertragen sie natürlich Schamgefühle und Unsicherheit. Selbst wenn wir nicht drüber reden, vermitteln wir Werte. Oder anders gesagt: Wir können nicht nicht aufklären. Daher plädiere ich dafür, dass Kindergarten-Lehrpersonen das Thema Sexualität im Kopf haben und entsprechende Fragen altersgerecht beantworten sollten.
Altersgerecht?
Wenn ein fünfjähriges Mädchen wissen will, wie Kinder entstehen, könnte man seine Frage beispielsweise mit Hilfe von Bilderbüchern beantworten. Ganz selbstverständlich, ohne ein grosses Geheimnis daraus zu machen. Natürlich soll Sexualität auch etwas Besonderes und vor allem etwas Schönes sein, aber etwas, das zu unserem Leben gehört. Nicht mehr und nicht weniger.
Darüber hinaus müssen schon kleine Kinder wissen, dass es gewisse soziale Normen im Bereich Sexualität gibt, die auch sie erfüllen müssen. Zum Beispiel zur Frage, wo sie nackt herumlaufen dürfen…
…und wo sie damit anecken. Oder dass es völlig in Ordnung ist, dass sie sich in ihrem Zimmer selber berühren, aber dass es nicht geht, wenn das im Sitzkreis im Kindergarten passiert. Oder dass sie Nein sagen dürfen, wenn ein Onkel oder eine Tante ihnen ein Küsschen geben möchte. Hier geht es um die Wahrnehmung angenehmer und unangenehmer Gefühle und darum Stop zu sagen. All diese Fragen müssen bereits im Kindergarten angesprochen werden, aber – ich wiederhole – auf eine Art, die den Kleinen entspricht.
Wie sorgfältig wählen Sie als Sexualpädagogin Begriffe aus, die einen sexuellen Bezug haben? Sagen Sie zum Beispiel Schamlippen?
Ich benutze dieses Wort nicht und erkläre das den Jugendlichen auch. Wofür sollen sich Mädchen und Frauen denn schämen? Stattdessen sage ich Intim- oder Vulvalippen, wobei ich es den Jungen und Mädchen überlasse, weiterhin ihre Begriffe zu verwenden, wenn sie sich damit wohlfühlen. Ich mag auch den Ausdruck Scheide nicht, der direkt mit einem Schwert in Verbindung gebracht wird. Es gibt ja den fachlich korrekten und schön klingenden Begriff Vagina, der mir gut passt.
Viele Eltern sind überfordert
Für die Eltern der Oberstufen-Schüler und Schülerinnen bieten Sie regelmässig einen Elternabend zum Thema Sexualpädagogik an. Welche Themen sprechen Sie dort an?
Ein wichtiger Aspekt betrifft die Pubertät. Was passiert in dieser Phase körperlich, hormonell und emotional bei den jungen Menschen? Ich schneide auch den Unterschied in der Entwicklung von Jungen und Mädchen an. Dazu Empfängnisverhütung. Oder Pornografie. Der Elternabend dient ja in erster Linie dazu, die Väter und Mütter dabei zu unterstützen, ihre Kinder in dieser wichtigen Phase ihres Lebens so gut wie möglich zu begleiten.
Und dazu gehört auch der Umgang mit Pornografie…
…der viele Mütter und Väter heillos überfordert. Die kostenlose Pornografie ist ja gerade mal zwei Klicks weg und wird natürlich von vielen Jugendlichen konsumiert in der Hoffnung, dort konkrete Antworten auf die Frage zu finden: «Wie geht denn das jetzt wirklich mit dem Sex?» Doch da stossen sie auf Fotos und Videos, die 12-, aber auch noch 16-Jährige überfordern, vor allem, wenn niemand ihnen bei der Einordnung von dem hilft, was sie da zu sehen bekommen.
Woran merken Sie, dass Jugendliche, aber auch schon Kinder Pornoseiten wie Youporn.com oder Pornhub.com besuchen?
An ihren Fragen. «Wie geht Analsex?» ist eine solche Frage, die eindeutig auf den Pornokonsum zurückgeht. Die gab es früher nicht in der Häufigkeit. Dazu werden regelmässig Jugendumfragen durchgeführt, in denen deutlich wird, dass vor allem männliche Jugendliche Pornos schauen, weil sie die Filme interessant finden, unter Kollegen eine Art Mutprobe veranstalten oder auch zur Selbstbefriedigung. Sie räumen durchaus ein, dass diese Darstellungen keine wirkliche Aufklärung bieten, aber unter Kollegen halt hoch im Kurs stehen. Abgesehen davon, dass sie sich strafbar machen, wenn sie die Filme weiterschicken, halte ich die Darstellungen für total kontraproduktiv für ihre sexuelle Entwicklung.
Was meinen Sie damit konkret?
Der klassische Mainstream-Porno vermittelt ein Bild von Sexualität, in dem die Frau in der Regel als Objekt dargestellt wird, ohne eigenes Interesse, ausschliesslich ausgerichtet auf die Befriedigung des Mannes. Das ist eine sehr stereotype Darstellung, die auch den jungen Männern nicht guttut, setzt sie sie doch unter enormen Leistungsdruck.
