Seltsam ist’s, im Nebel zu wandern
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Adrian Michael: «Wanderungen bei Prachtswetter habe ich im Sommer und Herbst einige unternommen – Zeit also für ein Kontrastprogramm. Vom Hochmoor bei Rothenthurm habe ich schon oft gelesen und gehört, war aber noch nie dort. Los gehts.»
An einem kalten und grauen Dezembertag steige ich mit Schal, Mütze und gut eingepackt in mehrere Kleiderschichten in Biberbrugg aus dem Zug.
Also wegen Biberbrugg alleine braucht man nicht dort hinzufahren. Es ist ein Nicht-Ort, ein Durcheinander von zwei Eisenbahnlinien, zwei Strassen, dazwischen eingeklemmt der Bahnhof, dazu Parkplätze und eine Garage, alles wie von einem bekifften Praktikanten eines Planungsbüros lieblos in die Landschaft gesetzt. Das Flüsslein Biber, das sich hier mit der Alp vereinigt, sucht sich gequält einen Weg durch das Desaster. Daneben steht das Kantonsgefängnis des Kantons Schwyz – passt irgendwie zum traurigen Anblick.
Aber schon nach ein paar Minuten habe ich die Bausünden hinter mir gelassen und gehe über kurz geschnittene Wiesen dem Waldrand zu.
Farengütsch heisst der Hügel dort, belehrt mich die Wander-App. Kalt ist es, die Wiesen sind mit Raureif bedeckt, das Wasser in den Pfützen ist gefroren, und ich bin froh, auch die Handschuhe mitgenommen zu haben. Durch die Tannen ziehen Nebelschwaden unter dem grauen Himmel. Links liegt auf der anderen Seite des Baches die Siedlung Schwyzerbrugg.
Im Wald fallen mir bald einmal die zahlreichen Papiertaschentücher auf, die immer mal wieder am Boden liegen, grössere und kleiner sind es, alle liegen in Asthaufen. Ein «Taschentuch» nahe am Weg sieht aber etwas eigenartig aus. Gross ist mein Erstaunen, als ich es näher betrachte. Ein Taschentuch ist es nicht, Raureif auch nicht, aber was ist es? Eine Art Pilz? Die fadenartige Struktur erinnert an sehr feine Daunen. Anfassen kann man es nicht, auch zu spüren ist nichts, das Gebilde löst sich sofort auf. Ich fotografiere es und zeige die Aufnahme wenig später zwei jungen Forstarbeitern. Sie schauen interessiert, schütteln aber synchron die Köpfe: Nein, keine Ahnung.
Das Rätsel löst sich zuhause, das Internet weiss Rat. Haareis, ist es, auch Eiswolle genannt. Haareis entsteht bei grosser Kälte und hoher Luftfeuchtigkeit in morschem und feuchtem Totholz, wenn das Wasser im Holz gefriert. Dies beginnt an der Oberfläche und setzt sich weiter im Inneren des Holzes fort. Das innen ständig neu gebildete Eis benötigt ein grösseres Volumen als Wasser und schiebt deshalb die fertigen Kristalle vor sich her, bis die fadenförmigen Eiskristalle schliesslich durch die Poren nach aussen wachsen. So entsteht bei Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt, wenn das Wasser im Holz noch nicht gefroren ist, ein Pelz aus Eiskristallen. Wenn ich später am Vormittag dort vorbeigekommen wäre, hätten sich die «Taschentücher» wohl schon aufgelöst und ich hätte etwas verpasst.
Nach dem Überqueren der Strasse folgt der Wanderweg dem Flüsschen Biber, links liegt eine hügelige Wiesenlandschaft mit vereinzelten grösseren und kleineren Bauminseln. Zahlreiche kleine Wasserläufe dringen aus dem nassen Boden und streben der Biber zu. Zusammen mit schilfartigem Röhricht weisen sie auf das Hochmoor in unmittelbarer Nähe hin. Die Sonne drückt durch die Nebelschicht, rechts über dem Hügelzug schimmert blau der Himmel durch die Hochnebeldecke.
