Spazzacamini – die Tessiner Kindersklaven
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13. Oktober 2023 – Die Erzählung «Die schwarzen Brüder» von Lisa Tetzner gehört zu den Klassikern unter den Jugendbüchern. Welch traurige Geschichte dahinter steckt und wie grausam Erwachsene mit den Kindern umgegangen sind, zeigt eine Ausstellung im Landesmuseum*.
VON ADRIAN MICHAEL
In den kargen Tälern des Kantons Tessin und im Piemont waren die Lebensbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hart. Mit Landwirtschaft und Viehzucht konnten die Bauern ihre oft kinderreichen Familien kaum ernähren. Sie waren deshalb froh, wenn sie in den harten Wintermonaten einen Mund weniger füttern mussten.
Das wussten die Kaminfeger in Norditalien, wo die Industrialisierung rasch voranschritt. Die zahlreichen Kamine der Fabriken und Wohnhäuser in den wachsenden Städten der Poebene mussten alle Jahre gereinigt werden. Für diese Arbeit in den engen, stickigen und verrussten Schloten eigneten sich insbesondere kleine, schmächtige Buben.
Also zogen die Kaminfeger aus Italien im Sommer durch die Tessiner Täler und hielten Ausschau nach armen, kinderreichen Familien. Sie konnten sich die Buben aussuchen, denn das Angebot war gross. Die «Padroni» boten den Eltern je nach Alter des Kindes 5 bis 10 Franken Entschädigung pro Monat. Wenn sie einen Vertrag über fünf Jahre abschlossen, erhielten die Eltern monatlich 14 bis 33 Franken – nach heutiger Kaufkraft 120 bis 280 Franken. Der Lohn wurde erst nach Ablauf der Vertragsdauer ausbezahlt, um zu verhindern, dass die Buben früher von ihren Einsätzen zurückkehrten, die normalerweise vom November bis in den April dauerten, manchmal auch länger.
Unerbittliche Padroni
Die Buben mussten sich mit Knien, Fersen und Ellbogen in den Kaminen hocharbeiten. In der einen Hand hielten sie eine eiserne Raspel, mit der sie den Russ abkratzten, in der andern einen Reisigbesen, um ihn wegzuwischen. Manchmal kam noch der Stossbesen mit seinen strahlenförmig angeordneten Stahllamellen dazu oder ein Seil mit einer Kugel, mit dem der Besen in den Kamin hinuntergelassen werden konnte.
Um die Atemwege notdürftig zu schützen, trugen die Buben einen wollenen Kopfüberzug ohne Augenschlitze, der vorne mit einem Filter aus Stoff versehen war, durch den sie schemenhaft etwas sehen konnten. An den scharfen Kanten der Kaminmauern kratzten sie sich die Haut auf, was zu eitrigen Entzündungen und manchmal zu Blutvergiftungen führte. Russ und Feuchtigkeit hatten Nieren- und Blasenerkrankungen zur Folge. Um ihre kleinen Gehilfen anzutreiben, entfachten die Padroni zuweilen ein kleines Feuer im Kamin; der Rauch belastete die Atemwege zusätzlich.
Zuoberst mussten die Buben den Kopf oder einen Arm ins Freie strecken und «Spazzacamin!» rufen – «spazzare» heisst auf italienisch «fegen» –, zum Nachweis, dass sie bis ganz oben geklettert waren. Auf dem Rückweg reinigten sie die Wand, an die sie sich beim Hinaufklettern angelehnt hatten. Pro Tag musste ein Bub bis zu 20 Kamine vom giftigen Russ befreien.
Die Buben halfen sich gegenseitig
Nebst den gesundheitlichen Problemen war der Hunger der ständige Begleiter der Spazzacamini. Ihr Essen mussten sie sich oft zusammenbetteln. Wenn ein Bub von der Arbeit erschöpft und nicht mehr einsatzfähig war, liess ihn der Padrone oft liegen, ohne sich um ihn zu kümmern.
Meist waren es dann die Kinder selbst, die sich gegenseitig halfen, so gut es ging. Untereinander sprachen sie ihre eigene Sprache, den «Taróm di rüsca», den Aussenstehende nicht verstanden. Es erlaubte ihnen, sich in der Fremde doch als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, verbrüdert und solidarisch zu sein.
Zuweilen fanden die Buben bei barmherzigen Privatpersonen ein Nachtlager; ab und zu kümmerte sich ein gutmütiger Arzt um sie. Und wenn sie Glück hatten, wurden sie an Weihnachten und Ostern zu einem Essen in eine warme Stube eingeladen. Demütigend war, wenn sich wohlhabende Familien für ein Fest einen Spazzacamino als Glücksbringer bestellten, um ihn den Gästen vorzuführen.
In den grossen Städten Mailand und Turin halfen die Patres katholischer Hilfswerke, indem sie den Buben ein wöchentliches Bad und den Besuch einer Abendschule ermöglichten – wobei die wenigsten nach einem harten Arbeitstag noch lernen mochten; viele brachten sich Lesen und Schreiben gegenseitig bei.
