«Sie fühlen sich als Zolliker, nicht als Zürcher»
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20. März 2025 – Alexandra Matulla* und Michael Germann** von der Offenen Jugendarbeit Zollikon kennen die jungen Leute aus der Gemeinde so gut wie nur wenige. Sie schildern, was die Zolliker Kids von anderen unterscheidet und wie gross die Anziehung der Stadt auf sie ist. (1 Kommentar)
20. März 2025 – Alexandra Matulla* und Michael Germann** von der Offenen Jugendarbeit Zollikon kennen die jungen Leute aus der Gemeinde so gut wie nur wenige. Sie schildern, was die Zolliker Kids von anderen unterscheidet und wie gross die Anziehung der Stadt auf sie ist.

VON BARBARA LUKESCH
Wie würden Sie die Zolliker Jugendlichen charakterisieren?
Alexandra Matulla: Die Zolliker Jugendlichen sind sehr höflich, aber auch sehr angepasst. Wir erleben selten, dass sie sich wesentlich gegen etwas auflehnen oder Grenzen ausloten, geschweige denn überschreiten.
Wie loten Jugendliche Grenzen aus? Geben Sie uns doch ein konkretes Beispiel!
Matulla: Jugendliche wissen sehr genau, dass sie die Jugendarbeitende mit rassistischen oder sexistischen Sprüchen provozieren können. Da braucht es nicht viel und schon reagieren sie. In vielen Gemeinden erleben wir junge Leute, die genau dieses Mittel einsetzen, weil sie auf der Suche nach Grenzen sind. Anders hier in Zollikon: da erleben wir solche Provokationen selten. Wir waren in den zehn Jahren, in denen wir hier Jugendarbeit machen, auch nie mit einer Gruppe konfrontiert, die sich – überspitzt gesagt – zu einer Bande zusammengeschlossen und ihre Umgebung extrem geplagt hat. Auch das kommt in anderen Gemeinden immer mal wieder vor.
Michael Germann: Ich bin seit 2019 Jugendarbeiter in Zollikon und erlebe die Jugendlichen auch als sehr nett. Wenn sie uns irgendwo in der Gemeinde ausserhalb des Jugendhauses begegnen, zeigen sie ihre Freude und grüssen uns. Klar gibt es Situationen, in denen sie mit niemandem etwas zu tun haben wollen und sich verdrücken, aber in der Regel sind sie sehr kontaktfreudig.
Matulla: Was uns auch auffällt, ist, dass die Zolliker Jugendlichen wohl etwas unselbständiger sind als Altersgenossen und -genossinnen aus anderen Gemeinden.
Wie zeigt sich das?
Germann: Beispielsweise im Jugi: Da kommen sie und fragen, ob sie eine Pizza heissmachen dürfen. Doch oft weiss niemand von ihnen, wie man den Herd anstellt. Lässt man sie einfach mal machen, heisst es schnell: «Die Pizza wird ja gar nicht warm!» oder «Hilfe, die ist ja schon ganz schwarz.» Da geht es um Basics aus dem Alltag, wo man staunt, wie unpraktisch die jungen Leute sind.
Vielleicht sind sie es ja gewöhnt, dass ihnen daheim alles abgenommen wird?
Germann: Möglich. Wir beobachten einfach dieses Verhalten.
Mit Jugendlichen welchen Alters haben Sie es denn zu tun?
Germann: Unsere Hauptzielgruppe stammt aus der Oberstufe bis 18 Jahre. Dazu bieten wir am Mittwochnachmittag noch einen Mittelstufentreff an, den Knaben und Mädchen ab der vierten Klasse, also Neun- bis Elfjährige besuchen können. Mit diesem Angebot wollen wir nicht primär Jüngere erreichen, sondern eine Beziehungsbasis legen, wenn sie dann in die Pubertät kommen. Wir haben festgestellt, dass wir besser an die Oberstufenkids herankommen, wenn wir sie schon länger kennen.
Matulla: Auf dieser Basis können wir auch problematische Entwicklungen schneller erkennen und stoppen. Insofern ist der Mittelstufentreff für uns auch ein Frühwarnsystem, das sich in anderen Gemeinden bereits bewährt hat.
Was heisst das konkret?
