Von der Eggeschwand bis (fast) zum Kanderfirn
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Adrian Michael: «Das Gasterntal oberhalb Kandersteg kenne ich gut. Ich besuche es seit genau 50 Jahren und war oft zu Fuss unterwegs. Aber noch nie habe ich es in einem Zug von seinem Anfang bis zum Ende durchwandert. Das will ich nachholen.»
Beim ersten Mal – 1973 – war ich im Gasterntal im Pfadilager, und seither habe ich, von einem einzigen Jahr abgesehen, jedes Jahr ein paar Tage in diesem abgelegenen Bergtal verbracht. Zu Beginn übernachtete ich im Gasthaus Waldhaus im Strohlager, später in einem der vier Zimmer. Für diesen Sommer habe ich mir vorgenommen, es von der Busstation am Ende der Hauptstrasse bis hinauf zum Kanderfirn zu durchwandern.
Meine Wanderung beginnt an einem schönen Sommermorgen zuhinterst im Kandertal, Eggeschwand heisst es dort. Nebenan steht die Talstation der Seilbahn hinauf zum Sunnbüel. Dort beginnt der Wanderweg, der über den Gemmipass nach Leukerbad führt.
Ins Tal hinauf gibt es zwei Wege. Ich wähle die längere, dafür fotogenere Route über die Fahrstrasse; die Alternative wäre ein schmaler steiler Wanderweg, der direkt hinauf zur Strasse führt.
Nach ein paar hundert Metern der Bergflanke entlang durch den Wald wird es bereits spektakulär: Mit grossem Aufwand wurde Mitte der 1920er Jahre die Fahrstrasse mit zwei Tunnels aus dem Fels geschlagen. Sie darf gegen eine Gebühr nur im Einbahnverkehr jeweils für 20 Minuten befahren werden. Links unten ist im Tal zwischen den Bäumen der sogenannte «Bundesratsbunker» zu erkennen, die ehemalige Führungsanlage K20; im Kriegsfall wäre der Bundesrat direkt vom Bundeshaus hierher verfrachtet worden.
Zwischen den Tunnels bietet sich ein weiterer imposanter Blick talaufwärts, hinüber zum Wanderweg und hinab in die Schlucht, die die unten tosende Kander ausgegraben hat. Nach dem finsteren Durchgang folgt die ungeteerte Fahrstrasse der Felswand entlang zu einer hübschen Bogenbrücke. Auf der anderen Seite gelange ich nach kurzer Zeit über einen Fussgängersteg zurück auf die linke Seite zum von Alpenrosen gesäumten Wanderweg.
Schon wenige Minuten später öffnet sich die Klus und das Tal lässt sich erahnen. Ich mache einen kleinen Abstecher zum Parkplatz bei der Strassenbrücke. Hier bietet sich erstmals ein weiter Blick hinein in das Tal, auf die kiesige Schwemmebene der Kander und die beidseitig hoch aufragenden Felswände, die Mulde des Balmhorns und die Pyramide des Hockenhorns in der Ferne.
Zurück beim Wanderweg folge ich dem Schwarzbach durch den Wald und stehe schon bald hinter dem «Hotel Waldhaus». An einem Brunnen begrüssen mich ein paar Kühe, die noch ihre schön geschwungenen Hörner tragen dürfen. Schon als Kälber bekommen sie vom Bauern eine Art «Gstältli» mit hölzernen Führungsschienen auf den Kopf geschnallt, in die die Hörner in die gewünschte Form hineinwachsen.
Das Waldhaus, erbaut um 1910, ist eines der wenigen Hotels in der Schweiz, die Zimmer ohne fliessendes Wasser und Elektrizität anbieten, stattdessen stehen Kerzen auf dem Nachttisch. Ein Waschtisch mit Keramikbecken und grossem Krug ersetzt das Badezimmer – wie früher halt. Dusche? Fehlanzeige, siehe Waschtisch, geht auch. Auch die Gaststube wird abends durch Kerzenschein beleuchtet. Dort informiert eine Tafel: «Wir haben alles, was Sie brauchen. Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht.» Hat was.
In der Küche hingegen hat mittlerweile auch die Elektrizität Einzug gehalten, ohne wäre der Betrieb nicht mehr möglich. Im Waldhaus feierte der Kandersteger Bundesrat Adolf Ogi mit 300 Gästen seinen 70. Geburtstag, das Gasterntal bezeichnet er als seinen Ruhe- und Kraftort. Während seiner Zeit als Bundespräsident gingen im August 2000 die Bilder seines Spazierganges mit UNO-Generalsekretär Kofi Anan im Gasterntal um die Welt.