Nach einem kurzen Aufstieg durch den Wald gelange ich nun zum Rand des eigentlichen Moorgebiets. Hinter einem Saum aus silberbedeckten Gräsern dehnt es sich aus, verschwindet im Nebelgrau.
Sanft gewellte wassergetränkte Wiesen, durchzogen von grösseren und kleineren Wasserläufen, immer wieder kahle Bäume, in Gruppen oder allein stehend, auch dunkelgrüne Tannen sind da, dazwischen grössere und kleinere Inseln aus Buschwerk, ab und zu steht ein Stall. Die «Turpnä-Hüttli» erinnern an die Zeit, in der im Hochmoor Torf gestochen wurde, «turpnä» nannte man das im lokalen Dialekt.
Die tief hängende Wolkendecke, die reifbedeckten Bäume und die Wiesen sind wie ein Gemälde aus verschiedenen Grau-, Grün- und Weisstönen. Wunderschön ist das, auch ohne Sonne – oder gerade deswegen? Menschen sind nur wenige zu sehen. Ein Vater ist mit seinen zwei kleinen Buben unterwegs, die begeistert mit ihren Stiefelchen die Eisschicht über den Wasserpfützen aufknacken. Zwei Männer trotten schweigend nebeneinander her, zwei Reiter ziehen vorbei.
Etwas verloren stehen ein paar Schafe in ihrem Gehege, sie schauen neugierig. Was die wohl den ganzen Tag tun? Mir kommt Morgensterns Mondschaf in den Sinn – hier wird es zu einem Moorschaf: «Das Moorschaf steht auf weiter Flur. Es harrt und harrt der grossen Schur. Das Moorschaf.» Ob es Schafen auch langweilig werden kann? Wenn ja, habe ich vielleicht eine kleine Abwechslung in ihren Tag gebracht, nur Harren wird auf die Dauer vielleicht doch etwas eintönig.
Die grossartige Landschaft dieses Moorgebietes ist der engagierten lokalen Bevölkerung zu verdanken, die sich erfolgreich gegen die Pläne des Militärs wehrte, das hier anfangs der 1970er-Jahre einen Waffenplatz hinstellen wollte. Eine Kaserne für 500 Soldaten wollte das EMD bauen, daneben ein grosses Übungsgelände mit Pisten, Wällen und Stellungen.
Innerhalb eines halben Jahres kamen 163’000 Unterschriften für die nationale Volksinitiative zum «Schutz der Schweizer Moore» zustande. Nach einem erbittert geführten Abstimmungskampf – EMD und Armee galten damals noch als heilige Kühe im Land, wer sich ihnen in den Weg stellte, galt als Linker oder Landesverräter – wurde die Initiative am 6. Dezember 1987 mit einem Ja-Anteil von 57% angenommen, und die Rothenthurmer Moorlandschaft wurde unter eidgenössischen Schutz gestellt. Sie ist mit rund 10 km2 die letzte grosse zusammenhängende Moorlandschaft des Alpennordrands.
Später streife ich die Bahnlinie der SOB und biege dann nach rechts ab, es geht zurück ins Moor. Wieder folgt der Weg der Biber, die hier, gesäumt von Gesträuch und Röhricht, noch ungestört mäandrieren darf. Dann taucht aus dem Nebel der Ort Rothenthurm auf, den ich nach knapp drei Stunden erreiche.
1842 begann Annette von Droste-Hülshoff ihre Gruselballade «Der Knabe im Moor» mit den Zeilen:
«O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt! –
O schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!»
Zum Schluss schreibt sie:
«Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,
O schaurig war’s in der Heide.»
Nun, mein Gang über das Moor war weder schaurig noch fürchterlich, ich habe offenbar Glück gehabt! Die Wartezeit bis zur Abfahrt meines Zuges verbringe ich bei einer wärmenden Kürbissuppe im Café Turm, dann bringt mich die SOB wieder ins Unterland.
Anreise: Mit dem Interregio nach Wädenswil, und von dort mit der S-Bahn nach Biberbrugg.
Anforderung: 10.5 km, 247 m aufwärts, 153 m abwärts,
Route: PDF von SchweizMobil