Matulla: In einer anderen Gemeinde, die ich auch betreue, hatten wir eine Gruppe Mittelstüfler, die sich in der Öffentlichkeit immer auffälliger benahm. Sobald sie versuchten, miteinander Fussball zu spielen, gerieten sie sich in die Haare, schrien sich an oder begannen zu heulen. Es war schnell klar, dass wir da intervenieren mussten. So haben wir einen Mittelstufentreff initiiert, der von genau diesen Knaben sehr intensiv genutzt wurde. Die Folge? Unsere Jugendarbeiter konnten die Betroffenen gut durch die Jahre der Pubertät begleiten, so dass alle eine Lehrstelle fanden und sich prima entwickelten.
Zurück zu Zollikon. Was an der Gemeinde hat für Jugendliche die weitreichendsten Folgen?
Matulla: Was Zollikon von anderen Gemeinden unterscheidet, ist die Zwei-, wenn nicht Dreiteilung. Wir haben das Dorf, den Zollikerberg plus noch den Bereich rings um den Bahnhof nahe am See. Zwischen den einzelnen Teilen muss man relativ weite Wege plus insgesamt 300 Höhenmeter zurücklegen – was für Jugendliche, die noch kein Auto haben, relativ viel ist.
Was sind die Folgen?
Germann: Je nachdem, wo die einzelnen wohnen, sind sie eingeschränkter in ihren Bewegungsmöglichkeiten. Wir kennen Jugendliche vom Zollikerberg, die dürfen vor allem im Winter, wenn es früh dunkel wird, abends nicht ins Jugi oder müssen schon um acht Uhr wieder gehen, weil ihre Eltern den Heimweg zu lang und gefährlich finden. Das ist schade, weil die Kids gerade im Winter gern ins Jugi kommen, während sie sich in den wärmeren Jahreszeiten vor allem am See treffen.
Matulla: Was in Zollikon immer wieder zu reden gibt, ist die Frage, wo die Jugendlichen aus der Oberstufe ihre Mittagspause verbringen können. Hier machen wir ein Angebot, das es nur in ganz wenigen anderen Gemeinden gibt: wir öffnen das Jugi jeweils donnerstags über Mittag, damit sich die Jungen treffen, ihre mitgebrachte Verpflegung essen und etwas ausruhen können. Das wird in erster Linie von den jungen Leuten vom Zollikerberg genutzt, die im Buechholz in die Schule gehen und nur schlecht zum Essen nach Hause fahren können.
Wieso gibt es diesen Mittagstreff nicht häufiger?
Germann: Das ist einerseits eine Frage unserer personellen Ressourcen. Aber als wir in einer Testphase häufiger offen hatten, haben wir auch gemerkt, dass die Jungen nicht jeden Tag kommen wollen. Donnerstag war der mit Abstand bestbesuchte Tag.
Matulla: Es entspricht auch nicht unserem Auftrag, einen Raum zu stellen, sondern wir sollen in erster Linie Beziehungen zu den Jugendlichen schaffen. Das kann auf unterschiedliche Art passieren: einerseits im Jugi, zum anderen aber auch während unserer aufsuchenden Arbeit, die uns an Treffpunkte der Jungen innerhalb der Gemeinde führt. Oder im Rahmen von Projekten, die wir initiieren wie die Offene Halle. Dabei bieten wir im Winterhalbjahr einmal monatlich an einem Samstagabend die Turnhalle Buechholz zur freien Nutzung an. Wer will, kann Sport machen; andere können sich auch einfach treffen und unterhalten.
Wie viele Jugendliche nutzen Ihre Angebote?
Germann: Das ist sehr unterschiedlich. Manchmal kommen an einem Freitagabend knapp 50 ins Jugi, das nächste Mal sind es nur fünf. Das hängt auch davon ab, was sonst noch alles los ist. Neue Angebote wie die Offene Halle brauchen eine gewisse Anlaufzeit, bis sie sich etabliert haben.
Was Zollikon ganz sicher von Küsnacht, Zumikon oder Herrliberg unterscheidet, ist die Nähe zur Stadt Zürich, die mit dem Bus, S-Bahn, Forchbahn aus allen drei Dorfteilen schnell erreichbar ist. Welche Auswirkungen hat das auf die Jungen?
Germann: Diese besondere Lage führt tatsächlich dazu, dass die hiesigen Jugendlichen sehr auf Zürich hin orientiert sind. Trotzdem – und das finde ich wirklich bemerkenswert – betonen sie, dass sie sich als Zollikerinnen und Zolliker und nicht als Zürcher fühlen.