Auf der Sonnenterrasse mit prächtigem Blick ins Tal gönne ich mir ein kleines Bier, dann gehts weiter. Beim benachbarten Bauernhof mit seinem tief hinuntergezogenen Dach – der Hof soll im 17. Jahrhundert gebaut worden sein, wenig wurde darin seither verändert – zweige ich rechts ab und gelange zu einer grossen, von Wald umgebenen Wiese. Hier war ich jeweils am Ende der sechsten Klasse mit den Kindern zelten, immer eine äusserst aufregende Sache. Kühe, die nächtens über die Zeltschnüre stolperten oder frühmorgens neugierig ins Zelt guckten, nachts bei strömendem Regen über die Kuhweide aufs WC im Waldhaus, nasse Kleider, riesige Feuer, bräteln – grossartig. Aber tempi passati, jetzt wird gewandert.
Ich schlage mich ein paar Minuten durch das Unterholz und folge dann wieder dem Wanderweg. Die Kander führt mächtig Wasser, wohl nicht zu Unrecht sind die Steinblöcke, die das Ufer befestigen, mit starken Stahltrossen verbunden. Und dann, ich traue zuerst meinen Augen kaum, wie zur Begrüssung im Tal, entdecke ich links, hoch oberhalb der zusammengestauchten Felsschichten und der in den Himmel ragenden Zacken der Jegertosse, tatsächlich einen Adler. Ohne Flügelschlag dreht er ruhig seine Runden. Ich wusste wohl, dass es hier welche gab, habe aber in all den Jahren noch nie einen gesehen. Sehr beeindruckend. Auch ein Bartgeier-Paar soll hier irgendwo nisten.
Rechts stürzt imposant der 60 Meter hohe Geltibachfall aus einer mehrere hundert Meter hohen Felswand in die Tiefe. Er fliesst nur, wenn sich nach starken Regenfällen im Einzugsgebiet oder bei Schneeschmelze das Karstsystem im Inneren aufgefüllt hat, der Wasserfall wird dann als Überlauf aktiv. In der TV-Serie «SRF bi de Lüt» besuchte Nik Hartmann im Sommer 2018 das Gasterntal. Er übernachtete im Waldhaus, kletterte am nächsten Tag in Begleitung eines Teams von Bergsteigern zum Geltibach hoch und unternahm einen abenteuerlichen Ausflug ins Innere (Video ab 24:44).
Dort, wo etwas weiter hinten im Tal rechts zwei schmale Wasserfälle nebeneinander stiebend über die Felswand stürzen, wurde 1984 für den Film «Via Mala» mit Mario Adorf ein kleines Kulissendorf mit einer Mühle aufgebaut. Auch für den Film «Das vergessene Tal» von Clemens Klopfenstein aus dem Jahr 1990 standen dort Kulissen.
Nachdem ich die grossen Wiesen passiert habe, tauche ich bei der Kander in das Gastereholz ein, schlagartig wird es dunkler und kühler. Wikipedia weiss: «Das Gastereholz ist eine der letzten grösseren intakten Auen, in denen die Kander natürlich über weite Kiesbänke fliesst, ihren Lauf immer wieder ändert und das Flussbett formt. Weite Grauerlen- und Weidenwälder, Lawinenzüge, Schuttkegel und einmündende Seitenbäche bieten Lebensraum für seltene Tiere wie die Aspisviper, Waldschnepfe und Türks Dornschrecken. Zudem gedeihen hier auch Frauenschuh, Türkenbund und Tamarisken.»
Die blühenden Frauenschuhe habe ich verpasst, aber hin und wieder entdecke ich einen Türkenbund. Umgestürzte Bäume und eingebrochene Uferpartien zeigen, dass hier der Fluss noch leben und auch mal «Schäden» anrichten darf. Auf einer Brücke weiter talaufwärts lässt sich gut der Lauf der Kander in den Kiesbänken beobachten.
Nach einem kurzen Aufstieg durch den Wald gelange ich wieder auf die Fahrstrasse, die durch das Tal führt. Ein Abstecher führt mich zu einem Aussichtspunkt, von dem das «Gasterngesicht» sichtbar ist, der «Wächter des Gasterntals», wie die auffallende Gesteinsformation im Fels auch genannt wird.
Wenig später ist die Höhenstufe überwunden, und es öffnet sich ein kleines Hochtal mit dem Weiler Selden. Selden, das sind zwei Gasthöfe und ein paar Ställe und Scheunen. Bewohnt ist Selden nur im Sommer.
Im Hotel Steinbock wird seit 300 Jahren die sieben Kilo schwere und zehn Zentimeter dicke Gasternbibel aufbewahrt. Sie kam 1696 durch den Landvogt von Aigle Ulrich Thormann ins Gasterntal, dieser hatte von der Berner Obrigkeit den Auftrag bekommen, den Saumpfad über den Lötschenpass aufzubessern. Thormann schenkte den Talbewohnern aus Dankbarkeit für die Gastfreundschaft eine Piscator-Bibel aus dem Jahr 1684. Hervorgenommen wird das kostbare Stück jeweils am ersten Sonntag im August für die traditionelle Gasternpredigt.
