Menschenrechte und -würde für alle
0 KOMMENTARE
13. November 2023 – In Bern fand am letzten Donnerstag eine Konferenz zur Schaffung eines Erinnerungsortes für die Opfer des Nationalsozialismus statt. Gregor Spuhler, Leiter des Zürcher Archivs für Zeitgeschichte, formulierte dabei Gedanken, die wir weitergeben möchten – gerade heute.
Im April bewilligte der Bundesrat 2,5 Millionen Franken für die Realisierung eines Erinnerungsortes für die Opfer des Nationalsozialismus. Dieser Ort soll in Bern entstehen, für alle zugänglich sein, Ruhe ausstrahlen, einen geschützten Rahmen für Erinnerung, Gedenken und Reflexion bieten und das Interesse an weiterführenden Informationen wecken.
Die Erinnerung gilt den Schweizerinnen und Schweizern, die vom nationalsozialistischen Regime verfolgt, entrechtet und ermordet wurden; den Frauen, Männern und Kindern, denen die Schweizer Behörden während des Zweiten Weltkriegs die Rettung verweigerten; den Schweizerinnen und Schweizern, die sich dem Nationalsozialismus entgegenstellten oder den Verfolgten Schutz und Hilfe boten sowie allen Opfern des Nationalsozialismus und des Holocaust.
Die Auseinandersetzung mit der Schweizer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg sei dabei zentral, sagte der Historiker Gregor Spuhler. Der Erinnerungsort müsse auch die Frage aufwerfen, «weshalb sich die Schweiz mit der Hilfe für jene Menschen so schwertat, die von den Nazis ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden». Nachfolgend ein Auszug aus seinem Referat. (rs)
Woran soll die Schweiz erinnern?
Die Nationalsozialisten propagierten das Bild eines starken, gesunden und rassisch reinen ‹arischen› Volkes – und sie definierten ganze Gruppen, die nicht dazu gehörten. Dies betraf in erster Linie die Juden, denn dem Antisemitismus kam eine besondere Rolle zu. Verfolgt wurden aber von Beginn weg auch die politische Linke, Roma und Sinti, Homosexuelle oder sogenannte Erbkranke.
Der Krieg führte dann zur Entgrenzung: Er ermöglichte den Bruch sämtlicher Tabus, den Zivilisationsbruch. Kurz nach Kriegsausbruch begann die systematische Ermordung von weit über 100’000 Kranken und Behinderten. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 wurde mit Massenerschiessungen und Vernichtungslagern der Völkermord an den Juden und an den Roma und Sinti in Gang gesetzt. Der tödliche Rassismus der selbsternannten Herrenmenschen zeigte sich aber auch in der Behandlung von Kriegsgefangenen aus Osteuropa, die man als sogenannte Slawen abgrundtief verachtete und systematisch zugrunde gehen liess.
Die Radikalität der nationalsozialistischen Ideologie und ihre Umsetzung in einer beispiellosen Vernichtungspolitik waren einzigartig. Aber ihren Anfängen, der Diskriminierung und Ausgrenzung in den Dreissigerjahren, wurde – auch auf internationaler Ebene – wenig Widerstand entgegengesetzt. Einer der Gründe dafür war, dass sich die Verfolgung gegen Minderheiten und Schutzbedürftige richtete, die man leicht ausgrenzen konnte – und zwar, weil sie sich auf Vorurteile und Diskriminierungen abstützte, die keineswegs nur eine deutsche Angelegenheit waren.
Ausgerechnet jene Menschen, die im Zentrum der nationalsozialistischen Verfolgung standen, waren nämlich auch in der Schweiz unerwünscht. Kommunisten erhielten prinzipiell kein Asyl. Roma und Sinti waren lange vor und lange nach der Zeit des Nationalsozialismus vielfachen Diskriminierungen ausgesetzt. Dies gilt auch für die Jenischen in der Schweiz, deren nicht sesshafte Lebensweise zerstört werden sollte. Behinderte ohne Schweizer Bürgerrecht wurden in den 1930er nach Deutschland zurückgeschafft und fielen später der Euthanasie zum Opfer. Und auch Juden waren in der Schweiz unerwünscht, wobei die Behörden hier zwischen Schweizer Juden und ausländischen Juden unterschieden.
Ich möchte betonen: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen der deutschen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und den Vorurteilen und Diskriminierungen von Minderheiten in einer Demokratie wie der Schweiz. Die Demokratie schützt das Leben aller Menschen. Und doch war und ist dieser Schutz weder absolut noch unzerbrechlich. Zwischen 1942 und 1944 wurden Flüchtlinge im Wissen um ihre Lebensgefahr nicht nur zurückgewiesen, sondern mehrfach direkt ihren Verfolgern übergeben.
Ein Schweizer Erinnerungsort sollte deshalb jene Menschen ins Zentrum stellen, die im Fokus der nationalsozialistischen Verfolgung standen. Er sollte dabei den fundamentalen Unterschied zwischen der schweizerischen Demokratie und der nationalsozialistischen Diktatur aufzeigen. Aber er muss sich zugleich der Frage stellen, weshalb sich die Schweiz, die 100’000 Militärinternierte schützen konnte, ausgerechnet mit der Hilfe für jene Menschen so schwertat, die von den Nazis ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurden. Ein solcher Erinnerungsort trägt neben dem Gedenken auch bei zu einer Reflexion über den Wert der Demokratie. Er idealisiert die Demokratie nicht, sondern ruft ins Bewusstsein, dass sie sich daran messen lassen muss, ob Menschenrechte und Menschenwürde auch in Krisenzeiten und für alle – wirklich alle? – gelten.»
Ein Auslöser zur Schaffung einer nationalen Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus war das Buch über die Schweizr KZ-Häftlinge, die vergeblich auf die Hilfe ihrer Heimat warteten. Von den 409 inhaftierten Landsleuten starben 211 im KZ. Von den 340 KZ-Häftlingen, die in der Schweiz geboren wurden, aber keinen Schweizer Pass besassen, starben 262.
«Die Schweizer KZ-Häftlinge – vergessene Opfer des Dritten Reichs» von Balz Spörri, René Staubli und Benno Tuchschmid, NZZ-Libro (2019)