«Rückfälle sah man als selbstverständlich an»

3 KOMMENTARE

19. Oktober 2023 – Vor 30 Jahren tötete im Zollikerberg der Sexualmörder Erich Hauert die Pfadiführerin Pasquale Brumann während eines Hafturlaubs. In der Folge setzte in der Justiz ein umfassendes Umdenken ein. Der forensische Psychiater Frank Urbaniok zieht Bilanz. (3 KommentarE)

19. Oktober 2023 – Vor 30 Jahren tötete im Zollikerberg der Sexualmörder Erich Hauert die Pfadiführerin Pasquale Brumann während eines Hafturlaubs. In der Folge setzte in der Justiz ein umfassendes Umdenken ein. Der forensische Psychiater Frank Urbaniok zieht Bilanz.

Gerichtspsychiater Frank Urbaniok (Foto: Sabine Bobst; Frontfoto: Keystone)

INTERVIEW: BARBARA LUKESCH

Herr Urbaniok, Erich Hauert hatte bereits zwei Sexualmorde und elf Vergewaltigungen begangen und verbüsste eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, als er am 30. Oktober 1993 Pasquale Brumann ermordete. Wie war es möglich, dass ihm die Verantwortlichen der Strafanstalt Pöschwies einen mehrtägigen, noch dazu unbegleiteten Hafturlaub gewährten?

Das war der Zeitgeist. Im Nachgang zur 68er-Bewegung gab es grosse Reformbewegungen, die auch die Justiz und den Strafvollzug erfassten. Einerseits war das gut, denn wir hatten in Jugendheimen, aber auch im Strafvollzug äusserst repressive Systeme, in denen zum Teil sogar der gewalttätige Umgang mit Menschen in Form körperlicher Züchtigungen zum Alltag gehörte; das musste sich ändern. Doch die 68-er vertraten auch die Ideologie, dass es Straftaten nur deshalb gebe, weil in unserer Gesellschaft vieles falsch laufe. Sie seien die Folge schwieriger Lebensläufe mit Widrigkeiten in der Kindheit und mangelnder Förderung. Sobald genügend Reformen durchgeführt und die Klassen aufgehoben seien, werde es kaum noch Delikte geben. Was natürlich eine weltfremde, ja absurde Idee ist, denn Straftaten gibt es, weil es unterschiedliche Menschen gibt, die individuelle Verhaltensweisen zeigen, unabhängig davon, wie die Gesellschaft organisiert ist.

Wie wirkte sich dieses Denken konkret auf den Strafvollzug aus?

Es herrschte eine naive, unkritische Art des Umgangs mit den Tätern vor. Der Grundgedanke lautete: Jeder wird irgendwann entlassen. Verwahrte wurden in der Regel sogar schon nach drei Jahren entlassen – und wurden zu 50 Prozent rückfällig. Eine fatale Konsequenz war, dass man diese vielen Rückfälle als geradezu selbstverständlich betrachtete. Das sei halt der Preis für den rechtsstaatlich fairen Umgang mit diesen Menschen, die alle eine zweite, dritte, ja, vierte Chance verdienten. Was nahezu völlig fehlte, war zum Beispiel in den Therapien die Analyse der Straftaten, also das, was man heute als deliktorientierte Therapie bezeichnet.

Gab es bei sehr gefährlichen Tätern keine Risikoeinschätzungen?

Wenn man überhaupt Risikoeinschätzungen machte, dann oft zähneknirschend, weil sie vielen als willkürliches Machtmittel des repressiven Staates galten, der seine Bürger klassifiziert. Die Opfer spielten überhaupt keine Rolle. Kaum jemand der Verantwortlichen fragte sich, was ein schwerer Rückfall für die Betroffenen, aber auch für ihre Angehörigen bedeute. Rückfälle? Passieren halt in einem Rechtsstaat. Die Täter verbüssen ihre Strafe, kommen frei. Und dann werden halt einige rückfällig. Das war die herrschende Meinung.

Dass Erich Hauert mit seiner Vorgeschichte während mehreren Tagen draussen frei herumspazieren konnte, macht einen fassungslos.

Das war natürlich auch vollkommen verfehlt. Aber wenn man die Idee verinnerlicht hat, dass jeder Straftäter, egal, was er verbrochen hat, eine zweite, dritte und vierte Chance verdient, kommt man zum Schluss, dass es gar keine lebenslangen Strafen geben kann. So war das ja damals auch: Lebenslänglich Zuchthaus bedeutete, dass nahezu jeder nach spätestens 15 Jahren rauskam. Auch ein Serientäter wie Hauert. Also lag es auf der Hand, dass man ihn im Vorfeld der Entlassung einige Male beurlaubte, damit er sich wieder an die Freiheit gewöhnen konnte. Er bekam auch eine Therapie, die zwar nur sehr mangelhaft mit einigen handgeschriebenen Notizen dokumentiert ist, aber damit durchaus dem damaligen Standard entsprach. Jemanden als nicht therapierbar einzuschätzen und dazu noch als hochgefährlich, war nahezu undenkbar.

