«Möchtisch nüd e chlini Reed halte?»
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31. Dezember 2021 – «Ohne sie wäre ich wohl nicht Journalist geworden», sagt Thomas Widmer. Als ihn Marlies Schoch 1985 fragte, ob er am 1. August eine Rede halten wolle, verliess ihn der Mut. Aber sie brachte ihn dazu, wenigstens einen Artikel in der «Appenzeller Zeitung» zu schreiben, was Folgen hatte. Er erzählt:
«Marlies Schoch war eine Legende. Die ganze Schweiz besuchte die Wirtin des Restaurants auf der Hundwiler Höhe im Kanton Appenzell Ausserrhoden und stärkte sich nach dem Aufstieg auf gut 1300 Meter mit einer Siedwurst mit Hörnli oder währschaften Rösti. Ich bin in Stein AR geboren und später dann mit meiner Familie ins Nachbardorf Hundwil gezügelt, wo mein Vater Posthalter war. Natürlich kannte ich Marlies und sie kannte mich. Schon in jungen Jahren war ich ein begeisterter Wanderer und bin immer wieder bei ihr im Restaurant eingekehrt.
Dann passierte folgendes. Es war 1985, Jahr der Jugend. Ich war 23 und hatte in Bern mein Studium der Islamwissenschaft begonnen, kam aber immer noch regelmässig nach Hundwil zu meinen Eltern. Ein paar Wochen vor dem 1. August fragte mich Marlies Schoch, die auch noch das Amt der Präsidentin des Verkehrsvereins Hundwil bekleidete: ‹Möchtisch nüd e chlini Reed halte?›
Klar: Ich war jung, dazu wahrscheinlich einer der wenigen im Dorf, die überhaupt eine Rede schreiben konnten, das machte durchaus Sinn. Doch Marlies hatte unterschätzt, wie schüchtern ich damals war. Am 1. August vor dem ganzen Dorf eine Rede halten? Das hätte ich mir niemals zugetraut. Ich hielt mich an die Wahrheit und erklärte ihr: ‹Marlies, das kann ich nicht. Dazu fehlt mir der Mut.›
Sie nahm meine Absage entspannt entgegen, hatte aber, patent wie sie war, auf der Stelle einen neuen Vorschlag: ‹Gut, dann schreibst du wenigstens in der ‘Appenzeller Zeitung’ einen Bericht über unsere 1. August-Feier.› Mit dieser Idee konnte ich mich anfreunden, weil ich schon damals ein grosses Flair für’s Schreiben hatte.
Vier Jahre später hatte ich Hunderte von Artikeln für die ‹Appenzeller Zeitung› geschrieben. Marlies Schoch hatte einen Stein ins Rollen gebracht, der nicht mehr zu stoppen war. Ich schrieb über jede Hundsverlochete, die Viehschau, das Turnfest, den neuen Pfarrer und die Generalversammlung des Musikvereins. Mich konnte man überall hinschicken. Drei Tage pro Woche war ich im Einsatz für ein Zeilengeld von 20 Rappen.
Logisch, war ich unter diesen Umständen immer darauf bedacht, möglichst lange Texte auf meiner Schreibmaschine zu verfassen. Das ganze war zwar Knochenarbeit, keine Frage, aber es erlaubte mir auch, jede journalistische Form von der Reportage über das Porträt bis hin zum Kommentar und stilistisch jede Finesse auszuprobieren. Das war eine Spielwiese für mich, auf der ich unendlich viel lernen konnte.
Mein weiterer beruflicher Werdegang ergab sich wie von selbst: Nach einem dreimonatigen Volontariat auf der ‹Appenzeller Zeitung› im Ressort Ausland engagierte mich die ‹Berner Zeitung› 1989 noch vor dem Abschluss meines Studiums als Teilzeit-Redaktor. Später wechselte ich zum neugegründeten Nachrichtenmagazin ‹Facts›, dann zur ‹Weltwoche› und zum Zürcher ‹Tages-Anzeiger›. Meine alten Tage verbringe ich nun bei der ‹Schweizer Familie›.
Marlies Schoch hat meinem Leben mit ihrem Sätzlein: ‹Möchtisch nüd e chlini Reed halte?› die entscheidende Richtung gegeben. Vielleicht wäre ich ohne sie nie Journalist geworden. In dieser Funktion habe ich dann 2016 für den ‹Tages-Anzeiger› einen Nachruf auf sie geschrieben, als sie mit 75 Jahren gestorben ist: ‹Man nannte sie Landesmutter›.»
Thomas Widmer vom Zollikerberg (geb. 1962) ist Journalist und Wanderautor