Überwältigende Grosszügigkeit
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22. Dezember 2024 – Die junge Ukrainerin Kateryna Panasenko floh mit ihrer Familie aus Kiew und landete zufällig in Zollikon. Nach zweieinhalb Jahren fern von ihrer Heimat empfindet sie vor allem eine «Riesendankbarkeit» für die Menschen hier und die grosse Hilfe, die sie erfahren habe.
Kateryna Panasenko sagt mit grosser Ernsthaftigkeit: «Ich fühle mich hier nicht als Ausländerin; ich fühle mich sehr willkommen.» Die 19-jährige Ukrainerin lebt seit März 2022 mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester in Zollikon.
Mit dem Einmarsch der Russen in ihre Heimat habe ihr Leben Kopf gestanden, erzählt sie an einem nebligen Morgen in der «Zollikerstube». Bis dahin hätten sie einen normalen Alltag gehabt, ihr Vater als Anwalt, ihre Mutter als Ökonomin bei einer Bank, ihre inzwischen 11-jährige Schwester als Volksschülerin und sie als Gymnasiastin: «Wir hatten Pläne, Träume, viele Freunde und Verwandte und waren glücklich in unserem Haus in Kiew.»
Dann seien sie eines Tages aufgewacht, und alles sei anders gewesen. Kiew sei mit Raketen beschossen worden; Menschen seien gestorben und Häuser zerbombt worden: «Wir hatten solche Angst und wussten nicht, ob wir die nächste Nacht überleben würden.»
So beschloss die Familie, die Millionenstadt am Abend des 24. Februar 2022 zu verlassen und sich in ihrem Landhaus in der Umgebung von Kiew in Sicherheit zu bringen. Doch schon am nächsten Morgen weckten sie Explosionen und schlugen sie in die Flucht, erinnert sich Kateryna. Die halbe Ukraine sei auf den Strassen Richtung Westen unterwegs gewesen, so dass die Autofahrt nach Lviv, das damals als sicher galt, 14 statt der gewohnten 6 Stunden gedauert habe.
Zuflucht bei Freunden in Österreich
Weil auch die Lage in dieser Stadt, die 1000 km von der damaligen Front entfernt liegt, unsicherer war als erwartet, zog die Familie weiter: via Moldawien, Rumänien und Ungarn landete sie nach einer Woche in Österreich. Die Nächte hatten die Panasenkos einmal bei Angehörigen verbracht, ein anderes Mal in einem Hotel, mehrmals hatten die Vier im Auto geschlafen, und die letzten 24 Stunden waren sie einfach durchgefahren mit dem österreichischen Klagenfurt vor Augen, wo Freunde der Familie leben.
Dort waren sie zwar in Sicherheit, aber ihre Gedanken wanderten unentwegt zu ihren vielen Verwandten, Freundinnen und Bekannten in der Heimat. «Wir haben ständig die News gelesen», sagt Kateryna. Das sei hart gewesen. Um diesem «Terror» mindestens ein Stück weit zu entgehen, hätten sie in einem Zentrum in Klagenfurt, das Hilfsgüter wie Essen, Kleider, Babyartikel und Möbelstücke für Flüchtlinge organisierte, aber auch Pakete in die Ukraine schickte, fünf Tage lang mitgeholfen. Das habe sie abgelenkt: «Sonst wären wir vor lauter Sorge verrückt geworden und hätten ununterbrochen unsere Handys gecheckt.»
Wo ist die Schule? Welche App hilft?
Dann wollte es ein glücklicher Zufall, dass sich die Familie S. in Zollikon, mit der Vater Panasenko früher einmal Kontakt hatte, an die ukrainische Familie erinnerte und dieser vorschlug, doch für drei Monate zu ihnen in die Schweiz zu kommen. Panasenkos nahmen dieses Angebot zwar sehr gern an, waren aber davon überzeugt, dass sie «nie und nimmer» drei Monate bleiben würden. «Der Krieg», so hoffte Kateryna, «würde doch in den nächsten paar Wochen zu Ende sein.»
Sie täuschten sich. Nur schon im Haus ihrer Gastgeber blieben sie sechs Monate. Eine Zeit, in der die Vier gemeinsam mit dem Ehepaar S. unter einem Dach lebten: «Wir haben im Haushalt geholfen, und unsere Gastgeber haben uns dabei unterstützt, in der Schweiz zurechtzukommen.»