Pornos – so die Aussage in einem»Spiegel»- Interview kürzlich – stellten Männer beim Sex wie «Presslufthämmer» dar.
Genau so ist es. Das zeigt selten die Realität, wie es beim Sex wirklich zugeht, sondern eine Fiktion. Aber wenn Jugendliche sich das regelmässig reinziehen, ohne Begleitung und die Möglichkeit, Fragen zu stellen, kann es zu einem Gewöhnungseffekt kommen. Man nimmt all das für bare Münze. Mit der Zeit sucht man immer krassere Darstellungen, eine Art Dosissteigerung, wie bei anderen Süchten. Dann landet man womöglich bei Gewaltdarstellungen in Form von Schlagen und Würgen, die inzwischen auch auf diesen Portalen weitverbreitet sind. Wenn nun Junge damit zu einem Zeitpunkt konfrontiert sind, in dem sie ihre eigene echte Sexualität noch nicht entdeckt und erforscht haben, können die Folgen katastrophal sein. Es ist wahrscheinlich genauso ungesund für die Entwicklung wie der unkontrollierte Konsum krasser Horrorvideos.
Die Schlampe und der Frauenheld
Wie gelingt es Ihnen, auch die weibliche Sexualität in den Blick zu nehmen und angemessen darzustellen?
Das ist nicht ganz einfach. Ich staune immer wieder, wie tief verankert stereotype Denkmuster und Rollenbilder sind. Als ich kürzlich mit einer Gymiklasse über das Thema Teenager-Schwangerschaft diskutiert und sie gefragt habe, welche Handlungsmöglichkeiten eine 16-Jährige hat, die ungewollt schwanger ist, kamen erstaunliche Aussagen. Bei der Vorstellung, sie würde das Kind behalten, fragten sich viele in erster Linie besorgt, was wohl die anderen über die junge Frau denken könnten.
Über die vermeintliche Schlampe?
Genau. Das fand ich dann doch bemerkenswert: Eine Frau, der man ansieht, dass sie Sex hatte, wird offenbar auch unter Jugendlichen immer noch abgewertet, während der junge Mann als Frauenheld durchgeht, der schon mit vielen Frauen Sex hatte. Solche Rollenbilder versuche ich in meinen Lektionen anzusprechen und aufzuweichen. Ein Thema, dessen schambesetzte Behandlung mich auch immer wieder erschüttert, ist die Menstruation.
Erzählen Sie!
Wenn ein Mädchen seine Periode hat und einen Tampon braucht, wird der in einem Schulzimmer so versteckt herumgegeben, als würde ein Dealer heisse Ware verticken. Niemand darf es mitbekommen, wie es um das Mädchen steht. Die Scham ist überwältigend. Da leiste ich gern einen Beitrag zur Entstigmatisierung, so dass sich die Mädchen nicht mehr schämen und ihre Menstruation als so natürlich und normal anschauen können, wie sie es ist. Eine Kommilitonin von mir hat mal den Satz gesagt, ohne Mens kein Mensch. Diese positive Grundhaltung hat sich bei mir fest eingeprägt und die gebe ich gerne weiter.
Welche Probleme in Zusammenhang mit Sexualität tauchen mit der enormen Verbreitung von Social Media auf?
Die Mädchen erhalten dick pics, also Bilder von wildfremden Männern, die ihnen ihre erigierten Penisse aufdrängen. Selber werden sie von Kollegen unter dem Vorwand, man finde sie ganz toll, gebeten, ihnen Nacktaufnahmen oder Filme von sich zu schicken. Das ist auch juristisch höchst problematisch, laufen die Mädchen doch Gefahr, für die Herstellung und das Versenden von Kinderpornografie bestraft zu werden. Kommt dazu, dass sich das ganze Schulhaus über solch ein Nacktbild empört oder lustig macht, sobald es im Netz oder Klassenchat geteilt wird. Die betroffenen Mädchen sind verzweifelt und werden nicht selten depressiv. Über diese Phänomene spreche ich schon sehr früh und intensiv mit den Knaben und Mädchen, weil ich sie gern davor bewahren möchte.
Heike Junge ist 48 Jahre alt, hat zwei Teenager-Töchter. In ihrer Freizeit segelt sie als Skipperin mit Freundinnen auf dem Zürisee oder dem Meer. Wenn sie nicht auf dem Wasser ist, ist sie gern im Wasser, da sie eine leidenschaftliche Schwimmerin ist Bücher, Kino und gutes Essen möchte sie ebenfalls nicht missen.
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Vorbildliche Schule in Zollikon! Gratuliere!
Solche Themen müssen dringendstens an unseren Schulen und Zuhause besprochen und ein gutes Stück weit enttabuisiert werden um unsere Kinder nicht nur aufzuklären sondern vor allem auch zu schützen. Ich wünschte alle Schulen wären so gut aufgestellt mit internem Fachpersonal.