Müsste man wieder einmal Hölderlin lesen?

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Thomas Widmer: «Während ich diese Kolumne schreibe, staune ich grad wieder darüber, was wir an einem trüben Dezembertag im Thurgau alles gesehen haben – von Textilweihern über ein lachsfarbenes Haus bis zu einer krummen Brücke.»

VON THOMAS WIDMER

Lange ist es her. Mitte Januar 1801 trifft ein Mann in Hauptwil im Kanton Thurgau ein, den wir uns dreckig vorstellen müssen. Nass. Und abgekämpft. Der Dichter Friedrich Hölderlin kommt von Stuttgart, fünf Tage ist er marschiert, nun wird er im Schloss der von Gonzenbachs, einer reichen Textilsippe, eine Hauslehrerstelle antreten. Lange wird er es nicht aushalten. Gut drei Monate, dann ist das gemütskranke Genie wieder weg.

Wir gelangen wesentlich leichter nach Hauptwil als Hölderlin, komfortabel in der beheizten S-Bahn. Als wir nun loswandern, schauen wir uns als erstes das Dorf an. Dass hier einst die Leinwandherstellung florierte und einige Menschen reich machte, ein paar Prachthäuser bezeugen es.

Nun gehts aus dem Ort. Wie an einer Schnur sind gegen Nordosten fünf Weiher aufgereiht, die den Bedürfnissen der frühindustriellen Textilmanufaktur in Hauptwil zudienten. Still liegen die langgezogenen Rinnen da, heute sind sie Naturbijous.

Weiher der ehemaligen Textilfabrik
Still liegen die Weiher da, die einst…
Zweier Textilweiher
… der frühindustriellen Textilmanufaktur zudienten (Fotos: Thomas Widmer)

Bei Wilen ist Schluss mit den Weihern, über ein Waldbord steigen wir hinab zur Sitter, die mich an meine Heimat erinnert, sie kommt aus dem Appenzellerland, als Kind badete ich in ihr. Wir folgen ihr einige Zeit, verlassen sie auf der Höhe von Leutswil wieder, kommen nach Eberswil und bald ins grosse Bischofszell.

Wunderbar, jetzt gibts Zmittag. Wir nehmen das erste Lokal, das offen hat, also die Pizzeria Michelangelo. Bald darauf haben wir alle unsere Pizzas und unsere Spaghetti vor uns, langen zu, sind zufrieden.

Bloss die Ronja hat etwas anderes bestellt. Etwas Portugiesisches, das «Michelangelo» ist wohl in portugiesischer Hand. Francesinha ist ein Gericht, das alles Mögliche in einen mit Sauce gefüllten Teller packt: Toastbrot, scharfe Wurst, Schinken, Rindfleisch, Käse, ein Spiegelei. Phua! Ronja mag ihr Essen grundsätzlich. Bloss ist sie überfordert. «Es ist eine Erfahrung», sagt sie tapfer und nimmt noch einen Schluck Roten. Francesinha: von der Kalorienmenge her eine Speise für Weltumsegler, was die Portugiesen ja einmal waren.

Nach dem Essen schauen wir uns in Bischofszell um – was für eine dicht mit Historie bepackte Altstadt! Der Ort gehörte einst dem Bischof von Konstanz und war wichtig aus zwei Gründen, er lag an einem vielbenutzten Übergang über die Thur und war zweitens Grenzstadt hin zum benachbarten Reich der St. Galler Fürstäbte.

Schöne Häuserzeile in der Bischofszeller Altstadt
Bischofszell hat eine dicht mit Historie bepackte Altstadt
Hübsche Häuserzeile in der Altstadt
Gepflegte Häuserzeile

Ich möchte jetzt nicht alles benennen, was man in Bischofszell sehen muss, die Liste würde zu lang. Aber: Das Rathaus ist zwingend. Es ist lachsfarben.

Das lachsfarbene Rathaus
Das lachsfarbene Rathaus

Wir verlassen Bischofszell über die krumme Brücke, ein 116 Meter langes mittelalterliches Bauwerk aus Tuff und Sandstein. Auf der anderen Seite erreichen wir schnell den Punkt, wo die Sitter in die Thur mündet – ist es Tod oder ist es Paarung? Unklar. Die Thur wiederum legt eine riesige Schleife ins Gelände. Das so umfasste Gebiet heisst «Muggensturm». Die wissenschaftliche Datenbank ortsnamen.ch liefert mir später zwei Erklärungen. Es könnte sein, dass hier einst einer lebte, der wegen kleiner Dinge grossen Lärm machte. Ein Muggensturm halt. Ebenso plausibel ist, dass an feuchtschwülen Tagen hier besonders viele Mücken rumsurren.

Nun, in diesen Tagen gibt es todsicher kein Mückenproblem. Wir müssen zügig laufen, um nicht zu erfrieren. Lang ist der Weg, der uns noch bleibt, aber auch leicht zu finden: Wir folgen der Thur flussabwärts, wobei wir uns immer wieder mal ein bisschen von ihr entfernen und einmal in einem Waldstück ein paar Meter aufsteigen. Schliesslich sind wir in Schönenberg, überqueren auf der Strassenbrücke die Thur und sind am Ziel: Kradolf, Bahnhof. Wanderende.

Wanderweg der Thur entlang
Der Thur entlang bis nach Kradolf

Nein, halt, da fehlt etwas: das Schlussbier auf der Schönenberger Seite der Thur im Restaurant Brücke. Das haben wir uns verdient. Während wir über die Route plaudern und es draussen schon dunkel wird, sind wir uns einig: Grossartig, wie viel wir an diesem Tag gesehen und erlebt haben. Und müsste man eventuell, Jahrzehnte nach der Kanti-Zeit, wieder einmal Hölderlin lesen?

Anforderung: 17 km, 307 m aufwärts / 410 m abwärts, 4 ½ Stunden. 

Route: PDF von SchweizMobil

Thomas Widmer wohnt im Zollikerberg, ist Reporter bei der «Schweizer Familie» und hat mehrere Wanderbücher verfasst. Er wandert zwei Mal pro Woche und sagt: «Man wandert nicht nur durch eine Landschaft. Sondern auch durch die Kultur, die Geschichte, die Politik. Wenns dazu etwas Gutes zu essen gibt: grossartig!»

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