In Selden kamen wir vor 50 Jahren als Pfadi auch ein- oder zweimal in den Genuss hausgemachter Chriesisuppe. Bei Treffen von Ehemaligen wird jeweils unter dem Kapitel «Weisch na» heute noch davon geschwärmt!
Eine schmale Hängebrücke führt hinüber zum Wanderweg, der steil hinauf über den Lötschenpass ins Wallis führt. Die Gasthöfe lasse ich etwas schweren Herzens links liegen, es ist erst 11 Uhr. Weiter gehts, stetig etwas bergauf. Wieder eine Brücke auf die linke Talseite, im Hintergrund ist das Hockenhorn näher gerückt.
Obwohl hier oben merklich schmaler, schiesst die Kander kraftvoll talwärts. Die Wassermassen betrachte ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits ist der Anblick natürlich sehr fotogen, anderseits muss das Wasser ja von irgendwoher kommen: von den Gletschern und Schneefeldern, die in beängstigendem Tempo wegschmelzen.
Nach einer halben Stunde erblicke ich auf der anderen Flussseite die Alpwirtschaft Heimritz, die letzte Verpflegungsmöglichkeit im Kandertal. Eine Spezialität: «Meränggä». Oberhalb des Gebäudes sind Bagger zugange. Sie verstärken, soweit ich erkennen kann, einen Schutzwall; im Oktober 2011 blieb das Gasthaus nur mit viel Glück von einem grossen Murgang verschont.
Die Vegetation hat sich merklich verändert: Zwischen schimmernden Granitblöcken mit zahlreichen Glimmerplättchen blühen Alpenblumen, oft umgeben von würzigen Walderdbeeren. Die Tannen sind nicht mehr gar so hoch, die Baumgrenze kündigt sich an. Der Weg wird schmaler, führt über Geröllfelder und Wiesen, ab und zu quere ich einen schmalen Wasserlauf, nur noch selten kommt mir jemand entgegen.
Von beiden Talseiten strömen grössere und kleine Bäche in den Kessel am Ende des Gasterntales. Rechts oben ist deutlich die scharfe Kante der mächtigen Seitenmoräne eines Gletschers zu erkennen. Auf alten Karten lässt sich feststellen, dass sich noch um 1850 der Alpetligletscher, eine Zunge des Kanderfirns, bis fast zum Heimritz hinunter erstreckte. Und noch viel früher lag dort, wo heute die junge Kander fliesst und der Wanderweg durchführt, eine wohl mehrere hundert Meter mächtige Eisschicht.
Der Weg ist nun stellenweise kaum mehr erkennbar, führt über Steine und Felsblöcke, immer wieder muss ich nach den dünnen Stangen Ausschau halten, die ihn markieren. Irgendwann werde ich unsicher: Hätte ich nicht mal rechts abbiegen sollen, anstatt immer weiter in den Talkessel vorzudringen? Die Wanderapp hilft nicht weiter: Kein Empfang. Hm.
Zuhinterst im Tal bildet die Kander schliesslich ein unüberwindliches Hindernis, obwohl nur ein paar Meter breit, lässt sie sich nicht überqueren. Und als ich ausrutsche, wenig vorteilhaft zwischen die Felsen stürchle und am Himmel auch noch Gewölk die angedrohte Gewitterfront ankündigt, ändere ich flugs mein heutiges Tagesziel. Nicht der Kanderfirn soll es sein, sondern das Ende des Talkessels. Mit anderen Worten: Ziel erreicht! Genau 1900 Meter Höhe gibt mir das GPS-Signal an. «Uf de Schafgrinde», wo ich eigentlich hinwollte, liegt auf einer Höhe von 2411 Meter, ich hätte also doch noch eine beachtliche Höhe überwinden müssen, und dies in doch sehr unwegsamem Gelände.
Hat also nicht sollen sein. Aber trotzdem eine sehr befriedigende Wanderung: Dadurch, dass ich das Tal zum ersten Mal vom tiefsten bis zum (fast) höchsten Punkt durchwandert habe, ist es mir noch ein bisschen näher gekommen. Nach dieser Erkenntnis wende ich mich um und freue mich auf die währschafte Portion Älplermagronen, die ich mir in Selden im «Steinbock» gönnen werde.
Anreise: Mit den SBB nach Kandersteg, dann mit dem Ortsbus nach Eggeschwand.
Anforderung: 13.5 km, 814 m aufwärts, 115 m abwärts, 4 1/4 Stunden.
Route: PDF von SchweizMobil