Wo ist die Schule? Wo kann man Lebensmittel kaufen? Welche Dokumente bekommen Flüchtlinge an welcher Amtsstelle? Welche App ist nützlich und hilft im Alltag? Fragen über Fragen mussten beantwortet werden. Gut informiert, wie sie dank der vielfältigen Hilfe gewesen seien, habe sie ihre Matura in Kiew online ablegen können, erzählt Kateryna. Gleichzeitig habe sie auf diesem Weg erfahren, dass das private Freie Gymi im Zürcher Seefeld zehn ukrainische Flüchtlinge kostenlos aufnehme und ihnen Deutschunterricht ermögliche. Kateryna meldete sich und konnte dort vier Monate lang zur Schule gehen.
«Mundart ist mehr als ein Dialekt»
Doch schon als Mädchen hatte sie einen Traum: Sie wollte Jura studieren und Anwältin werden. Fleissig und hartnäckig wie sie ist, schaffte sie es tatsächlich, das erste Studienjahr in internationalem Recht an der Universität von Kiew online zu absolvieren. Anschliessend sicherte sie sich einen Platz als sogenannte Austauschstudentin an der Universität Zürich.
Weil in Kiew Französisch die Unterrichtssprache war und in Zürich Englisch, sind ihre Deutschkenntnisse bisher eher bescheiden geblieben. Doch sie beteuert: «Ich werde mich dahinterklemmen.» Auch wenn ihr die Schweizer Mundart noch Schwierigkeiten bereitet. Sie lacht: «Das klingt in meinen Ohren wie eine eigene Sprache und nicht nur wie ein Dialekt.»
Inzwischen hat die Familie eine Wohnung in Zollikon bezogen, die ihr die Gemeinde zur Verfügung stellt. Ihre Familie ist weiterhin auf Sozialhilfe angewiesen. Doch die Eltern besuchen in Zürich schon seit einiger Zeit Deutsch-Intensivkurse, um so schnell wie möglich wieder berufstätig zu werden, und sind bereits auf der Suche nach einem Job.
«I really love Zollikon»
Fragt man die junge Frau, wie es ihr in Zollikon gefalle, gerät sie ins Schwärmen: «I really love Zollikon.» Sie habe so viele liebenswürdige Menschen kennengelernt, deren erste Frage jeweils laute: «Wie kann ich helfen?» Die Grosszügigkeit, mit der man ihrer Familie hier begegne, sei überwältigend und berühre sie sehr: «Sie ist mir mehr wert als jedes Geld.»
Sie spüre eine Riesendankbarkeit, weil sie mit ihrer Familie an einem so schönen und sicheren Ort leben dürfe. Dazu trage nicht zuletzt auch Pfarrer Simon Gebs, ja, die Kirche insgesamt bei, die zum Beispiel die Gebühr für ihr Studium an der Universität Kiew übernommen und ihrer kleinen Schwester die Teilnahme an Schullagern ermöglicht habe.
Peter Scollar, ein weiterer Zolliker, schenkte ihnen und anderen Ukrainern Eintrittskarten für Konzerte des Oratorienchors Zürich, was ihnen „wunderbare Stunden der Entspannung“ bescherte. Zudem hatte sie am Freie Gymnasium einen tollen Deutschlehrer, der nun auch ihre Schwester unterrichtet: „Hilfe von allen Seiten“, sagt sie, „und das alles unter einem friedlichen Himmel, wo wir uns sicher fühlen.
Schuldgefühle – ein schwieriges Thema
Seit ihrer Flucht aus der Ukraine sei sie dreimal nach Kiew gereist, weil sie vor Ort Prüfungen ablegen musste. Dabei sei ihr wieder bewusst geworden, wie belastend es sei, in einem Land im Krieg zu leben und nahezu täglich von Raketen- und Drohnenangriffen heimgesucht zu werden. Viele Menschen, die ihnen nahestehen, hätten ihre Häuser verloren. Dazu müssten die Leute ständig damit zurechtkommen, dass es keinen Strom oder keinen Internetzugang gebe.
Sie zögert einen Moment und sagt dann, dass sie sich manchmal schuldig fühlt, weil sie in der Schweiz in Sicherheit lebt, während in ihrer Heimat andere sterben. Würde sie denn jemals nach Kiew zurückkehren wollen? Sie schüttelt den Kopf. „Das ist eine sehr schwierige Frage. Einerseits muss ich mein Land wieder aufbauen helfen, andererseits möchte ich der Schweiz für alles danken, was sie meiner Familie gegeben hat.“
Die Wahl von Donald Trump zum neuen Präsidenten der USA erfüllt Kateryna mit Sorge: «Niemand weiss, wie es weitergehen wird.» (Barbara Lukesch)
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