Bevor Sie Mitte der 90er-Jahre in die Schweiz gekommen sind, haben Sie längere Zeit in Deutschland in einer Klinik für sehr gefährliche Sexualstraftäter gearbeitet. Welche Erfahrungen brachten Sie mit?

Mir war klar, dass man mit spezialisierten Therapien sehr viel erreichen kann, aber es gibt einzelne hochgefährliche Täter, die unbehandelbar sind. Da geht es dann nicht mehr um die Erreichung von Therapiezielen, sondern um den Schutz der Bevölkerung. So habe ich mich damals auch öffentlich geäussert, was mir allerdings wüste Beschimpfungen eintrug.

Obwohl seit dem Mord in Zollikerberg erst kurze Zeit vergangen war?

So war es damals und auch noch Jahre danach. Man unterstellte mir teilweise sogar, ich hätte eine rechtsradikale Gesinnung und wende Denkmuster an wie im Dritten Reich unter Hitler. Das war damals vielerorts der herrschende Ton.

Doch der veränderte sich dann ja deutlich. Der Mord in Zollikerberg setzte im Justizvollzug ein massives Umdenken in Gang.

Die Zürcher Justiz war tatsächlich geschockt nach diesem Ereignis. Es war ja auch eine so gravierende Tragödie, dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte. Man merkte, dass alles – der Strafvollzug, die forensische Psychiatrie und die Bewährungshilfe – auf den Prüfstand gestellt werden musste. Das ist vielen bewusst geworden, auch einigen der politisch Verantwortlichen.

Zum Beispiel Moritz Leuenberger, dem damaligen Justizdirektor des Kantons Zürich und späteren Bundesrat?

Leuenberger hat bei ein, zwei Auftritten die Schuld eiligst den Gerichten zugeschoben, die Hauert nicht verwahrt hätten – was ja mit der damals üblichen Entlassung nach drei Jahren überhaupt nichts gebracht hätte. Dann verabschiedete er sich in den Bundesrat. Doch seine Nachfolger Markus Notter, Martin Graf und Jacqueline Fehr, interessanterweise alles Sozialdemokraten und Grüne, haben dann das Problem erkannt und die nötigen Veränderungen eingeleitet. Sie lösten damit eine Entwicklung aus, die zwar am Anfang immer noch viel Widerstand provozierte, aber letztlich nicht mehr gestoppt werden konnte.

Eine der treibenden Kräfte war Jeannette Brumann, die Mutter der Ermordeten, die gegen diejenigen Personen klagte, die Hauerts Hafturlaub zu verantworten hatten, darunter den Gefängnisdirektor und den Therapeuten des Täters.

Sie hat damit den Druck auf die Behörden erhöht, weil sie endlich Antworten auf ihre nachvollziehbaren Fragen bekommen wollte. Weil man ihr diese Antworten zuvor nicht gegeben hatte, ist es verständlich, dass sie geklagt hat.

Fragen welcher Art stellte sie?

Die zentrale Frage lautete natürlich: Wie konnte das passieren? Wie konnte ein Mann mit Hauerts Vorgeschichte tagelang frei herumlaufen? Welche Einschätzungen des Täters gab es? Wer hat die Ausgänge verantwortet und auf welcher Grundlage? Indem Jeannette Brumann nicht lockerliess und den jahrelangen Rechtsstreit auf sich nahm, hat sie ein grosses Verdienst daran, dass der Zürcher Strafvollzug mit rekordtiefen Rückfallzahlen inzwischen weltweit als Modell dasteht.

Hauert war ja damals der wohl bekannteste Rückfalltäter. Was weniger bekannt war, ist die Tatsache, dass er bei weitem nicht der einzige war: Es gab etliche, die nur wenig bis gar keine öffentliche Resonanz nach sich zogen.

Mir fallen jetzt aus dem Stand ein halbes Dutzend solcher Fälle ein, darunter ein wirklich schrecklicher Fall: Der Täter, ein Sexualdelinquent mit einigen Verhaltensauffälligkeiten, war in der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon/Waldegg untergebracht, als er eine Nachtwache niederschlug und eine Betreuerin vergewaltigte. Der Direktor setzte das Opfer unter Druck, keine Anzeige zu machen, weil man sonst dem jungen Mann seine Zukunft verbauen würde. Sie sah davon ab, er wurde kurz darauf entlassen und beging wenige Wochen später einen Sexualmord.

Was genau sind die wichtigsten Veränderungen, die dazu beigetragen haben, dass die Zahl solcher Fälle so deutlich zurückgegangen ist?

Der entscheidende Paradigmenwechsel kommt in einer veränderten Perspektive zum Ausdruck. Man hat sich von der einseitigen Fokussierung auf den Vollzug einer Strafe gelöst und will nun in erster Linie erreichen, dass es weniger Opfer gibt. Damit muss man die kleine Gruppe der unbehandelbaren hochgefährlichen Täter langfristig und auch lebenslang sichern, unter anderem durch Verwahrungen. Und man muss mehr und differenziertere Therapien anbieten, Gefährlichkeitsbeurteilungen vornehmen, nach Entlassungen ein Monitoring durchführen, um die Leute vor allem in der ersten Zeit gut zu beobachten. Es ist ja bekannt, dass Rückfälle häufig in genau diese Phase fallen, in der die Leute plötzlich sich selber überlassen, aber damit zum Teil überfordert sind.