Nicht alle überlebten die Strapazen
Wie viele der Spazzacamini bei der Arbeit erstickten, bei Unfällen ums Leben kamen, von Krankeiten dahingerafft wurden oder nach Misshandlungen und Verletzungen starben, ist nicht bekannt, aber längst nicht alle kehrten in ihre Täler zurück. 1861 wurde der zehnjährige Michele Rusconi aus dem Verzascatal bei Como von seinen zwei Arbeitgebern zu Tode geprügelt; die Täter wurden festgenommen und verurteilt. In Malesco im italienischen Valle Vigezzo erinnert eine Bronzeskulptur an das Schicksal Faustino Cappinis, der mit 13 Jahren starb, weil er sich oben aus dem Kamin hinauslehnte und dabei mit seiner eisernen Raspel ein Hochspannungskabel berührte.
Für das Jahr 1853 sind aus den Tälern des Sopraceneri 432 Spazzacamini nachgewiesen, 1870 waren es 450, die meisten davon stammten aus Intragna im Centovalli. Knapp die Hälfte davon war jünger als 15 Jahre, viele davon jünger als 10. Aus dem Verzascatal gingen 1934 noch 110 Kinder ins Ausland, aus dem Centovalli kamen weitere 80 dazu.
Zuweilen mussten sich die Padrone nicht einmal in die Täler bemühen. Auf der Piazza Grande in Locarno, wo heute das Locarno Film Festival stattfindet, wurden Waisen, Findelkinder oder Kinder armer Familien versteigert. Am 19. September 1891 wurden dort zwei Buben aus Vogorno im Verzascatal zum Preis von je 134 Franken verkauft, nach heutiger Kaufkraft für je 1150 Franken. Ihre Eltern waren verstorben, und die Gemeinde wollte die Buben loswerden, um nicht weiter für ihren Unterhalt aufkommen zu müssen.
Eine gefährliche Reise
Besonders die Kleinsten, die oft erst sechs oder sieben Jahre alt waren, verstanden nicht, warum sie mit einem Fremden fortgeschickt wurden. Aus der vertrauten Umgebung herausgerissen zu werden, war ein Schock, der an vielen Betroffenen lebenslang haften blieb. Viele Spazzacamini besassen weder Kleider zum Wechseln noch Unterwäsche. Ab und zu schenkte ihnen jemand alte getragene Hosen oder eine Jacke.
Vor dem Bau der Eisenbahn erfolgte die Reise in den Süden mit Booten auf dem Lago Maggiore. Die meisten Kinder konnten nicht schwimmen und fürchteten sich vor dem Wasser. In der Nacht vom 4. auf den 5. November 1832 sank eines dieser Boote vor Cannobio, wobei 22 Kinder ertranken. Die Meldung darüber soll für die im Tessin lebende deutsche Autorin Lisa Tetzner der Anlass gewesen sein, sich mit der Geschichte der Kaminfegerkinder zu befassen. So entstand ihre Erzählung «Die schwarzen Brüder».
Weiter südlich waren die Buben dann tage- oder wochenlang zu Fuss in ihren hölzernen Zoccoli unterwegs, die sie meist auch im Winter bei Schnee und Eis tragen mussten. Sie fürchteten sich vor ihren Padroni, bei denen es sich oft um rücksichtslose, hartherzige Männer handelte, die früher selbst als Spazzacamini gearbeitet hatten und das weitergaben, was sie gelernt hatten, ohne es zu hinterfragen.
Der 1882 eröffnete Gotthardtunnel trug mit den Jahren zur Linderung der wirtschaftlichen Not in den Tessiner Tälern bei. Parallel dazu verringerte sich ab Mitte der 1930er-Jahre die Zahl der Spazzacamini von Jahr zu Jahr deutlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand diese Art der Kindersklaverei zum Glück ein Ende.
Recherche aus aktuellem Anlass
«Die schwarzen Brüder» habe ich schon als Bub gelesen und als Lehrer das Buch später zwei- oder dreimal als Klassenlektüre ausgewählt. Es erschien 1940/41 in zwei Bänden und erzählt die auf Tatsachen beruhende Geschichte des kleinen Giorgio aus Sonogno im Verzascatal, der in Mailand als Kaminfegerjunge arbeiten musste.
Erneut aufmerksam wurde ich auf das Thema durch die Ausstellung «Rote Zora und Schwarze Brüder» im Landesmuseum. Lisa Tetzner und Kurt Kläber verdanken wir beide Bücher, nicht nur «Die schwarzen Brüder», sondern auch «Die rote Zora und ihre Bande».
Das deutsche Autorenpaar war nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ins Tessin geflüchtet. In ihren Werken verarbeiteten die beiden auch Teile ihres persönlichen Schicksals und trugen damit Themen wie Armut und soziale Ungleichheit in die Zimmer der Jugendlichen.
Ausstellung «Rote Zora und Schwarze Brüder» im Landesmuseum (noch bis zum 12. November)