Matulla: Jugendliche sind in einem ganz besonderen Masse auf der Suche nach Zugehörigkeit. Wo gehöre ich dazu, ist eine Frage, die sie beschäftigt. Von daher ist die Identifikation mit Zollikon, dem Ort, wo sie in die Schule gehen, wohnen und sich doch mehrheitlich aufhalten, grösser als mit Zürich, der Stadt, in der sie hin und wieder in den Ausgang gehen und konsumieren.
Gut, aber Zürich mit seinem Unterhaltungs- und Gastroangebot übt ja auch auf Erwachsene einen grossen Reiz aus.
Germann: Das ist zweifellos der Fall. Aber wenn wir die Jugendlichen fragen, was genau sie in Zürich unternehmen, zählen sie keine Clubs oder Discos auf, dann heisst es: wir treffen uns am Stadelhofen. Zürich steht eher für Abhängen, vielleicht auch für die Freiheit, an einem Ort genau das zu machen, was ihnen gefällt, ohne sich dabei beobachtet zu fühlen. Die Jüngeren finden es wohl auch toll, schon relativ früh nach Zürich in den Ausgang zu gehen. In einem gewissen Alter fühlt man sich dann ziemlich gross.
Inwieweit entzieht die grosse Stadt mit ihren Verlockungen hiesigen Angeboten wie den Vereinen oder Aktivitäten wie dem Laientheater die jungen Leute?
Germann: Natürlich bietet Zürich den Jungen viel. Aber ich stelle fest, dass viele unserer Jugendlichen in der Gemeinde in einem Verein aktiv sind, sei es im Fussballklub, dem Schach- oder Tischtennisklub, beim Synchronschwimmen oder Hallenfussball oder dann in der Pfadi, die ja sehr viele anzieht. Die Jungen und Mädchen sind oft sehr engagiert in ihren Hobbys.
Matulla: Ich denke, solche Angebote gehen auch einher mit dem Kontakt zu Erwachsenen wie Trainern, Trainerinnen oder Pfadileitern, die die Jugendlichen ernst nehmen, ihnen zuhören und gern mit ihnen zusammen etwas auf die Beine stellen. Das ist kein Konsum-, sondern ein Beziehungsangebot vergleichbar mit unserem, das auch das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft stärkt. Da will niemand mit den Jugendlichen Geld verdienen, sondern zeigt echtes Interesse an ihnen.
Inwieweit sind die Zolliker Jugendlichen geprägt von den hohen Leistungserwartungen ihrer Eltern? Überdurchschnittlich viele Kinder besuchen das Gymnasium, auch die grosse Zahl jener, die ihrem Nachwuchs den Besuch des Lernstudios ermöglichen, ist hinlänglich bekannt.
Matulla: Schwer zu sagen, da uns keine entsprechenden Zahlen vorliegen. Sicher gibt es diesen Leistungsdruck, der auf den Jugendlichen lastet, aber den findet man auch in Erlenbach oder andernorts.
Germann: Ich höre schon oft von Jugendlichen, dass sie gar nicht mehr gross von zu Hause weggehen, weil sie solchen Druck spüren oder schlicht keine Energie mehr haben. Aber ich denke auch, dass dies kein spezifisch Zolliker Phänomen ist, sondern weitverbreitet.

*Alexandra Matulla, seit 20 Jahren in der offenen Jugendarbeit tätig, seit acht Jahren als regionale Jugendbeauftragte bei der MOJUGA Stiftung unter anderem für die Gemeinde Zollikon zuständig. Sie ist ursprünglich Lehrerin und Diplompädagogin. Vor kurzem ist ihre Tochter auf die Welt gekommen.
**Michael Germann hat eine Ausbildung als Landschaftsgärtner. Anschliessend hat er in den sozialen Bereich gewechselt. Seit rund zehn Jahren ist er Jugendarbeiter, davon fünf Jahre in Zollikon. Er ist Vater zweier Kinder.
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Ich könnte direkt gleich mehrere Beispiele nennen, wie die Jugendlichen nicht nur die Mitarbeiter*innen, sondern gleich auch die gesamte Nachbarschaft provozieren können und es auch tun. Man beachte die Lautstärke in der Umgebung, die Glassplitter im «Pärkli» nebenan und und und…