Dafür gibt es ja die Bewährungshilfe.

Die hat sich früher oft als eine Art guter Kumpel verstanden, der vor allem bei der Wohnungs- und Stellensuche hilft. Das ist ja auch wichtig. Aber damit ist es nicht getan. Es braucht auch die Fähigkeit und das Know how zu realisieren, wenn es bei einem Entlassenen zu Verhaltensweisen kommt, die mit einem erhöhten Rückfallrisiko einhergehen könnten. Was machen wir jetzt? Wie und wann müssen wir intervenieren? Diese Art von Risikomanagement ist ein weiterer wichtiger Bestandteil von Justiz und Strafvollzug, den es früher in dieser Weise nicht gab.

Gibt es wirklich unbehandelbare Täter?

Selbstverständlich. Es gibt eine sehr kleine Gruppe von Tätern, die extrem gefährlich und unbehandelbar sind. Die Kombination aus «extrem gefährlich» und «unbehandelbar» stellt das grosse Problem dar. Da bleibt in meinen Augen nur die langfristige Sicherung, zum Beispiel durch die Verwahrung.

Zählen Sie Hauert zu dieser Gruppe?

Ja, ganz klar. Wenn die Leute dann fragen, ob ich 100 Prozent sicher bin, dass er auch in 50 Jahren nochmals einen Sexualmord begehen würde, staune ich über das zugrunde liegende Denken. In keinem anderen Bereich würden wir eine Eintrittswahrscheinlichkeit von 100 Prozent fordern, um einem sehr hohen Risiko mit fatalen Folgen mit Massnahmen begegnen zu können. Selbstverständlich würde man in jedem anderen Bereich auch bei einem Risiko von «nur» 80 oder 90 Prozent dafür, dass Menschen zu Tode kommen, reagieren. Darum muss bei Hauert die Frage umgekehrt gestellt werden: Kann bei einer solchen Vorgeschichte und einer so hohen Gefährlichkeit eine Situation eintreten, in der eine Entlassung verantwortbar wäre? Meine Antwort lautet: Nein.

NZZ: «Schwere Straftaten auch von mehreren anderen Häftlingen im Hafturlaub»

3 KOMMENTARE

Sehr geschätzter Herr Urbaniok. Vielen Dank für Ihre deutlichen Worte und Ihr klares Statement. Ich habe schon einige Beiträge von Ihnen im TV oder in Zeitschriften gelesen. Ich finde, Sie haben ein sehr differenziertes Denken und Sie können die Handlungsweise von Tätern genau analysieren. Grundsätzlich hat zwar jeder Mensch eine 2. Chance verdient, aber es gibt Grenzen, was Sie scheinbar auch so sehen. Wenn ein Straftäter einen Mitmenschen geplant und brutal umbringt und nicht therapiert werden kann, dann hat Ersterer ein Leben in Freiheit – meiner Meinung nach – verwirkt! Um die Bevölkerung und insbesondere potentielle Opfer zu schützen, gehört der Täter bis zu dessen Ableben ins Gefängnis (23 h drin plus 1 h Hofgang). Alles andere ist nicht zu verantworten. Es gibt wirklich Täter, bei denen sich eine Therapie lohnt. Es muss aber von mehreren Fachpersonen eingeschätzt und bestätigt werden, ob diese langfristig erfolgreich ist und ob dadurch Straftaten verhindert werden können. Anmerkung: Ich habe selbst 6 Jahre als Sozialtherapeut im Massnahmenvollzug gearbeitet.

Freundliche Grüsse
B.A.

Der Mord an Pasquale Brumann hat mich vor 30 Jahren erschüttert und er tut es heute noch. Pasquale ist wie ich 1973 geboren worden. Eine tolle junge Frau brutal aus dem Leben gerissen, ermordet. Das geht mir heute nahe und in 30 Jahren, sowas ist ewig falsch.

Danke für diese klaren Worte und Argumente. Als Pflegefachfrau wurde ich selbst von einem mehrfachen Vergewaltiger bedroht, geradezu während der Arbeit auf der geschlossenen Psychiatriestation von ihm lästig verfolgt. Ich wurde weder von der Pflegedienstleitung noch von Chefarzseite ernst genommen, als er mir drohte, ich werde die Nächste sein! Er wurde dann auf eine offene Station etwas weiter weg verlegt, mit dem Argument er sei therapieresistent… – für mich einfach nur beängstigend. Das ist allerdings bereits ca. 30 Jahre her, vergessen werde ich das nie. (Name der Verfasserin ist der Redaktion bekannt)

WIR FREUEN UNS ÜBER IHREN KOMMENTAR

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

3 × 2 =

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht