Schwamendingen, ein Quartier im Umbruch
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Barbara Lukesch, René Staubli: «Schwamendingen hatte lange Jahre kein sehr gutes Image; das hat sich in letzter Zeit geändert. Der Gang durch das Quartier ist wie ein Lehrpfad in Stadtentwicklung. Dabei erlebt man sogar Natur pur.» (1 Kommentar)
Die S 18 bringt uns vom Zollikerberg zum Stadelhofen, das 9er-Tram vom Bellevue direkt zum Schwamendingerplatz, dem Ausgangspunkt unserer Stadtwanderung. Gleich um die Ecke ist der Gasthof «Hirschen», davor ein alter Brunnen mit zwei Trögen. Vor rund 200 Jahren herrschte hier tierisch Betrieb. Die Postkurse und Fuhrwerke mussten beim «Hirschen» zusätzliche Zugtiere vor die Wagen spannen, um über den Irchel nach Zürich zu kommen.
Wir überqueren die Winterthurerstrasse und schlagen den Weg Richtung Ziegelhütte ein. Das 1825 errichtete Schulhaus, das bald am Wegrand auftaucht, erinnert uns an Heinrich Bosshard, der hier unterrichtete und als Verfasser des moderneren der beiden Sempacherlieder bekannt wurde: «Lasst hören aus alter Zeit / Von kühner Ahnen Heldenstreit / Von Speerwucht und wildem Schwertkampf / Von Schlachtstaub und heissem Blutdampf / Wir singen heut’ ein heilig Lied / Es gilt dem Helden Winkelried.»
Der Lehrer, Musiker, Dichter, Naturforscher, Landwirt und Familienvater Bosshard wanderte in den 1850er-Jahren nach Amerika aus. Nach anfänglichen Schwierigkeiten schrieb er in die Heimat: «Der Ertrag an Obst, Vieh und Honig hat dies Jahr unser Einkommen auf weit über 2000 Dollars gesteigert, was mehr ausmacht als mein Lehrereinkommen in Schwamendingen in den 17 Jahren zusammen.»
Im Handumdrehen sind wir mitten in der Natur. Vorbei an Gänsen und Schafen erreichen wir nach einem kurzen Anstieg die Ziegelhütte. Hier entstand eine Brennerei, als die Dächer der Häuser auf dem Land statt mit Stroh mit Ziegeln gedeckt wurden. Heute ist die Ziegelhütte eine weitherum bekannte Gastwirtschaft. Oberhalb hat es einen Rastplatz, der bei klarer Sicht einen fantastischen Blick über Schwamendingen, Dübendorf und das Zürcher Unterland erlaubt. Kurz nach 15 Uhr bietet sich uns ein spektakuläres Bild: Ein Airbus A380 der Emirates, das grösste Passagierflugzeug der Welt, hat vom nahen Flughafen Kloten abgehoben und ist majestätisch unterwegs nach Dubai.
Der idyllische Huebhof
Nach der kurzen Erholungspause gehen wir nicht Richtung Zoo, sondern nehmen den Franzosenweg dem Waldrand entlang, der anschliessend hinunter zum landwirtschaftlichen Grossbetrieb Huebhof führt. Schmucke hellgraue Kühe stehen auf der Weide, glückliche Hühner buddeln sich Kulen, setzen sich hinein und lassen sich von der Herbstsonne das Gefieder wärmen. Auf diesem Biobauernhof, der Getreide, Fleisch, Eier und Gemüse produziert, kann man selber mitwirken oder sich für einen Ernteanteil anmelden.
Auf dem Pausenplatz des Schulhauses Stettbach, das wir kurze Zeit später erreichen, erinnert ein Findling mit drei Kanonenkugeln ans Jahr 1799, als die französischen Truppen von den Österreichern verjagt wurden. 4000 Soldaten verloren damals das Leben. Auf der Gedenktafel lesen wir: «Für unsere Bevölkerung war dies eine Zeit des Schreckens und der Not.»
Eine andere Art der Not entsteht entlang der viel befahrenen Dübendorferstrasse, die wir alsbald überqueren. Baugespanne, so weit das Auge reicht. Ein ganzes Quartier wird hier abgerissen, die alten, teils versifften zweistöckigen Hauser aus den 1950er- und 60er-Jahren müssen Neubauten weichen, die deutlich höher in den Himmel ragen werden. Wir fragen uns, was bei dieser städtischen Verdichtung und Gentrifizierung mit den langjährigen BewohnerInnen geschieht.
Die Gartenstadt
Schwamendingen entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg stürmisch. Der Zürcher Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner orientierte sich an der Idee der Gartenstadt als Gegenentwurf zur urbanen Verdichtung, als er seinen Überbauungsplan entwarf. Zwischen den Häusern viel Grün und Luft zum Atmen, auffällig viele verkehrsfreie Schul-, Velo- und Spazierwege. In Hirzenbach entstanden zwischen der Grosswiesen- und der Winterthurerstrasse von 1955 bis 1961 nicht weniger als 1500 Wohnungen. Schwamendingens Bevölkerung wuchs zwischen 1940 und 1960 um mehr als das Zehnfache von 2500 auf 33‘000 Personen an.
In den meisten Quartieren trifft man folglich auf eine Einheitsarchitektur: zwei- bis dreistöckige Häuser mit Giebeldach, Balkonen und kleinen Fenstern. Immer wieder Baugespanne, deutlich höher als die Giebel, die von der nahen Zukunft zeugen: Verdichtung, variantenreichere Gestaltung, zeitgemässer Komfort – und wohl auch deutlich höhere Mieten. Ins Auge fällt uns ein Hochhaus mit waghalsig konstruierten Balkonen, auf denen wir lieber nicht länger sitzen würden.
Schwamendingen bereitet uns Stadtwanderern ein Wechselbad der Gefühle. Eben noch in einem grünen, beschaulichen Quartier unterwegs, wo man sich auf der Strasse noch grüsst, ragt vor uns plötzlich der 100 Meter hohe Turm des Heizkraftwerks Aubrugg bedrohlich empor. Wir überqueren die Glatt auf einer eisernen Brücke und müssen unter der Autobahn hindurch, dann links der schnurgeraden Bahnlinie entlang, wo wir an eine Schnittstelle der besonderen Art gelangen: auf engstem Raum eine Fussgängerbrücke, daneben die Eisenbahnbrücke über die Glatt, darüber die Autobahn auf Betonstelzen, flankiert von einer Starkstromleitung.
Dann plötzlich wieder ein Idyll: eine reizende Familiensiedlung entlang der Glatt, eine grosse Wiese vor den Häusern, viel Platz zum Picknicken und Grillieren an einem schönen, warmen Sommertag. Alles in Blickweite zur Kehrichtverbrennungsanlage Hagenholz am andern Glattufer, die das nahe Heizkraftwerk Aubrugg mit Energie versorgt. Direkt hinter der KVA Architektur vom Feinsten: Das Schulhaus Saatlen mit der gläsernen Turnhalle im obersten Stock.
Der Stadtspaziergang führt uns vor Augen, wie stark Schwamendingen in den nächsten Jahren wachsen wird. Kein Wunder, will die Stadt in der Saatlen demnächst auf 30’000 m2 eine neue Schulanlage für 231 Millionen Franken bauen – für 24 Primar-, 12 Sekundarklassen, 4 Kindergärten, 16 Klassen der Schule für Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen sowie Räumen für die örtliche Musikschule des Zürcher Konservatoriums. Das alles für rund 1000 Schülerinnen und Schüler. Es wird das grösste Stadtzürcher Schulhaus, das jemals gebaut wurde.
«Einhausung der Autobahn»
Beim Schulhaus überqueren wir die Eisenbahnlinie auf einer Brücke und gelangen auf der Saatlenstrasse zu einem weiteren Schwamendinger Megaprojekt: Die sogenannte Einhausung der Autobahn auf einer Länge von 900 Metern. Die Menschen, die entlang der Hochleistungsstrasse wohnen, hielten jeden Tag den Lärm von 110’000 Autos aus, atmeten die Abgase ein. 2024 soll das Bauwerk vollendet sein. Der Verkehr fliesst dann abgeschottet im oberirdischen Tunnel, kein Lärm und kein Staub mehr, plötzlich reine Luft.
Baugespanne an etlichen Häusern entlang der «Einhausung» zeigen jedoch, dass hier «Ende gut, alles gut» nicht für alle gilt. Jahrzehntelang haben die Menschen den Verkehrslärm ertragen, wurden bemitleidet für die schlechte Wohnlage. Und jetzt, wo sich die Lebensqualität spürbar verbessern wird, verlieren sie ihr Zuhause. Wohin gehen sie alle? Und wer folgt ihnen nach? Dieser Stadtspaziergang gibt zu vielen Gesprächen Anlass.
Zum Abschluss in den «Hirschen»
Nach dreieinhalb Stunden (inklusive Erholungspausen) erreichen wir wieder unseren Ausgangspunkt, den Schwamendingerplatz. Wir haben einen Bärenhunger und gehörig Durst. Um 18.30 Uhr ist die gemütliche Gaststube des «Hirschen» bereits proppenvoll; zu unserem Glück gibt es aber noch einen letzten freien Tisch.
Wir stürzen je einen halben Liter Mineralwasser hinunter und geniessen danach ein Appenzeller Quöllfrisch vom Fass. Der Salat zur Vorspeise ist grossartig: frisch, knackig, mit Rüebli, Randen, Gurken und Rotkohl. Dazu knuspriges dunkles und helles Brot. Danach darf es, passend zum Tag, gern etwas Währschaftes sein; wir entscheiden uns für die Pouletbrust, gratiniert mit Café de Paris-Butter, und Pommes frites. Zugegeben kein Diätmenu, aber wir sind fast gestorben vor Hunger.
Die zarten Pouletbruststücke, bedeckt von der crèmigen, wohl noch mit Rahm verfeinerten Café de Paris-Sauce, der die Hitze des Backofens den unwiderstehlichen Gratin-Look verliehen hat, versetzen uns geradezu in Euphorie. Die Pommes frites sind perfekt. An unserem Tisch herrscht für eine Weile genüssliches Schweigen. Wir finden, dass wir die Stärkung verdient haben.
Gegen 20.30 Uhr tuckern wir mit dem 9er-Tram wieder Richtung Bellevue und lassen uns dann von der zuverlässigen Forchbahn auf den Zollikerberg schaukeln. Wir sind uns einig: Stadtspaziergänge sind eine wunderbare Art, Zürich besser kennen zu lernen. (bl/rs)
Anforderung: 8,2 km, 98 m auf- und abwärts, 2 Stunden reine Wanderzeit.
Route: PDF von SchweizMobil
Infomaterial: Diese Stadtwanderung basiert auf dem «Plan Nr. 15 Schwamendingen» des Tiefbauamts der Stadt Zürich aus der Reihe «Züri z’Fuess» . Der Plan kann unter diesem Link kostenlos bestellt werden.
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Werde ich nachmachen. Allein schon wegen der Café-de-Paris-Sauce!